Friedreich-Ataxie –Thomas wartete zehn Jahre auf die Diagnose
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Clusterkopfschmerz und Migräne – Sandra und Anni zwischen Attacken und Alltag
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Schlaganfall – Dieter kämpfte sich zurück ins Leben
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Myasthenia Gravis –Marie: „Nichts ist, wie es mal war“
Seite 18
Demenz – Olga spricht über die Erkrankung ihres Mannes Mario
Mitten im
Leben – und plötzlich chronisch krank
Thorsten Heyer war 41 Jahre alt, selbstständig und erfolgreich, bis die Diagnose Parkinson alles veränderte. Er erzählt, wie er mit Entschlossenheit, Humor und moderner Medizin seinen eigenen Weg fand.
Vorwort
Spitzenreiter im Schatten
Seit 2024 sind neurologische Erkrankungen auch offiziell die häufigsten Erkrankungen weltweit.1 Alleine in den letzten 30 Jahren sind sie um rund 60 Prozent angestiegen, nicht zuletzt aufgrund des zunehmenden Anteils alter Menschen in vielen Ländern der Erde. Die meiste gesunde Lebenszeit verlieren wir dabei durch Schlaganfälle, gefolgt unter anderem von den Demenzen und der Migräne, die viele junge Menschen quält. Somit führen mehr Menschen ein Leben mit neurologischen Erkrankungen als mit jeder anderen Erkrankung.
Prof. Dr. Christoph
Kleinschnitz
Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen
Es braucht mehr Aufklärung, mehr Lobbyarbeit –und eine lautere Stimme für Menschen mit neurologischen Erkrankungen!
instagram.com/ christophkleinschnitz
Führt man sich diese dramatischen Zahlen vor Augen, stellt sich die Frage, wie die immense Bedeutung neurologischer Krankheiten in Gesellschaft und Politik abgebildet ist. Aus meiner sicherlich sehr subjektiv gefärbten Sicht noch viel zu gering. Spricht man mit Bekannten und Freunden aus dem eigenen Umfeld, ist das Wissen über das Medizinfach Neurologie häufig diffus. Nicht selten werden Neurologen noch mit Psychiatern verwechselt oder es fällt schwer, eine einzige konkrete neurologische Krankheit zu benennen. Auch schwingt bei „Nervenleiden“ weiterhin ein gesellschaftliches Stigma mit und man versucht, seine Symptome lieber zu verbergen. Während jeder – zum Glück! – den Herzinfarkt kennt und weiß, dass dabei jede Sekunde zählt, erreicht die Mehrzahl der Schlaganfallpatienten aufgrund von Unkenntnis selbst bei ärztlichen Kolleginnen und Kollegen noch immer zu spät die Klinik. Die Möglichkeit zur Tumorvorsorge wird heute von Millionen Menschen in Anspruch genommen. Das ist gut so. Kaum jemandem ist jedoch bekannt, dass sich auch fast 50 Prozent der Demenzfälle durch entsprechende präventive Maßnahmen verhindern ließen. Schaut man in den Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesregierung, kommen neurologische Erkrankungen an keiner (!) Stelle vor. Stattdessen wird auf die Wichtigkeit der onkologischen Versorgung verwiesen, auf die geschlechtersensible Medizin und die medizinischen Folgen des Klimawandels. Damit ich nicht falsch verstanden werde: Diese Themen sind ohne Zweifel auch wichtig. Dennoch muss man sich fragen, weshalb neurologische Krankheiten noch so wenig in den Köpfen der Menschen und Politiker verankert sind, obwohl sie weltweit auf Platz 1 rangieren.
