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Für ein gutes Leben mit Behinderung

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„INKLUENCERINNEN“ FÜR EIN GUTES LEBEN MIT BEHINDERUNG

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Nicole Klocker-Manser

Der Verein Integration Vorarlberg feiert seinen 30. Geburtstag. Eltern für den inklusiven Weg zu ermutigen ist eine Pionierarbeit, die maßgeblich im Bregenzerwald ihren Ursprung hatte. Hier sind „Influencerinnen für die Inklusion“ zugange, um der Thematik zu mehr öffentlicher Wahrnehmung zu verhelfen.

Inklusion ist ein Menschenrecht und kein besonderes Bedürfnis.

Text und Fotos: Andrea Fritz-Pinggera

Der 1989 ins Leben gerufene Verein Integration Vorarlberg ist Informationsdrehscheibe und Plattform, macht Betroffenen Mut und unterstützt den integrativen Weg. Neue Obfrau ab Juni ist Mag.a Nicole Klocker-Manser, die mit der Vizeobfrau der ersten Stunde, Ingrid Rüscher, einiges verbindet. Die Pädagogin und Arztassistentin Rüscher setzt sich seit vier Jahrzehnten unermüdlich für das gemeinsame Leben und Lernen von Kindern mit und ohne Beeinträchtigung in Kindergarten und Schule ein. Motor für ihr Engagement ist Tochter Stephanie (Jg. 1981), eines der ersten Integrationskinder in Kindergarten, Volks- und Hauptschule in Andelsbuch. Die einstige Jugendkoordinatorin der OJA Bregenzerwald, Nicole Klocker-Manser, begegnete Stephanie auf einem Reiterhof, bevor sie die junge Frau später im Rahmen des Pilotprojektes „persönliche Assistenz“ ein Jahr lang begleitete. Als die studierte Erziehungswissenschafterin selbst Mutter wurde, stellt sich nach einiger Zeit heraus, dass ihre Tochter Frida einen besonderen Entwicklungsplan hat und Unterstützung benötigt. Ingrid Rüscher mit ihrer großen Erfahrung und Nicole Klocker-Manser mit frischer Initiative ergänzen sich nun generationenübergreifend im Verein Integration Vorarlberg.

marie: Was war 1989 die größte Schwierigkeit? Ingrid Rüscher: Ich wollte, dass Stephanie statt in die Sonderschule im vertrauten Umfeld zur Schule geht. Das konnten sich damals Direktoren, Landesschulrat und Behörden nicht vorstellen. Das war neu. Es waren zwar Kompromisslösungen vorhanden, ich beharrte jedoch auf einem integrativen Schulversuch, damit landesweit Kinder davon profitieren können. Zeitgleich engagierte sich eine Familie in Lustenau in derselben Thematik. Experten rieten uns zum gesellschaftlichen und politischen Engagement, um die Integrations-Idee größer aufzustellen. Mit der Vereinsgründung installierten wir die Integration Vorarlberg als Plattform für den inklusiven Weg. 1990 startete die erste Integrationsklasse.

Wie wichtig ist die Wahl der Begriffe? Nicole Klocker-Manser: Sprache ist ganz wesentlich. Spreche ich von einem „Behinderten“, ist es vereinnahmend. Heißt es ,Mensch mit Behinderung‘ ist es lediglich eine Eigenschaft, ein Teil. Meine Tochter hat einen besonderen Genbaukasten. Ich nenne selten den Begriff Williams-Beuren-Syndrom, da ich Frida nicht in eine Schublade stecken will. Worte wie Erkrankung oder Gendefekt etc. sind nicht richtig. Unsere Gesellschaft ist vielfach defizitorientiert, das ist eine der Herausforderungen, Inklusion in die Köpfe zu bringen.

Factbox

30 Jahre Integration Vorarlberg

10. Juni bis 26. Juni 2021 Ausstellung und offener Dialograum zum Thema Integration/Inklusion von Menschen mit Behinderungen WirkRaum der Caritas Vorarlberg, Bahnhofstraße 9, 6850 Dornbirn www.integration-vorarlberg.at

Menschen mit Behinderungen müssen in einer inklusiven Gemeinschaft leben können

Ingrid Rüscher

Die beiden Bregenzerwälder Mütter wissen: Anderssein benötigt einen Platz in unserer Gesellschaft. Als „Inkluencerinnen“ setzen sie sich dafür ein.

