
4 minute read
Pro Alkoholverkauf
Herr Scherrer, warum soll die Migros Alkohol verkaufen?
Anton Scherrer war bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2005 Migros-Chef. Jetzt macht er sich für ein Ja zum Alkoholverkauf stark. Die Migros sowie ihre Kundinnen und Kunden seien heute im Nachteil, argumentiert er.
Text: Kian Ramezani, Benita Vogel Bild: Nik Hunger
Anton Scherrer, Sie führten die Brauerei Hürlimann, bevor Sie Anfang der 90er-Jahre zur Migros kamen. Haben Sie das Bier nie vermisst? Beides waren bodenständige Unternehmen, ich fühlte mich von Anfang an wohl in der Migros. Zudem konnte ich den Marketingchef überzeugen, dass das alkoholfreie Hürlimann-Bier das Beste ist. So wurde es ins MigrosSortiment aufgenommen. Haben Sie mit Ihrem BrauereiHintergrund je überlegt, in der Migros-Industrie Bier zu produzieren? Das war nie ein Thema. Es war eher eine Phase der Abwehrhaltung. Man hat genau geschaut, was wir verkaufen. Sogar der Alkohol in den Pralinés gab manchmal zu reden. Wenn etwas nach Kirschen schmeckte, mussten wir klarstellen, dass dies nur Aromen sind. Jetzt kämpfen Sie viele Jahre später für das Ende des Alkoholverbots. Warum? Mir geht es um Ehrlichkeit in der Alkoholfrage. Gottlieb Duttweiler führte den Alkoholverzicht im Jahr 1928 in der Not ein. Er wurde von den Lieferanten boykottiert. Um selbst produzieren – und überleben – zu können, kaufte er aus einer Konkursmasse die Alkoholfreie Weine AG in Meilen ZH. Seinen Süssmost verkaufte er unter den damaligen Marktpreisen und hatte grossen Erfolg damit. Gleichzeitig sagte er, mit dem alkoholfreien Most leiste er einen Beitrag zur Volksgesundheit. So machte er aus der Not eine Tugend. Das war also nicht mehr als ein Marketing-Gag? Viel mehr als ein Gag, das war genial! So gelang es, das Sortiment auszubauen und den Umsatz zu steigern. Duttweiler sagte: «Ich brauche Franken, nicht Margen!» Er war ein visionärer Geschäftsmann und ein Pragmatiker. Wenn die Strategie so genial war, wieso jetzt das Alkoholverbot aufgeben? Weil die Delegierten erkannt haben, dass die Migros rund um die Supermärkte Alkohol eingeführt hat und so den Alkoholverzicht umgeht. Und die Kunden sind klar im Nachteil.
Anton Scherrer ist überzeugt, dass auch Migros-Gründer Gottlieb Duttweiler die Alkohlabstimmung gewollt hätte.
Anton Scherrer Migros-Chef 2001–2005
Der Befürworter
Anton Scherrer (79) war von 2001 bis zu seiner Pensionierung 2005 Präsident der Generaldirektion des MGB. Zuvor leitete er von 1991 bis 2001 die MigrosDepartemente Industrie und teilweise die Logistik. Vor seiner Zeit in der Migros leitete er die Brauerei Hürlimann in Zürich. Nach seiner Pensionierung wurde er VR-Präsident der Swisscom. Scherrer ist Lebensmittelingenieur der ETH und doktorierte dort in Mikrobiologie. Er ist verheiratet, hat drei erwachsene Kinder und wohnt in Kilchberg ZH.
