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Hüterin der Geschichten

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Der Blick über den Walgau ist atemberaubend. In einem ehemaligen Ausflugsrestaurant oberhalb von Schnifis hat sich Andrea Heingärtner (51) ihr ganz persönliches Paradies geschaffen. Dort geht die ausgebildete Steinmetzin und Bildhauerin ihren größten Leidenschaften nach: Innen, indem sie Schritt für Schritt die Schätze im alten Gasthaus restauriert, und außen, indem sie mit Hammer und Meißel alle möglichen Arten von Steinen in Kunstwerke verwandelt. Wie es dazu kam, erzählte sie marie-Mitarbeiterin Brigitta Soraperra, für die sie keine Unbekannte ist.

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Text: Brigitta Soraperra, Fotos: Petra Rainer

Sie war meine engste Sandkastenfreundin und lebte in unmittelbarer Nachbarschaft zu meinem Elternhaus in Nenzing. Sie war ein Jahr jünger als ich und Einzelkind, meine Familie bildete für sie „ein zweites Zuhause“, wie sie heute sagt. Wir spielten miteinander Verstecken, „Indianerlis“ und mit Barbies, hatten die gleichen Freund*innen und im Fasching waren wir ein unzertrennliches Gespann: sie das Rotkäppchen, ich der Clown. Als sie zehn Jahre alt war, trennten sich ihre Eltern und damit auch unsere beiden Leben. Sie zog mit ihrer Mutter weg aus meiner Heimatgemeinde, am Anfang hielten wir noch einen losen Kontakt, der später abbrach. Nach der Matura verließ ich für lange Zeit Vorarlberg und kehrte erst vor wenigen Jahren zurück. Umso neugieriger war ich, als mir erzählt wurde, dass Andrea Heingärtner „verrückterweise“ das ehemalige Gasthaus „Walgaublick“ gekauft habe und dort jetzt wohne. Vor kurzem besuchte ich sie und entdeckte nicht nur einen wunderbaren Ort und eine alte Freundschaft, sondern einen außergewöhnlichen Lebensweg.

Unfreiwillig entwurzelt

„Als meine Eltern sich 1979 scheiden ließen, bin ich so ziemlich aus allen sozialen Netzen gefallen“, erzählt mir Andrea in ihrem beeindruckenden Wohnzimmer, in dem eine riesige Bartheke aus den 1960ern als echtes Prunkstück thront. „Einer Freundin wurde sogar verboten, mit mir zu spielen, weil ihre Eltern fanden, aus einem Scheidungskind, da werde nichts Gscheites.“ Außerdem litt sie nicht nur unter der Trennung der Eltern, sondern durch den Umzug auch unter dem Verlust ihrer heißgeliebten Großmutter, die im Nach-

„Das Schaffen mit Metall war zwar spannend und kreativ, aber Stein hat mich immer schon fasziniert.“

barhaus wohnte und die sie „wahnsinnig vermisste“. Unfreiwillig entwurzelt und zutiefst einsam fühlte sie sich ins Außenseitereck gestoßen. Nicht ohne Sarkasmus bemerkt Andrea: „Ich dachte dann, wenn aus mir jetzt eh nix Gscheites mehr wird, kann ich also tun, was ich will.“ Auf der Suche nach ihrer eigenen Identität habe sie es ihren Eltern nicht leicht gemacht und als Jugendliche total rebelliert, inklusive Schulabbruch kurz vor der Matura und langen Nächten im selbstgewählten „Wohnzimmer“ – dem Punkraum des damals berühmt berüchtigten Café Neustadt in Feldkirch.

„Machen Sie was mit Ihren Händen“

Den Abbruch des Gymnasiums erlaubte sie sich allerdings erst, als sie ihren Eltern eine Alternative bieten konnte. Begeistert seien diese keineswegs gewesen über Andreas Lehre als Fotogravurzeichnerin bei der Firma Rueff in Muntlix. Besonders ihr Vater, dem die Möglichkeit eines Studiums verwehrt geblieben war, haderte lange Zeit damit. „Ich wollte frei und unabhängig sein, so schnell wie möglich mein eigenes Geld verdienen und ein selbstbestimmtes Leben führen“, erklärt die heute 51-Jährige, und zog damals auch in ihr erstes altes Haus in Innerlaterns. Bereits in der Schulzeit sei auch ihr künstlerisches Talent bemerkt worden, „ich habe das aber zu wenig ernst genommen“. Kein geringerer als der bekannte Maler und Autor Ingo Springenschmid, im Bludenzer Gymnasium ihr Zeichenlehrer, habe zu ihr gesagt: „Machen Sie was mit Ihren Händen“. „Er hat mir einen Ytongklotz vor die Nase gestellt und ich habe mich hingesetzt und bin total versunken.“ Diese Leidenschaft verfolgte sie jedoch nicht weiter. Nach dem Lehrabschluss arbeitete Andrea für einen privaten Paketdienst, kaufte sich mit den ersten Ersparnissen einen alten Mercedesbus, fuhr mit Freund*innen wochenlang durch Europa und bewohnte das zweite geschichtsträchtige Haus in ihrem Leben, die alte Mühle in Düns. „Damals habe ich mich in die Gegend hier verliebt“, sagt meine Kindheitsfreundin mit Blick aus dem weitläufigen Panoramafenster, „und die Vorstellung, wie ich leben möchte, wurde für mich klarer.“ >>

