Kultur
Heimatloser auf der Suche nach Heimat Ernst Reiner (60) aus Lochau ist vielen als Frontmann der Band die "Bauernfänger“ bekannt. Für die marie erzählt er seine Geschichte. Von Selbstbestimmung und dem Mut, der eigenen Wahrheit treu zu bleiben.
Text: Patricia Begle Fotos: Jan Geerk
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wei Tage nach seiner Matura tat der Lochauer Ernst Reiner, was viele in seinem Alter tun: Er trat eine Reise an. Eine Reise, die bei ihm länger dauern sollte als bei anderen. Mehr als 20 Jahre. Doch das wusste er am Beginn noch nicht. Er „rannte einfach in die Freiheit rein“, wie er es heute nennt. Getrieben von einer Mischung aus Neugierde und Flucht. „Ich flüchtete, weil ich hier nicht stark genug war, das zu tun, was ich wollte.“ Der heute 60-Jährige wollte Musik machen. Straßenmusik. In Frankreich lernte er, wie das geht. „Man muss aus den Dingen, die man hat, etwas machen. Erst für Stille und Aufmerksamkeit sorgen, dann Szenen auf charmante und unaufdringliche Weise dort hineinlegen“, erklärt er. So setzte er sich damals eine Badekappe auf seinen Kopf und funktionierte seine Unterhose in eine Badehose um. In diesem Kostüm balancierte er auf der Lehne einer Parkbank und imitierte dabei ein ständiges „Fast-Hinunterfallen“, das den Zusehenden den Atem nahm. Oder er versteckte sich in der Baumkrone einer Pappel, ließ einen Hut an einem Fischersilch – einem durchsichtigen Seil – hinabschweben und schmetterte Stehgreifgedichte im Vorarlberger Dialekt auf die Leute. „Du musst die Menschen eine Sekunde aus ihrem normalen Exisenzbewusstsein befreien, dann sind sie dir unendlich dankbar“, verrät der Straßenkünstler. Seine Performance war immer mit einem Rhythmus verbunden. „Wenn du in einem Rhythmus bist, kannst du alles tun“, ist Reiner überzeugt. Instrumente dafür sind allgegenwärtig: Von Lauten mit Mund, Händen und Füßen über jene des Reißverschlusses an der Jacke bis hin zu Konservendosen. Irgendwann trieb er eine Gitarre auf, seine kräftige Stimme reiste sowieso immer mit. Gelernt hat er nicht nur durchs Tun, sondern auch von KünstlerkollegInnen. „Du schaust von anderen ab, was gut ist, nimmst es auf, entwickelst es weiter.“ Reiner war Seiltänzer und Feuerschlucker, spielte in noblen Bars und vor Supermärkten. Er war in ganz Europa unterwegs, bereiste Indien und Pakistan, Nord- und Südafrika, lebte in Israel, ließ die Kanarischen Inseln zu einer zweiten Heimat werden und renovierte ein Haus in Spanien. Mit seiner Flucht hatte er eine scheinbar endlose Bewegung in Gang gebracht:
„Die Kugel rollte und rollte und konnte nicht mehr gestoppt werden. Plötzlich waren zwanzig Jahre vorbeigerast.“ Das unstete Leben auf der Straße hatte auch seine Schattenseiten. „Wir haben Pommes aus dem Abfall gefischt und uns an Mensatische mit halbvollen Tellern gesetzt“, erinnert sich der Freiheitsmensch. Krank werden durfte man nicht. „Bist du eine Woche krank, hast du eine Woche lang nichts zu essen.“ Immer wieder tauchte die Frage auf: „Was tu ich mit meinem Leben?“ Die Gefahr, „sich dahinleben zu lassen“ und „Zeiten zu vergeuden“ war groß. Reiner war kein „dogmatischer Zeitkiller“, der nur auf „Party-Party“ machte. Er bewunderte Menschen, die „fruchtbar in ihrem Tun waren“. Der Vorarlberger erlebte die andere Seite der Freiheit, sich ständig zwischen unterschiedlichen Angeboten entscheiden müssen war anstrengend: Band in Frankreich, Frau auf den Kanaren oder Segeltörn nach Südamerkia? Zudem war jede Hürde schon Anstoß zum Um-Entscheiden. „Ich wollte nicht, dass mein Leben eine Vor-dir-selber-Davonrennerei wird“, erzählt er. Er kam Ende der 1990-er Jahre zurück.
So glaubwürdig wie Straßenmusik
Hier gründete der Musiker die Band „Provinzpropheten“, aus der nach ein paar Jahren die "Bauernfänger“ herauswuchsen. Mit ihr ist er schon seit vielen Jahren sehr erfolgreich. Die Formation hat „Streetcredibility“ – ihre Musik ist so glaubwürdig wie Straßenmusik. Es gibt keinen Verstärker, kein Mikrofon, alles unplugged und jedes Mal anders. Reiner ist Frontsänger und spielt Gitarre, Zugposaune, Akkordeon und chromatische Mundharmonika, das „schwerste von allen Instrumenten“. Auf der Bühne schlüpft er in die Rolle der Rampensau. Da kommt es vor, dass er nach einem kubanischen Song die Revolutionsansprache Fidel Castros von sich gibt oder zu einem Lied der Comedian Harmonists händchenhaltend durch die Reihen tänzelt. „Beim Singen hat du wahnsinnige Macht“, erzählt der Musiker. „Deine Präsenz mäht die Leute nieder. Sie ist aber nur die Sehnsucht, so zu sein. Es ist nicht das, was du wirklich bist. Die Egomansau auf der Bühne ist der Gegenpol zu deiner eigenen Zerbrechlichkeit.“ Musikmachen ist für Reiner wie eine seelische Reinigung. „Die kreative Energie, die du bekommst, muss raus, sonst kommt nichts Neues“, versucht er zu erklären. Musik ist sei-