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Klimakrise ist eine soziale Krise“
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© REUTERS/Ilze Filks
Die schwedische Aktivistin für den Klimawandel, Greta Thunberg, nimmt freitags an einer Kundgebung im Rahmen des „Globalen Tages der Klimaschutzmaßnahmen” in Stockholm, Schweden, 19. März 2021 teil.
Greta Thunberg, Aushängeschild der Umweltbewegung, erzählt The Big Issue, dass sie trotz der Panik, der Dringlichkeit und des Ausmaßes der Krise positiv eingestellt bleibt. Sie fordert die Bürgerinnen und Bürger der Welt auf, auf die Wissenschaft zu hören und jetzt Maßnahmen zu ergreifen, bevor es zu spät ist. Thunberg erzählt in diesem exklusiven Interview von ihrem neuen BBC-Dokumentarfilm.
Text: Adrian Lobb, Fotos: Reuters
Übersetzt aus dem Englischen ins Deutsche von Lisa Strausz Freundlicherweise zur Verfügung gestellt von INSP.ngo / The Big Issue UK bigissue.com @BigIssue
Im August 2018 setzte Greta Thunberg ein Zeichen. Ein kleiner Trotzakt eines 15-jährigen schwedischen Mädchens wurde zu einem großen globalen Sprung nach vorne für die Umweltbewegung. Durch eine einfache Geste der Ablehnung – Schule schwänzen, Bildung verweigern, stattdessen schweigend auf dem Platz vor dem schwedischen Parlament sitzen und ein selbstgemachtes Plakat mit der Aufschrift „Schulstreik für das Klima“ hochhalten – hat Thunberg Schulkinder auf der ganzen Welt zum Handeln angeregt.
Zu ihr gesellten sich Hunderttausende junger Menschen, die ihre ersten aktivistischen Schritte unternahmen. Sie konnten das Versagen einer Generation von Politikern nicht länger tolerieren, die angesichts der Klimakrise nicht schnell genug handelten. „Es ist einfach immer mehr ausgeufert“, sagt Thunberg über Zoom aus ihrem Zuhause in Stockholm. Im Hintergrund macht sich ihr Hund bemerkbar. „Einerseits fühlt es sich an, als wäre es gestern gewesen. Andererseits scheint es zehn Jahre her zu sein. Es war außergewöhnlich und schwer zu verstehen, dass diese Dinge passiert sind. Aber jetzt habe ich es fast geschafft.“
Heute ist Thunberg einer der bekanntesten Menschen auf der Erde. Weniger als vier Monate nach ihrem Solo-Protest sprach sie auf der COP 24, der jährlichen UN-Klimakonferenz, in Katowice, Polen, und auf der darauffolgenden Konferenz in Madrid ein Jahr später. Keine der 29.000 Delegierten war kleiner und jünger – aber ihre Stimme hatte die größte Tragweite.
„Daran habe ich mich noch nicht gewöhnt“, sagt Thunberg, die im Jänner 18 Jahre alt wurde. „Ich war immer ein Mensch, der sich eher nicht äußerte und dem man nicht wirklich zuhörte. Mit anderen Leuten habe ich mir immer schwer getan. Also zuerst nahezu unsichtbar zu sein und dann zu einem Menschen zu werden, dem die Leute tatsächlich zuhören, ist eine große Veränderung. Und daran ist es schwer, sich anzupassen.“
Thunberg geht es nicht um ihre Plattform. Wie sie auch in ihrer neuen, dreiteiligen BBC-Dokuserie betont, will sie damit Stimmen aus der Wissenschaft in den Vordergrund rücken, die uns zum raschen, entschiedenen Handeln auffordern. „Aus diesem Grund wollte ich das machen“, sagt sie. „Ich wollte mehr als effekthaschende Schlagzeilen, die Aufmerksamkeit erregen, sondern stattdessen Inhalte betonen. Wenn es also funktioniert, wenn ich meine Plattform der Wissenschaft oder Leuten leihe, die wirklich gehört werden müssen, dann war das der Hauptzweck dieser Serie. Wenn man mit verschiedenen Leuten spricht und mehrere Perspektiven einholt, erkennt man das große Ganze.“
„Das einzige, was Hoffnung erzeugt, ist handeln. Nach dieser Einstellung möchte ich leben.“ „Wenn die Medien die Klimakrise wie eine Krise behandeln würden, könnte sich über Nacht alles verändern.“
In der Serie sehen wir Thunberg auf ihrer einjährigen Weltreise, wie sie bei Veranstaltungen wie der COP 25 spricht und Wissenschaftler, Aktivisten und Experten wie Sir David Attenborough trifft. Hat mehr von der Welt zu sehen in ihr ein größeres Bedürfnis ausgelöst, sie zu retten? „Ich glaube nicht, dass man die Welt sehen muss, um sie schützen zu wollen“, sagt sie. „Aber es war ein fantastisches Erlebnis, sie sehen zu können. Es wird immer so geredet, als täten wir nichts, bis es im eigenen Garten brennt, aber das stimmt nicht.