Wie lässt sich das ändern? In erster Linie durch Sie, liebe Betroffene. Durch Ihre Stimme, durch einen hohen Organisationsgrad in Patientenverbänden und nur durch stetes Auf-sich-aufmerksam-Machen kann das Bewusstsein in Politik und Gesellschaft geschärft werden, wie andere Krankheitsbilder eindrucksvoll gezeigt haben. Natürlich sind auch die entsprechenden Fachgesellschaften gefragt, etwa die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN), nach der Amerikanischen Neurologenvereinigung die zweitgrößte Neurologengesellschaft der Welt. Es braucht schlichtweg noch mehr Lobbyarbeit und bisweilen auch eine laute Stimme. Schließlich ergeben sich mit den sogenannten „neuen Medien“ bisher nicht gekannte Möglichkeiten zur medizinischen Aufklärung, die unbedingt genutzt werden sollten. Natürlich bergen die sozialen Medien auch die Gefahr der Desinformation. Die Vielzahl von unseriösen Heilsversprechen und die Armeen von Scharlatanen, die dort zu finden sind, belegen das leider eindrücklich. Sinnvoll und serös eingesetzt, können sie aufgrund ihrer enormen Reichweite jedoch ein einzigartiges Vehikel sein, medizinische Informationen laienverständlich zu transportieren. Zusammen mit den richtigen Patienten-Testimonials und fachlich fundierten Medizin-Influencern kann so gerade ein junges Zielpublikum in großem Umfang und niederschwellig erreicht werden.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Lesen. Seien Sie versichert, dass Sie mit Ihrer neurologischen Erkrankung nicht alleine sind, sondern in bester Gesellschaft. .
Leben mit ... Magazin Healthcare Mediapartner GmbH | Pariser Platz 6a | 10117 Berlin | www.healthcare-mediapartner.de Herausgeberin Franziska Manske Redaktionsleitung Benjamin Pank Design Elias Karberg Coverbild privat Druck BNN Badendruck GmbH Kontakt redaktion@lebenmit.de | www.lebenmit.de
Alle Artikel, die mit „in Zusammenarbeit mit“ oder „mit Unterstützung von“ gekennzeichnet sind, sind gesponserte Beiträge. Alle Artikel der Ausgabe schließen alle Geschlechter mit ein. Zur besseren Lesbarkeit wird jedoch nur eine Geschlechtsform verwendet.
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„Mein
größter Wunsch ist eine Therapie, die hilft“
Bereits mit Anfang 20 zeigten sich bei Thomas erste Anzeichen einer neurologischen Störung: unsicheres Gleichgewicht, Veränderungen der Sprache, Einschränkungen in der Bewegung. Doch es dauerte ein ganzes Jahrzehnt, bis er endlich eine Diagnose erhielt. Im Gespräch berichtet der heute 50-Jährige offen über den langen Weg zur Gewissheit, die emotionale Wucht der Diagnose, den schrittweisen Verlust körperlicher Funktionen –und darüber, wie er es geschafft hat, mit der Krankheit Frieden zu schließen, neue Kraft zu schöpfen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen.
Lieber Thomas, in welchem Alter und mit welchen ersten Anzeichen hat sich die Erkrankung bei Ihnen bemerkbar gemacht? Die ersten Anzeichen traten auf, als ich etwa 20 oder 21 Jahre alt war. Ich erinnere mich, dass ich beim Motorradfahren plötzlich Probleme mit dem Gleichgewicht bekam – eine ungewohnte Unsicherheit, die mir zwar auffiel, der ich aber zunächst keine große Bedeutung beimaß. Man denkt in dem Alter ja nicht sofort an eine ernsthafte Erkrankung. Doch die Gleichgewichtsstörungen verstärkten sich allmählich über die Jahre. Es blieb nicht dabei: Irgendwann bemerkte ich erste Veränderungen beim Sprechen – meine Sprache wurde langsamer, undeutlicher. Auch meine Tiefenwahrnehmung verschlechterte sich, was besonders beim Treppensteigen auffiel. Ich konnte plötzlich nicht mehr ohne Geländer die Stufen hinauf- oder hinabgehen. Schritt für Schritt wurde mein Bewegungsradius kleiner – bis ich mich schließlich dazu entschloss, dauerhaft einen Rollstuhl zu nutzen. Das klingt zunächst widersprüchlich, denn ein Rollstuhl gilt für viele als Symbol für Einschränkung und Abhängigkeit. Für mich war er allerdings das Gegenteil: Er hat mir ein großes Stück Freiheit zurückgegeben.
Wann erhielten Sie die Diagnose? Es vergingen ganze zehn Jahre zwischen dem Auftreten der ersten Symptome und der endgültigen Diagnose. Das ist leider keine Seltenheit bei seltenen Erkrankungen – man braucht oft viel Glück, um auf einen Arzt zu treffen, der die richtige Spur verfolgt. Ich wurde in dieser Zeit zwar immer wieder gründlich untersucht, aber niemand fand die Ursache für meine Beschwerden. Erst nach einem Umzug, den ich aus beruflichen Gründen machte, nahm das Geschehen eine neue Wendung: Mein neuer Hausarzt war irritiert von meinem auffälligen, schwankenden Gangbild. Er zögerte nicht lange und überwies mich zu einem Neurologen. Dieser wiederum empfahl mir eine Abklärung an der Uniklinik in Würzburg. Dort kam dann erstmals der Verdacht auf Friedreich-Ataxie auf – mit dieser Vorvermutung kehrte ich zum Neurologen zurück, der die Diagnose schließlich bestätigte.