„Inklusion bedeutet Zugehörigkeit und meint die selbstverständliche Teilhabe aller Menschen in gesellschaftlichen Bereichen, unabhängig von individuellen Merkmalen wie Behinderung, Geschlecht, Herkunft, Religion, Alter, Sprache oder Sexualität. “

Was hat sich innerhalb von 30 Jahren positiv verändert? Ingrid Rüscher: Ich freue mich, dass sich durch das gemeinsame Lernen und Leben die Haltung gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen positiv verändert hat. Kinder mit Behinderung und deren Familie erleben eine inklusive Gesellschaft als positiv. Es nimmt viel Leid weg, wenn ein Kind in die Schule geht und es willkommen ist. Früher mussten alle anderen Eltern zustimmen, damit meine Tochter statt in die Sonderschule in die Regelschule gehen konnte. Unser Einsatz für ein selbstbestimmtes Leben trug Früchte.

Später wirkten gesetzliche Grundlagen? Ingrid Rüscher: Die Grundeinstellung der Bildungsdirektionen hat sich österreichweit wesentlich geändert. Minister Scholten hat dies eingeläutet und 1993 wurde das Schulorganisationsgesetz geändert und „die gemeinsame Elementarbildung unter Berücksichtigung einer sozialen Integration behinderter Kinder“ gestartet. In Vorarlberg waren die Politiker Liesl Gehrer und Hans-Peter Bischof sehr unterstützend. Gesetze sind Meilensteine, aber Haltungen und Rahmenbedingungen sind nach wie vor verbesserbar. Es gibt kaum Grenzen einer Behinderung, wenn es Ziel ist, ein inklusives Setting zu bieten. Integration Vorarlberg setzt sich für die Inklusion behinderter Kinder von der Spielgruppe bis zur Berufswelt ein. Auf unsere Initiative hin entstand vor 20 Jahren auch SPAGAT als Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigung am regionalen Arbeitsleben.

Welche Rahmenbedingungen sind noch verbesserungswürdig? Ingrid Rüscher: Es gibt viele Angebote in den Gemeinden und den Sozialsprengeln. Meines Erachtens müssten soziale Angebote noch besser vernetzt werden. Betroffene Familien sollten noch stärker begleitet werden. Meine Vision ist ein persönliches Budget für Personen mit Beeinträchtigungen, damit diese als Gestalter des eigenen Lebens fungieren können. Die persönliche Assistenz ist das menschliche Hilfsmittel, um das zu tun, was jemand wegen seiner Behinderung nicht tun kann. Die Hilfe wäre zielgenau dort, wo sie gebraucht wird. Ich hoffe, dass dieser Paradigmenwechsel gelingt. Ein Ansuchen liegt im Landtag, dadurch würde die inklusive Gesellschaft einen großen Schritt weiterkommen.

Von Inklusion profitieren alle? Nicole Klocker-Manser: Meine Tochter lernt mit einer anderen Methode Mathematik. Von dieser Methode profitierten auch andere Kinder ihrer Klasse, wie eine Mama kürzlich erfreut mitteilte. Unterschiedliche Niveaus benötigen andere Formen von Wissensvermittlung und fördern die Kreativität. Frida muss keine Lernziele in einem bestimmten Zeitraum vorweisen. Sie soll gerne in die Schule gehen, eingebunden sein, gefördert und gefordert werden. Fridas Motivation sind die anderen Kinder – und dann bringt sie auf ihre Art und in ihrem Tempo tolle Lernerfolge. In der Institution Schule ist Leistung sehr dominant. Es gilt, Druck herauszunehmen, sonst entsteht Frust für alle Beteiligten. Wir stellen das Kindeswohl in die Mitte und laden ab 10. Juni zu unserer Jubiläumsausstellung mit Video-Stationen, Vorträgen, Austausch und Diskussionen.

(Forderung der UN-Behindertenrechtskonvention)

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