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Du bist nicht alleine

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Geschützter Raum zum Reden und Zuhören: Selbsthilfe-Gruppen leisten einen wertvollen Dienst an der Gesellschaft und leben von ehrenamtlichem Engagement und jeder Menge Löwenherzblut.

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Text: Simone Fürnschuß-Hofer, Fotos: AdobeStock, privat Der amerikanische Börsenmakler Bill W. war 22, als er zu trinken begann. Trotz der Einsicht, an einer Krankheit zu leiden, trotz mehrfachen Entzugsphasen und kraftvollen spirituellen Erfahrungen verspürte er eines Abends – allein in einem Hotel in einer fremden Stadt – wieder den mächtigen Zug zur Flasche. Da überkam ihn ein Gedanke, der den Anfang für eine weltweite Bewegung markieren sollte: Wenn er jetzt nur mit einem Menschen in einer ähnlichen Situation reden könnte, würde er vielleicht dem Suchtdruck entkommen. Also rief er die Pfarren der Umgebung an, ob man ihm nicht jemanden vermitteln könne, der alkoholkrank war. Es kam zur entscheidenden Begegnung mit dem für seine Trinksucht bekannten Chirurgen Bob S. Und es sollte sich tatsächlich bewahrheiten: Reden, zuhören – und helfen – hilft. Diese rudimentär gefasste Erzählung bildet den Anfang der Erfolgsgeschichte der Anonymen Alkoholiker, jener Selbsthilfe-Initiative, die von den genannten Protagonisten 1935 in den USA gegründet wurde und inzwischen in rund 185 Staaten dieser Erde vertreten ist. Was für diese Bewegung Ausgangspunkt war, ist bis heute auch der eigentliche Kern der Selbsthilfe-Idee: eine Gemeinschaft zu bilden, die Erfahrung, Kraft und Hoffnung teilt, um sich gegenseitig bei einem gemeinsamen Problem zu helfen. Egal, ob es dabei um eine Nahrungsunverträglichkeit geht, ein schweres Schicksal oder ein Suchtverhalten. Oberstes Gründungsprinzip: Du musst selbst betroffen sein. Der geschützte Rahmen und die Anonymität sollen dafür sorgen, dass sich Betroffene gut aufgehoben fühlen und sich mit ihren Sorgen dem Kollektiv öffnen können.

Selbsthilfe-Netz Vorarlberg

In Vorarlberg sind fast 100 unterschiedlichste Selbsthilfe-Vereine und Gruppen unter dem Dach der Plattform „Selbsthilfe Vorarlberg“ versammelt. Geschäftsführer Nikolas Burtscher: „Selbsthilfegruppen entstehen immer dann, wenn es eine Versorgungslücke im Staat gibt. In unserem Netzwerk dreht es sich zu 85 Prozent um gesundheitliche Themen wie Behinderung oder chronische Erkrankungen, die anderen 15 Prozent sind psychosozialen Themen zuzuordnen: beispielsweise verwaiste Eltern, Hinterbliebene nach einem Suizid oder vereinsamte Menschen, die sich in Selbsthilfegruppen zusammentun.“ Die Selbsthilfe Vorarlberg sieht sich als Anlauf- und Servicestelle für Mitglieder und Neugründungen. Ihre Aufgaben reichen vom Organisieren von Räumlichkeiten bis hin zu „Übersetzungs-Nachhilfe“ bei Gesetzestexten. „Die Gruppensprecher*innen werden bei Bedarf auch in ihrer Kommunikation geschult. Und darin, wie sie psychischen Druck abwenden und sich abgrenzen können. Das gelingt, indem sie sich ihrer Rolle bewusstwerden: dass ihre Arbeit keinen professionellen Anspruch hat, sondern lediglich einen Rahmen bietet“, sieht Nikolas Burtscher einen wichtigen Auftrag in der Befähigung engagierter Personen. „In die Inhalte mischen wir uns nicht ein, bei unseren Schulungen geht es mehr um Haltung und Sprache. Dass zum Beispiel kein ‚du musst‘ formuliert wird und ich nicht meine Lösung als die richtige für andere empfinde“, erklärt Burtscher, wie wichtig diese Unterscheidung zwischen Expertise und dem Selbsthilfe-Prinzip ist. „Bei schwierigen Themen kann man natürlich durchaus auch einmal eine Fachperson in ein Treffen einladen.“ Geschäftsführer der „Selbsthilfe Vorarlberg" Nikolas Burtscher

