Lesen ist Abenteuer im Kopf Von Peter Natter Im Nachhinein schaut natürlich vieles anders aus. Im Nachhinein bist du klüger. Im Nachhinein hat es eh jeder immer gewusst. Erstens aber ist jetzt, in dieser undurchdringlichen Finsternis, alles Schauen und Überlegen hinfällig geworden. Zweitens war da rein gar nichts, was Max auffallen hätte können, hat doch der Tag, ein Mittwoch, so unauffällig wie möglich angefangen, oder? War nicht alles gewesen wie immer? Ja, genauso wie immer: Nicht gerade langweilig, aber doch so, dass kein Nachdenken nötig war, kein Hinschauen, kaum Aufmerksamkeit. Angefangen beim Läuten des Weckers um Punkt 6.30, also mitten in der Nacht. Naja, die Nacht war eindeutig zu kurz gewesen. Aber das liegt nur an diesem unglaublichen Buch … Ein Schultag hätte es werden sollen wie ungezählte andere auch. Eingeläutet vom üblichen Morgenchaos und dem Stress zwischen Aufstehen und Schulweg. Die Mutter hat sich schließlich daran gewöhnt, hat eingesehen, dass es nicht anders geht und versucht dennoch, ihm ein gesundes Frühstück zu servieren. Nur bleibt halt meistens nicht viel Zeit dafür. Aber eigentlich mag er die paar Minuten mit ihr im stillen Haus. Der Vater ist meist nicht da, ist entweder irgendwo unterwegs auf der halben Welt oder schon im Büro. Von nichts kommt nichts, sagt er. Dann aber nichts wie los. Noch schnell das Fahrrad aufpumpen, denn gestern ist vor lauter Mathelernen keine Zeit mehr geblieben. Oder ist´s doch die Champions League gewesen? Oder das allerletzte kleine Bier beim Italiener, wo es eine Geburtstagsfeier mit der Clique gegeben hatte; das letzte kleine Bier: fast auf Tuchfühlung mit Sylvie. Nur der doofe Jens hat sich dazwischen quetschen müssen, der blöde Angeber. Trotzdem fehlen Max drei, vier Stunden Schlaf. Gerade wollte er gestern, ein bisschen benebelt vom Bier und von Sylvies Lächeln, die kleine Lampe neben seinem Bett ausmachen, da fiel sein Blick auf das Buch, das ihnen der Deutschlehrer zu lesen aufgegeben hatte. „Das auch noch“, dachte sich Max, „aber sicher nicht jetzt, kurz vor Mitternacht!“ Er nahm es in die Hand, eigentlich nur um die Seitenzahl zu überprüfen. Verdammter Mist, über 300 Seiten, das würde ihn zwei Wochenenden kosten. Beim Blättern fiel sein Blick zufällig auf eine Kapitelüberschrift: Da stand Sylvies Name. Er begann zu lesen. Plötzlich war es vier Uhr morgens gewesen! Und gleich darauf läutet der Wecker! Nichts wie raus aus den Federn, Wasser ins Gesicht, hinein in die Klamotten, schnell das Frühstück. Ab die Post. Heute noch die letzte Matheschularbeit in diesem Schuljahr, eher eine Formsache, dann ist die dritte Klasse auch schon so gut wie erledigt. Max freut sich auf dien Sommer, auf den Ferialob in England und noch dazu auf den Batzen Geld, den er abwerfen wird. Der Vater hat ihn organisiert bei einem seiner Geschäftspartner, einem stinkreichen Reeder. Jaja der Vater, für den geht alles so leicht. Er stellt sich auch alles so leicht vor. Doch nur weil Max bisher die HTL recht ordentlich bewältigt hat, heißt es noch lange nicht, dass er nicht Besseres anzufangen wüsste mit seiner Zeit und vor allem mit sich selbst, als zu büffeln. Aber bitte. Au! Verdammter Quatsch! Nicht einmal ausstrecken kann man sich! Warum ist es so stockdunkel hier herinnen! Was Max noch mehr zu schaffen macht, ist die Stille. Seit einer Ewigkeit, es müssen Stunden sein, ist rein gar nichts ist zu hören, nachdem die Karre offenbar irgendwo abgestellt worden ist nach kurzer Fahrt. Sie müssen noch ganz in der Nähe der Schule sein. Aber wo? Warum rührt sich nichts mehr? Wenn er wenigstens wüsste, wie er hier gelandet ist! Beim Café Reiner an der Bushaltestelle hat er wie jeden Morgen Sylvie gesehen. Sylvie! Wie sagt man so einem Wahnsinnsmädchen, dass man es ohne sie kaum mehr aushält? Da weiß nicht einmal der