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History Repeating

History Repeating Text: Hans Platzgumer

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Will er nicht oder kann er nicht, der Mensch, warum lernen wir nichts aus unserer Geschichte? Es wird an Ersterem liegen, wir sind nicht lernfähig, weil wir unwillig sind zu lernen. Emotional verschließen wir uns einem Wissen, das zwar in breitem Maße zur Verfügung steht, aber eben trocken und unsinnlich wirkt. Die Kenntnis über unsere Vergangenheit ist ein ziemlich unpopuläres Feld. Der überragende Teil der Menschen greift dort nicht freiwillig hin, greift nicht zu, obwohl es so vieles zu finden gäbe, er ergreift es nicht, begreift es nicht. Ein Jammer, gerade in Pandemiezeiten. Gerade jetzt können wir von Historikern so viel lernen. Doch sie, die die Details der Menschheitsgeschichte studieren, kommen in den aktuellen Debatten nur selten zu Wort. Es ist die Stunde, genauer gesagt das Jahr oder die Jahre der Virologen. Auch dieser Spezies von Wissenschaftlern hat bis 2020 kaum jemand zugehört. Nun ist sie im wahrsten Sinn des Wortes an der Macht, Epidemiologen, Infektiologen entscheiden vorrangig über unser aller Dasein. Die Kurven und Berechnungen, die sie erstellen, legen die Freiheiten fest, die jeder und jedem Einzelnen von uns bleiben. In die Beratungen hinzugezogen werden gelegentlich Statistiker, Mathematiker und zunehmend auch Ökonomen. Der wissenschaftliche Beirat, der unsere Politiker zu Entscheidungen führt, welche sämtliche Bürger bis in den privaten Bereich hinein betreffen, dieses mächtige Gremium sollte jedoch deutlich erweitert werden. Solch unglaublich vielschichtige Probleme sollten möglichst vielschichtig angedacht werden. Notgedrungen müsste der Wissenschaftlerstab durch Pädagogen, Soziologen und Psychologen ergänzt werden – und ebenso durch Historiker. Nur so könnte endlich breitflächig eingeordnet werden, wo wir tatsächlich stehen. Ein sorgfältiger Blick auf die letzte große Pandemie unserer Historie hätte uns von Anfang an viel im Umgang mit der Coronakrise gelehrt. Die irreführend als Spanische Grippe bezeichnete Influenza, die in den USA ihren Ursprung hatte, wütete vor hundert Jahren in erschreckend ähnlichen Szenarien und Dynamiken wie das Coronavirus heute. Je mehr wir über sie in den Geschichtsbüchern lesen, desto deutlicher sehen wir die Parallelen. Die Pandemie durchlief insgesamt drei Wellen. Verhältnismäßig glimpflich kam man durch die erste Welle, weil das Virus früh durch strenge Maßnahmen aufgehalten wurde. Daraufhin wurden die Regierungen nachlässiger, weil wirtschaftliche Folgen in den Vordergrund rückten und sich das Virus vermeintlich zurückzog. Ein paar Monate später rollte die zweite Welle an, die den Großteil der Todesopfer fordern sollte. Mit ihr ging Ratlosigkeit, Entsetzen, eine Schockstarre und die Uneinigkeit über das weitere Vorgehen einher. In diesem Gebräu mündete die zweite Welle direkt in die dritte. Nach ungefähr zwei Jahren ging der Spuk vorüber. Nur zur Erinnerung: Ich schreibe von den 20er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, nicht vom Jetzt. Wir hätten uns viel Leid und Chaos, viele Konflikte ersparen können, hätten wir die Zeit vor hundert Jahren als Blaupause genutzt. Stattdessen vertrauten wir darauf, dass sich die Geschichte niemals wirklich wiederholt – was auch ich in einem früheren Essay behauptet habe. Womöglich lag ich falsch? Wir sollten unseren Hochmut gegenüber den überstandenen Zeiten überdenken. Zwar haben sich in den letzten hundert Jahren gigantische, ja wahnwitzige Veränderungen in der Menschenwelt vollzogen, aber dieser Pool an Erfahrungen und neu angehäuftem Wissen sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass wir nach wie vor Menschen sind. Die Veränderungen, die sich im Anthropozän auf unserem Heimatplaneten abspielen, all die Katastrophen, in die wir großteils aus eigenem Verschulden in letzter Zeit geschlittert sind, all diese veränderten Parameter lassen zwar unser Umfeld in anderem Licht erscheinen, in unserem Inneren aber haben wir uns wenig weiterentwickelt. Seit den antiken Griechen sind die gedanklichen Prozesse, die ideellen und ontologischen Themen, die kleinen und großen Fragen, denen wir uns im Leben zu stellen haben, mehr oder weniger gleichgeblieben. Durch die äußere Technologisierung lenken wir höchstens vom Kern des Daseins ab. Der technische Fortschritt schreitet zu rasch voran, wir schaffen es nicht, moralisch mit ihm Schritt zu halten. Die ethische Evolution hechelt der digitalen hinterher. Wir versuchen, den Anschluss an die technischen Errungenschaften, derzeit hauptsächlich die künstlichen Intelligenzen nicht zu verlieren und richten so den Blick nach vorne. Dabei vergessen wir, dass sich im Morgen die gleichen Katastrophen aufbauen wie im Gestern: bewaffnete Konflikte mit immer perfiderem Tötungswerkzeug, Umweltkatastrophen immer extremeren Ausmaßes, Ausrottungen. Doch nicht nur Genozide oder Ökozide finden sich bereits zuhauf in unseren Geschichtsbüchern, auch von Epochen scheinbarer Leichtigkeit steht dort geschrieben, von Zeiten des Hedonismus und der Sorglosigkeit. Auf die Spanische Grippe folgten die Goldenen Zwanziger, dieses halbe Jahrzehnt der Ballrooms und der Zügellosigkeit. Eine ähnliche Entwicklung ist auch heute als nächster Schritt absehbar. Mit dem Voranschreiten der Impfungen in Großbritannien und der damit einhergehenden Aussicht auf

