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Lausbub Lina

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Waste‘s End

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Leon ist zwölf. Er fährt Waveboard und Scooter, spielt Trompete und „zockt“ gerne mit seinen Freunden. Mit seinen strubbeligen, kurzen Haaren und großen, braunen Augen ist der freche Bursche hundert Prozent Lausbub. Vor ein paar Monaten hat er sich verliebt – in ein Mädchen in der Schule. Eigentlich ganz normal, aber von da an gab es Handlungsbedarf. Denn Leon ist ein Mädchen und heißt eigentlich Lina.

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Lina ist zweieinhalb Jahre als sie beschließt mit rosa Rüschen und pinken Blümchen Schluss zu machen. Die schönsten Kleider und Röckchen, die die Oma kauft, haben keine Chance mehr, Bikini trägt sie nie. Mit vier Jahren schneidet sich Lina selbst die Haare ab und von da an werden sie immer kürzer. Dass ihr einst blondes Mädchen mit den süßen Zöpfchen zehn Jahre später auf dem Weg ist, ein Bursche zu werden, damit hat die Familie über die Jahre gerechnet. „Für uns war es keine große Überraschung“, sagt seine Mutter Ines, „irgendwie wussten wir alle, dass dieser Tag kommen wird.“ Für Leons jüngere Schwester Katharina ist die Nachricht, dass ihre Schwester jetzt ihr Bruder sein soll, trotzdem zuerst ein Schock. „Sie hat es nicht verstanden“, erklärt die Mutter. Schlussendlich ist sie dann aber die Erste, die alles als gegeben nimmt und am raschesten von „sie“ auf „er“ umschwenkt.

Trauriges Herzklopfen

„Bis zu jenem Tag im Dezember 2019 habe ich mich nie als das oder das gesehen“, sagt Leon. Das war der Tag an dem er traurig und verwirrt von der Schule heimkam und zu seiner Mama sagte: „Ich habe mich in eine Mitschülerin verliebt. Aber als Bub, nicht als lesbisches Mädchen.“ Sein Körper hat ihn bis dato nie wirklich interessiert. Gefühlt hat er sich immer irgendwie als Bub, bzw. eigent lich einfach als Mensch, versucht er zu erklären, nur war dieser Umstand für ihn immer selbstverständlich und wurde nie hinterfragt. Alles war immer cool, alles easy. „Leon hat ein ausgeglichenes Naturell, er ist nicht deprimiert oder durcheinander“, beschreibt Mutter Ines ihr Kind. Ein bisschen Sorge hatte sie während der Kinderzeit aber immer, wenn sie an die bevorstehende Pubertät dachte. Wie wird sich das auf die Situation auswirken, wie wird das ihr ältestes Kind meistern? Ines sollte Recht behalten. Mit dem Übertritt vom Kindesalter in die Teenagerzeit verändern sich Körper, Hormonhaushalt, Umfeld – der Mensch steht Kopf. Und für Leon gab es plötzlich Fragen ohne Antworten. Die fanden er und seine Familie bei einer Psychiaterin. „Das war eine große Erleichterung – es hat mir richtig gut getan. Jetzt weiß ich, was mit mir los ist“,

sagt Leon. Das was mit ihm „los“ ist, hat einen Namen: Leon ist ein transidenter Jugendlicher. „Es hat nichts mit Sexualität zu tun“, erklärt der Zwölfjährige, der sich während seiner Gesprächstherapie sehr viel Wissen einholt, sich auch bei Selbsthilfegruppen und in den sozialen Medien informiert.