Wenn wir uns ansehen, was alles von der Klimakrise ausgelöst wird, wie die Waldbrände im Westen Nordamerikas, gibt es klare Beweise, dass Verbindungen zur Klimakrise bestehen. Das heißt aber nicht, dass sich die Menschen, die dort leben, ändern. Ich möchte das Bewusstsein schärfen und sagen: Das sagt die Wissenschaft. Ihr solltet auf die Wissenschaft hören und entsprechend handeln.
Wir sehen die Klimakrise als etwas, das uns erst in Zukunft betreffen wird. Und natürlich stimmt das. Aber wir vergessen, dass unzählige Menschen bereits heute an den Konsequenzen leiden und sterben. Die Klimakrise betrifft uns also jetzt schon. Es wird uns nicht möglich sein, alle ihre Folgen zu verhindern – dafür ist es schon zu spät –, aber es ist nie zu spät, um unser Möglichstes zu tun. Jeder noch so kleine Beitrag ist wichtig, und es ist noch Zeit, um die schlimmsten Folgen zu verhindern.“
Auf die Frage, was verändert werden sollte und ob eine alltägliche Lebensstiländerung – in Bezug auf Ernährung und Reisen – oder die Technik der CO₂-Abscheidung die beste Waffe gegen die Krise ist, gibt Thunberg dieselbe Antwort: Was auch immer funktioniert. Alles, das funktioniert. „Wir tendieren dazu, nur einzelne Probleme zu betrachten: Wir müssen dieses tun und nicht jenes“, meint sie. „Aber das können wir uns nicht mehr leisten. Wir können nicht die ganze Zeit darüber streiten, was am besten wirkt, wenn wir dann keine Zeit mehr haben, diese Dinge überhaupt zu tun. Wir müssen jetzt alles tun, was uns möglich ist. Wir müssen holistisch und langfristig denken und alle möglichen Lösungen implementieren, anstatt sie nur miteinander zu vergleichen. Denn das raubt nur Zeit.“
Das Einzige, was Hoffnung erzeugt, ist zu handeln, sagt Thunberg in ihrer neuen Dokumentation. Ein inspirierender Aufruf. „Wenn wir nur herumsitzen und nichts tun, fühlen wir uns oft hoffnungslos. Aber sobald wir etwas unternehmen, gibt es Hoffnung“, meint sie. „Nach dieser Einstellung möchte ich leben. Stellen wir uns nur vor, wir würden tatsächlich etwas tun – wer weiß, wohin uns das führen könnte.
Wir wissen nicht, welche soziale Trendwende wir einleiten könnten. Weil wir es noch nie getan haben. Eine so >>
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große Herausforderung wie die Klimakrise gab es noch nie. Wir wissen also nicht, was passieren könnte, wenn wir handelten – und auch das macht Hoffnung.“
Thunberg muss jedoch hinzufügen, dass selbst ihre immer größer werdende Kampagne nicht die nötigen Veränderungen bewirken wird. Sie wendet sich an die Medien und an jene mit großen Fangemeinden, um die Stimmen von Klimaaktivisten hervorzuheben (oder gar selbst Aktivisten zu werden). „Wenn die Medien die Klimakrise wie eine Krise behandeln würden, könnte sich über Nacht alles verändern“, sagt sie. „Ja, wir müssen alles unternehmen, was möglich ist – all diese kleinen, alltäglichen Maßnahmen – und jede mögliche Person einbeziehen. Aber gleichzeitig sollten wir nicht naiv sein und glauben, es reicht, wenn wir nur das oder jenes tun. Etwas Großes muss auch von außen kommen.“
Was erwartet Thunberg von den Medien – sollen sie über wissenschaftliche Erkenntnisse berichten, Menschen an die Bewegung anschließen, skeptischen Stimmen keine Plattform bieten? „Alle diese Dinge“, meint sie. „Aber vor allem muss die Klimakrise als Krise behandelt werden. Zurzeit berichten die Medien über Klimawandel, Klimaprobleme und Symptome der Klimakrise wie schmelzende Gletscher, steigende Meeresspiegel und Waldbrände. Aber das ist nicht die Klimakrise. Das sind nur Symptome.