Wir hätten uns viel Leid und Chaos, viele Konflikte ersparen können, hätten wir die Zeit vor hundert Jahren als Blaupause genutzt.

„Normalität“ vermeldet beispielsweise Ryanair nie dagewesene Rekorde bei den Sommerbuchungen. Von Zuwächsen im vierstelligen Prozentbereich ist die Rede. Es steht außer Frage, dass das nächste und noch hemmungslosere Ballermann und ein wiederauferstehendes Ischgl nach dem anderen auf uns zukommen wird. Gleichzeitig warnen Finanzexperten bereits vor einer Entwicklung, die auch Historiker mit einem Blick auf die späten 1920er Jahre voraussagen könnten: die Gefahr einer gewaltigen Inflation als Rattenschwanz der Pandemie. Die Vernichtung von Vermögen. Und was in den 1930ern als Folge einer solchen Wirtschaftskrise und als Resultat der vorangegangenen schicksalshaften Zeit entstand, ist hinlänglich bekannt: das Erstarken der Rechtsradikalen, des blindwütigen Nationalismus und Rassismus bis hin zur Machtübernahme jener, die in ihrem Wahn die Welt schließlich in Schutt und Asche legten. Auch heute rasseln jene unverbesserlichen Hassprediger unverfroren mit ihren Säbeln, als witterten sie die nächste Chance. Es liegt nun an uns, endlich die Schlüsse aus unserer Geschichte zu ziehen und zu vermeiden, dass sie sich einfach wiederholt. Denn bei allen hochkomplexen und höchst berechtigten Zukunftsängsten, mit denen wir uns im Hier und Jetzt auseinandersetzen müssen, eine Wiederholung der Katastrophenketten der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dürfen wir unter keinen Umständen zulassen.

Zugunsten des Leseflusses wurde in diesem Text auf Gender-gerechte Bezeichnungen verzichtet. Dies bedeutet keine Diskriminierung. Alle Akteure sind auch Akteurinnen.

Der Simplicissimus (deutsch: der Einfältigste) war eine politisch-satirische Wochenzeitschrift, die vom 4. April 1896 bis 13. September 1944 erschien. Die Redaktion hatte ihren Sitz in München. Gegründet wurde sie von Albert Langen. Zeichnung Cover: Erich Schilling

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