Langer Weg

Im August war die Familie in der Klinik für transidente Jugendliche in Hall in Tirol. Dort wurden die seitenlangen Fragebögen ausgewertet, die Leon im Vorfeld beantworten musste. Auch die somatische Abklärung – also die Untersuchung, wie weit sich der Körper in der Pubertät befindet – fand dort statt. Diese Bestandsaufnahme bildet die Basis für ein weiteres Vorgehen mit Hormonblockern, um die Menstruation und das Wachstum der Brüste zu stoppen. Diese Phase dauert etwa zwei Jahre, danach können Hormone wie Testosteron eingesetzt werden. Vorausgesetzt werden die ärztlichen Gutachten und das Einverständnis der Eltern. Es werden zwei Stellungnahmen benötigt: die fachärztliche der Universitätsklinik Innsbruck (Psychiatrie Kinder- und Jugendliche) und die psychologische/psychotherapeutische. Obwohl das noch weit in der Zukunft liegt, weiß Leon, dass er irgendwann über eine Mastektomie und einen „Penoidaufbau“ nachdenken muss. Man spürt, dass ihm dabei unwohl ist – momentan muss er sich überwinden, beim Baden ein spezielles Shirt zu tragen, das die wachsenden Brüste abbindet. Trotzdem kann er sich ein Leben als Mäd

chen, bzw. Frau nicht vorstellen. „Gar nicht“, bekräftigt er und ist sich ganz sicher, dass er seine Meinung nie ändern wird, „ich habe bisher immer als Junge gelebt.“ Und jetzt soll das Ganze auch Klarheit bekommen, unter anderem die Namensänderung von Lina auf Leon amtlich werden. Momentan kann ihm alles nicht schnell genug gehen: Mit dem kürzlichen Outing an seiner Schule hat Leon eine große Hürde genommen. Die Resonanz war durchwegs positiv, das

Verständnis groß, Direktor, Lehrer und Mitschüler haben zur mutigen Offensive gratuliert. „Wir haben einen Film zum Thema gezeigt. Bei der anschließenden Diskussionsrunde gab es kaum Fragen dazu“, erzählt Leon fast ein bisschen enttäuscht. Er hätte so vieles zu erzählen.

Vor Leon liegt ein langer Weg. Auch wenn der Zwölfjährige weiß, dass er kein Mädchen mehr sein will, kommen noch viele Herausforderungen und wichtige Entscheidungen auf ihn und seine Familie zu. Irgendwann wünscht er sich einmal eine Freundin, die ihn so nimmt wie und was er ist: Ein willensstarker Bursche, an dem nichts mehr an das blonde Mädchen erinnert, das er einmal war. Auch wenn die Oma noch hin und wieder „Linchen“ zu ihm sagt.

Text: Christine Mennel Fotos: Frank Andres

Stichwort Transidentität

Transidentität beschreibt ein natürlich bedingter Zustand, bei dem die Geschlechtsidentität nicht mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt. Der Betroffene hat einen starken Wunsch, als Person des erlebten Geschlechts behandelt zu werden (zu leben und akzeptiert zu werden). Die erlebte geschlechtsspezifische Inkongruenz muss seit mehreren Monaten ununterbrochen vorhanden sein, eine Diagnose kann nicht vor Beginn der Pubertät zugeordnet werden. Verhalten und Präferenzen der Geschlechtsvariante allein sind keine Grundlage für die Zuordnung der Diagnose.

Fakten

Erstinformationen bietet das Institut für Sozialdienste in Vorarlberg an, drei freiberufliche Psychotherapeutinnen sind dort unter Vertrag für die Kostenübernahme.

Gruppen und Vereine:

Die Trans-Gruppe der Selbsthilfe Vorarlberg: selbsthilfe-vorarlberg. at/transidentitat-transsexualitat-intersexualitat/ ‘s Freiräumle ist der Raum, in dem sich Trans* und Inter* in geschütztem Rahmen austauschen, einander kennenlernen und voneinander lernen können. Jeden Dienstag von 18 bis ca. 23 Uhr geöffnet im ProKonTra s‘Beisl, Kaiser-Franz-Josef-Str. 29, 6845 Hohenems. GoWest, Verein für Lesben, Schule, Bisexuelle, Trans*, Inter*, Beratungstelefon +43 (0) 678 125 60 14, www.gowest.jimdo.com/angebot

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