Kooperation statt Konkurrenz

Es läge im Selbstverständnis der Selbsthilfe-Communities, sich in keinen Wettbewerb zu Institutionen zu begeben. Statt in Konkurrenz zu denken würde man viel lieber Anknüpfungspunkte suchen und gemeinsam projektieren. Der studierte Sozialarbeiter dazu: „Vielleicht war das früher anders, aber jetzt ist der Blick beidseitig ein zugewandter. Wir suchen ganz aktiv Kooperationen

wie beispielsweise mit dem Fraueninformationszentrum femail, wo aktuell ein Projekt im Kontext psychische Gewalt und Bewusstseinsbildung entsteht.“ Und gemeinsam mit der Krankenhaus-Betriebsgesellschaft wird zum „Selbsthilfefreundlichen Krankenhaus“ ausgezeichnet. „Wir wollen bewusst machen, wie hilfreich es ist, wenn dir beispielsweise bei der Spitalsentlassung ein Folder zugesteckt wird, der darauf aufmerksam macht, dass es bereits eine Gemeinschaft für ein spezifisches Problem gibt und du dort andocken kannst.“

„Selbsthilfegruppen entstehen immer dann, wenn es eine Versorgungslücke im Staat gibt.“

Selbsthilfe in der Pandemie

Seit Mitte März dürfen sich Selbsthilfegruppen wieder treffen. Davor gab es lockdownbedingt eine längere Durststrecke zu überwinden, die auch die Gruppenverantwortlichen und den Verein gefordert hat. „ZOOM ist für die meisten kein probates Mittel, weil es nicht barrierefrei ist. Wenn nun die gewohnten Gespräche mit der Gruppe komplett wegfallen, prasselt oft alles auf die Gruppensprecher*innen ein und bringt diese in die Bredouille. Umso wichtiger war das Backup mit uns, um zu entlasten.“ Jetzt freue man sich jedenfalls über die Wiederaufnahme der Präsenztreffen und auch das Contact Tracing sei gesichert, ohne dabei den für die Teilnehmenden so wesentlichen Datenschutz zu vernachlässigen. Ganz aktuell sei im Übrigen auch eine Selbsthilfegruppe für Covid-Patient*innen mit Langzeitfolgen in Planung. Grundsätzlich sollten Selbsthilfe-Treffen auf möglichst neutralem Boden und wohnortnah stattfinden. In diesem Sinne stehen Räumlichkeiten in allen vier Bezirken zur Verfügung. Auf Barrierefreiheit wird geachtet und an den Versammlungen kann ohne Voranmeldung teilgenommen werden. Interessant dabei auch: Selbsthilfe kennt keine Grenzen und spricht auch Menschen von den benachbarten Ländern an. Wie auch umgekehrt manche Betroffene aus Vorarlberg lieber nach Deutschland oder in die Schweiz pendeln – zumindest in Zeiten ohne Reisebeschränkungen. Burtscher findet, es wäre an der Zeit, den ökonomischen Nutzen von Selbsthilfe zu erforschen: „Interessant wäre es schon, einmal in Zahlen zu bemessen, was sich der Staat durch dieses Ehrenamt er- Factbox spart.“ Nein, rechtfertigen müsse man sich heutzutage nicht mehr. Gründung der Selbsthilfe Vorarlberg 2009 (davor Die Akzeptanz und Wertschätzung sei spürbar besser als früher, ge- „Club Antenne“), finanziert vom Sozialfonds. rade dank der gebündelten Kräfte durch genannte Kooperationen Der Vorstand setzt sich mit Werner Gohm, Joe oder auch durch Schulterschlüsse mit Plattformen wie dem Verein Meusburger, Sebastian Spiegel und Verena Wil„Lebensraum Bregenz“. Nikolas Burtscher freut sich jedenfalls auf helm aus Personen zusammen, die mit sozialer weitere Gründungswillige: „Es braucht mutige Personen, die sich hin- Arbeit vertraut sind. Hauptamtlich geführt wird stellen und für die Sache einstehen. Die aus eigener Betroffenheit und der Verein von Nikolas Burtscher. mit Löwenherz agieren, die Sprachrohr sind. Das erfordert Kraft und Ein Folder mit einer Übersicht über alle Selbstwir unterstützen dabei, wo und wie es nur geht.“ hilfe-Vereine und Gruppen ist in Arbeit, derweil bietet die Rubrik „Gesundheit“ der VN oder die Website des Vereins tagesaktuelle Informationen. Kontakt: +43 664 434 96 54, info@selbsthilfevorarlberg.at bzw. selbsthilfe-vorarlberg.at

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