„Ingo Springenschmid hat mir einen Ytongklotz vor die Nase gestellt und ich habe mich hingesetzt und bin total versunken.“

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30 | Wärme in alten Häusern

„Ich habe immer am liebsten in Häusern mit Holzöfen gewohnt“, erzählt sie, „nicht nur weil ich das mit meiner Kindheit in Verbindung bringe, sondern weil für mich Feuer sehr elementar ist: Heizen und Kochen mit Holz. Die Langsamkeit, das Bewusste, das Reduzierte, das liebe ich. Feuer ist für mich ein echtes Antidepressivum.“ Mit dem Vater ihres heute 26-jährigen Sohnes erwarb sie in den 1990ern ein altes Holzstrickhaus in Frastanz, „das hat nur 50.000 Schilling gekostet. Einzige Bedingung: Wir mussten es abtragen“. Sie haben das Haus dann tatsächlich zerlegt, Balken für Balken, und in Ludesch wieder aufgebaut. Doch die Beziehung ging leider früh in die Brüche, Andrea zog mit ihrem kleinen Söhnchen weiter – in ein altes Haus in Fraxern. Zu dieser Zeit setzte sie die schon während ihrer Karenzzeit begonnene Studienberechtigungsprüfung fort und meisterte sie trotz schwieriger Rahmenbedingungen – sehr zur Freude ihres Vaters. Da war sie 27. Als ihr Sohn in den Kindergarten kam, zogen die beiden zu Andreas Vater zurück nach Nenzing, das ging aber nur eine Zeit lang gut. Die langjährige Alleinerzieherin erzählt, wie glücklich sie gewesen sei, als sie ein „neues altes Haus“ in Schnifis fand. Hier wurde ihr Sohn dann eingeschult. „Es begann eine gute Zeit, wir hatten zwar nicht viel Geld, aber ich arbeitete im Schmuck & Steine Geschäft in Feldkirch, wir hatten das Haus, einen eigenen Gemüsegarten, und ich musste das Kind nicht viel verstellen.“ Damals begann sie auch, einer Leidenschaft aus Kindestagen nachzugehen: „Ich habe immer schon alte Dinge gesammelt, das Lilienporzellan meiner Oma beispielsweise“, nun war es das Sammeln von Metall. Gemeinsam mit einer Freundin streifte sie durch Müllhalden im ganzen Land, aus den Fundstücken schweißten die beiden Metallobjekte, die sie erfolgreich auf Kunsthandwerksmärkten verkauften.

Schlüsselerlebnis in Marmor

„Mit dieser ruhigen Zeit erwachten auch alte Sehnsüchte wieder“, berichtet Andrea und meint das Arbeiten mit den Händen und die Prägung durch die Großmutter. „Ich bin als kleines Kind immer mit ihr auf den Friedhof gegangen, wo wir das Grab meines früh verstorbenen Großvaters pflegten.“ Auch heute noch komme sie an keinem Friedhof vorbei, diesen „echten Orten mit ihren vielen Geschichten, auf denen alle Menschen gleich sind.“ Ein richtiges Schlüsselerlebnis sei dann gewesen, als sie hinter ihrem Haus in Schnifis einen alten verwitterten Marmorgrabstein fand. „Den habe ich gereinigt, geschliffen und betrachtet, und da war sie wieder, die Bildhauerei. Das Schaffen mit Metall war zwar spannend und kreativ, aber Stein hat mich immer schon fasziniert.“ Es folgten noch zwei Schicksalsschläge, bevor sie dieser Faszination nachgehen konnte. 2004 starb die Großmutter, 2005 erkrankte ihr Vater schwer und sie pflegte ihn ein Jahr lang bis zu seinem Tod. Immerhin habe sie sich in dieser Zeit mit dem Vater versöhnen können und sein Erbe ermöglichte ihr letztlich

„Der ‚Walgaublick‘ ist für mich immer schon ein magischer Ort gewesen.“

„Am Stein fasziniert mich diese gespeicherte Geschichte. Diese Energie, die durch deine Finger fließt, wenn du den

Stein berührst.“

auch, dass sie ihrer Berufung folgen konnte. „Ich habe mir Werkzeug gekauft und beschlossen, die Bildhauerschule Elbigenalp in Tirol zu besuchen. Aber mit Kind braucht man auch einen Sicherheitsjob. Und um ganz bei der Steinarbeit bleiben zu können und meinem Interesse für Schrift und Ornamentik und meiner Liebe für Friedhöfe folgend, beschloss ich, Grabsteine zu machen.“ So begab sie sich mit 40 noch einmal auf Lehrstellensuche als Steinmetzin. „Kein leichtes Unterfangen. Mir wurde gesagt, man nehme keine Frauen, die würden schwanger und kämen dann eh nicht mehr“, schmunzelt Andrea mit Hinweis auf ihr damaliges, leicht fortgeschrittenes Alter.