Bei der Klimakrise geht es vor allem um Zeit und die Menge an CO₂ in der Atmosphäre und darum, was jetzt zu tun ist. Wir sollten uns nicht auf vage, hypothetische Zukunftsszenarien konzentrieren, sondern darauf, was wir jetzt tun müssen. Es als Krise behandeln – und wenn das vage klingt, denken wir mal an die Coronapandemie. Haben wir die als Krise behandelt? Ja. Das zeigt, dass die Medien in der Lage sind, etwas als Krise zu behandeln und ihr Verhalten anzupassen.
Solange die Klimakrise nicht in den Hauptnachrichten ist, entsteht der Eindruck, dass sie möglicherweise nicht so wichtig ist.
Ich meine nicht, dass es mehr Artikel über die Klimakrise braucht, sondern dass sie in alle Nachrichten einbezogen werden sollte. Wenn ein Politiker etwa den Bau einer neuen Straße ankündigt, sollten wir fragen – aha, und was bedeutet das für das Klima? Denn die Klimakrise ist so wichtig.“
Wohin es Thunberg als nächstes zieht, steht noch nicht fest. Noch zwei Jahre Schule, dann Universität, meint sie. Aber was auch immer sie abseits ihres Klimaaktivismus angeht, handelt es sich hierbei sichtlich um ihr Lebenswerk. „Ich werde mich auch auf viele weitere Dinge konzentrieren, aber diese kommen immer an zweiter Stelle“, sagt sie. „Ich will einfach sagen können, dass ich alles getan habe, was ich konnte. Danach strebe ich, das sagen zu können. Aber wenn ich mir vorstelle, was mein älteres Ich zu mir sagen würde, wäre es wohl, dass ich auf mich achten und das Leben genießen soll. Man muss auch Pausen machen und so weiter. Also versuche ich auch, das zu tun.“
Thunberg hat nicht viele Interviews gegeben, um ihre neue Dokumentation zu bewerben. Sie setzt ihre Plattform ein, um die Klimawissenschaft ins Scheinwerferlicht zu rücken, und indem sie The Big Issue ein Interview gibt, thematisiert sie ebenso Armut und Obdachlosigkeit. Betrachtet sie diese beiden Themen als miteinander verwoben – weil es oft Menschen in Armut sind, die zuerst betroffen sind und die wenigsten Alternativen haben?
„Natürlich. All diese Themen sind miteinander verbunden. Ein Klimaaktivist oder Umweltaktivist zu sein bedeutet nicht, dass man Bäume und Blumen liebt. Natürlich ist uns das auch wichtig, aber was wir der Natur antun, tut die Natur uns an, und deshalb engagieren wir uns“, sagt sie. „Die Klimakrise ist eine soziale Krise. Sie betrifft vor allem die ohnehin schon verwundbarsten Menschen. Ohne das zu bedenken, ohne das zu berücksichtigen, werden wir die Klimakrise nicht lösen können.
Normalerweise sage ich, dass ich mich aus der Politik heraushalte. Aber manches geht über die Politik hinaus, wie die Menschenrechte. Das ist nicht Politik, jedenfalls nicht für mich. Das gehört einfach zum gesunden Menschenverstand. Für mich ist das nicht Politik, weil es meiner Meinung nach allen Menschen ein Anliegen sein sollte.“
Auf die Frage, ob sie den Lesern, die sich ihrer Mission anschließen und die Welt vor der Klimakrise warnen wollen, eine letzte Botschaft mitgeben will, hält Thunberg kurz inne. „Jeder Mensch zählt“, sagt sie. „Manche denken vielleicht, nur eine einzige Person kann keine Veränderungen auslösen, also tun wir nichts. Aber die Schulstreik-Bewegung zeigt, dass das nicht stimmt. Jeder einzelne Mensch zählt. Und wenn wir alles verändern müssen, dann brauchen wir alle. Kein Schritt in die richtige Richtung ist zu klein.“
REUTERS/Arnd Wiegmann ©
Die 16-jährige schwedische Umweltaktivistin Greta Thunberg veranstaltet während des Jahrestreffens des Weltwirtschaftsforums (WEF) am 25. Jänner 2019 in Davos (Schweiz) einen Sitzprotest vor dem Kongresszentrum.