Inwiefern? Die Migros ist eine Vollsortiment-Anbieterin. Aber in den Supermärkten finden die Kunden nicht das gesamte Sortiment vor. Bier und Wein müssen sie sich umständlich anderswo besorgen. Oder, noch schlimmer, sie weichen aus und kaufen gleich alles bei der Konkurrenz ein. Das erlebe ich sogar bei mir selbst. Wenn Sie Alkohol kaufen, machen Sie gleich den ganzen Einkauf anderswo? Ja, ich habe doch keine Zeit für Umwege, ich mache One-Stop-Shopping und kaufe alles in einem. Das ist auch für die Umwelt besser. Das Blaue Kreuz argumentiert, die Migros-Supermärkte seien wichtig für suchtgefährdete Menschen, weil sie dort einkaufen können, ohne in Versuchung zu geraten. Ich nehme die Suchtfragen sehr ernst und will das Problem keinesfalls kleinreden. Süchtige Menschen haben ein schwieriges Leben, aber sie werden heute besser geschützt und unterstützt als zu Duttweilers Zeiten. Die Konsumenten sind heute besser aufgeklärt – sie sind selbstbestimmt und möchten sich nicht einschränken lassen. Ist es nicht einfach zu sagen, wenn die Nachfrage existiert, schaffen wir das Angebot? Der Detailhandel befindet sich heute in einem Verdrängungsmarkt. Die Migros muss auch gegen ausländische Anbieter bestehen, die international gesehen viel grösser sind als sie. Der Alkoholverzicht macht die Migros sympathisch und unterscheidet sie von diesen Anbietern … … wenn es denn wahr wäre! Die Migros verkauft grosse Mengen Alkohol, sei es über Denner, Migrolino, Voi und sogar über den Migros-OnlineSupermarkt! Trotzdem: Für viele Menschen stellt der Alkoholverzicht in den Filialen ein wichtiger Migros-Wert dar. Muss man das nicht ernst nehmen? Ja, aber man muss auch den Wandel der Zeit sehen. Als Gottlieb Duttweiler 1928 seinen Süssmost anbot, war der Alkoholmissbrauch ein grosses, landesweites Übel. Doch schon 20 Jahre später führte er die erste Urabstimmung zur Alkoholfrage durch. Er hatte festgestellt, dass der Wein teurer geworden war und Alkohol nicht mehr in derart grossen Mengen getrunken wurde. Sieben von 12 Genossenschaften stimmten damals übrigens für den Verkauf von Wein, aber das «Volksmehr» der Genossenschafter wurde verfehlt. Statutarisch festgelegt wurde das Alkoholverbot erst 1983, also lange nach dem Tod Duttweilers. Er selbst hatte in einem Interview in den 1950er-Jahren noch visionär gesagt: «Als Allerletztes wird dann in den nächsten 50 Jahren vielleicht doch der Weinverkauf eingesetzt.» Wie interpretieren Sie dieses Zitat? Duttweiler hatte ein unverkrampftes Verhältnis zum Alkohol und genoss auch gern ein Glas Wein. Mit seinem Geschäftssinn hätte er im heutigen Verdrängungsmarkt nichts gegen den Alkoholverkauf einzuwenden. Seine visionären 50 Jahre sind inzwischen verstrichen, die zweite Urabstimmung dazu ist überfällig. Ich bin überzeugt, auch er hätte sie gewollt. Was bleibt denn an der Migros noch speziell, wenn sie – wie alle anderen – Alkohol anbietet? Die Migros ist anders, weil sie Werte lebt. Welche Werte? In der Migros bekommt man in allen Preissegmenten mehr fürs Geld, sei dies bei M-Budget, M-Classic, Migros Sélection oder auch Bio. Das erwartet man von der Migros, und das muss so bleiben. Das beste Preis-Leistungs-Verhältnis, gekoppelt mit ihrem gesellschaftlichen Engagement wie dem Kulturprozent – das sind Pfeiler und Anker der Migros, schon lange nicht mehr der Alkoholverzicht! Was glauben Sie, wie wird die Abstimmung ausfallen? Die Zweidrittelmehrheit ist eine hohe Hürde. Sie kann nur genommen werden, wenn die Migros ihre Genossenschafter informiert, ihnen reinen Wein einschenkt. MM