Gespeicherte Geschichten

Mit der ihr eigenen Portion Hartnäckigkeit hat es dann aber bei Stein Lampert in Göfis geklappt und Andrea Heingärtner absolvierte bereits nach zwei Jahren die Steinmetzprüfung in Dornbirn und beinahe zeitgleich die Bildhauereiprüfung in Wien. Was sie am Stein so fasziniere, frage ich sie, als sie mich später durch ihre Werkstatt und ihren wildwüchsigen Garten führt, in dem viele ihrer Skulpturen, aber auch noch unbearbeitete Steine in allen Größen und Farben und aus aller Herren Länder zu finden sind. „Diese gespeicherte Geschichte“, antwortet Andrea prompt, „diese Energie, die durch deine Finger fließt, wenn du den Stein berührst. Nicht jeder Stein ist gleich, aber alle tragen uralte Geschichten in sich.“ Außerdem gefalle ihr das Meditative bei der Bearbeitung. „Ich arbeite am liebsten mit Hammer und Meißel und lasse die Maschinen weg. Ich muss das Material begreifen, im direkten Sinn des Wortes.“ Auf meine Frage, ob sie mit ihren Skulpturen dann vor allem die Geschichten in den Steinen freilege, meint die bei aller offensichtlichen Begabung äußerst scheue Künstlerin, „natürlich gebe ich auch eine eigene Geschichte hinein, denn bei jedem Schlag haust du ja von deiner Energie was rein. Im besten Fall gibt es eine gute Symbiose“, erklärt sie, „es ist immer eine gegenseitige Annäherung“.

Ein Platz in der Pampa

Ich bin beeindruckt, mit welcher Demut und Liebe meine Kindheitsfreundin ihre künstlerische Leidenschaft beschreibt und mit welcher Konsequenz sie als eine von vier weiblichen Steinmetzinnen im Land lebt, was ihren Lebensunterhalt sichert. Bleibt noch die Frage, wie sie zu einem der schönsten Orte des Landes gefunden hat. „Schon von klein auf habe ich mir einen Platz in der Pampa gewünscht, weit weg von vielen Menschen, Tiere rundum und Natur. Dafür kann ich auf viel verzichten“, erzählt die leidenschaftliche Wanderin. Der „Walgaublick“ sei für sie immer schon ein magischer Ort gewesen, als sie früher in Schnifis gewohnt habe. Dann habe sie den dazugehörenden liebenswürdig-kauzigen, aber alkoholkranken Kurt alias „Gourmet Kurt“ kennengelernt und es entstand eine eigenwillige Freundschaft, „basierend auf Verständnis und Akzeptanz, der gemeinsamen Liebe für die einfachen Dinge und unserer jeweiligen Portion Verrücktheit.“ Als seine Eltern starben sei es zu den üblichen Erbstreitereien mit den Geschwistern gekommen, da Kurt seine Heimat nicht verkaufen wollte. „Irgendwann habe ich ihm den Vorschlag gemacht, mein Elternhaus zu verkaufen und mit dem Geld sein Gasthaus zu übernehmen, um seine Geschwister auszahlen zu können. Und ich habe ihm lebenslanges Wohnrecht angeboten, denn Platz war ja genug da.“

Ort für Begegnung

Sie hätten dann aber beide noch fast ein Jahr darüber nachgedacht, bis der Anruf von Kurt kam: „Machen wir es!“ Das war vor fünf Jahren. „Seitdem sind wir hier am Räumen und Richten und haben bestimmt schon an die 20 Container Sperrmüll entsorgt.“ „Gourmet Kurts“ Krankheit führte dazu, dass er bereits dreieinhalb Jahre nach der Übernahme verstarb. Wirklich bedauerlich, denke ich, dass er nicht mehr sieht, mit welcher Hingabe Andrea gemeinsam mit ihrem erwachsenen Sohn und ihrem Partner dieses kleine Juwel nach und nach zum Blühen bringt. Die geschickte Handwerkerin renoviert fast alles selber und legt die gespeicherten Geschichten in all den Möbeln und Gegenständen aus den 1960er und 1970er Jahren frei. Genau wie bei ihrer künstlerischen Arbeit mit den Steinen, geht mir durch den Kopf. „Der Walgaublick war immer ein Ort der Begegnung, viele spannende Geschichten wurden mir schon erzählt“, berichtet Andrea beinahe wehmütig.

Wer weiß, vielleicht können in absehbarer Zeit wieder neue Geschichten erzählt werden? Ideen und Pläne dazu liegen jedenfalls schon bereit, erfahre ich noch am Ende meines Besuches.

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