Was ging in Ihnen vor?
Die Diagnose war ein tiefer Einschnitt in mein Leben – eine Zäsur. Ich saß im Sprechzimmer, der Neurologe bestätigte die Vermutung: „Friedreich-Ataxie.“ Dann griff er zu einem medizinischen Fachbuch, schlug eine Seite auf und las laut vor: „Durchschnittliche Lebenserwartung 36 Jahre.“ Anschließend sah er mich an und sagte wörtlich: „Wenn Sie schon immer mal nach China wollten, machen Sie’s bald.“ Diese Szene werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Es war, als würde mir der Boden unter den Füßen weggezogen. Von dem restlichen Termin habe ich kaum noch eine
Erinnerung – aber diese Worte, dieser Moment, haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Natürlich war es ein Schock. Ich brauchte Zeit, um das zu verarbeiten. Doch gleichzeitig wusste ich nun endlich, woran ich war. Ich fing an, mein Leben neu zu organisieren, suchte mir eine barrierefreie Wohnung. Zum Glück reagierte mein Hausarzt ganz anders als der Neurologe. Er sagte: „Friedreich-Ataxie – habe ich noch nie gehört. Aber wir sehen uns in einer Woche wieder, und dann weiß ich Bescheid.“ Diese Haltung, dieses Engagement – das hat mir Mut gemacht. Und was die Prognose des Neurologen betrifft: Die 36 Jahre Lebenserwartung habe ich mittlerweile deutlich überschritten.
Wie hat Ihr Umfeld reagiert? Als ich die Diagnose erhielt, war ich noch nicht lange in der neuen Stadt und kannte dort nur wenige Menschen. Ich war viel auf mich allein gestellt. Doch zum Glück waren meine Kollegen sehr unterstützend – aus dem Arbeitsverhältnis heraus entwickelten sich echte Freundschaften. Ich habe im Rückblick das Gefühl, mein Leben in zwei Teile zu gliedern: in das Leben vor und das Leben nach der Diagnose. Die Menschen, mit denen ich heute befreundet bin, kennen mich nur so, wie ich jetzt bin – mit der Erkrankung. Das macht vieles einfacher, weil ich mich nicht ständig erklären muss. Mein früheres Leben wirkt aus heutiger Sicht fast wie ein anderes.
Was hat Ihnen in dieser Zeit geholfen?
Meine Familie und meine Kollegen waren in dieser Zeit ein ganz wichtiger Rückhalt. Ich kann gar nicht genau sagen, was mir am meisten geholfen hat – aber irgendwann kam der Punkt, an dem ich beschlossen habe: Ich will mein Leben wieder selbst in die Hand nehmen. Dafür braucht es eine innere Kraft, eine Motivation, die von einem selbst kommt. Diese Eigenmotivation ist entscheidend, um wieder aktiv zu werden.
Was belastet Sie heute am meisten? Am meisten belastet mich tatsächlich die Veränderung meiner Sprache. Sprache ist etwas sehr Persönliches – und sie hat eine starke Außenwirkung. Man wird von Fremden schnell beurteilt, in eine bestimmte Schublade gesteckt. Das hat dazu geführt, dass ich zurückhaltender geworden bin, als ich es früher war.
Tauschen Sie sich mit anderen Betroffenen aus?
Ja, der Austausch mit anderen Betroffenen ist mir sehr wichtig. Über Facebook und vor allem über den Förderverein FriedreichAtaxie habe ich Kontakt zu Betroffenen aus ganz Europa. Gerade bei einer seltenen Erkrankung ist es unglaublich hilfreich, sich mit anderen auszutauschen – über Erfahrungen, Behandlungen, aber auch einfach über den Alltag mit der Erkrankung. .
Symptome
Die Friedreich-Ataxie beginnt meist im Jugendalter, kann aber auch später auftreten. Da die Symptome oft unklar sind, zählt das Zusammenspiel mehrerer Symptome. Diese können sein:
Eingeschränkte
Feinmotorik
Probleme beim Schreiben, Anziehen und dem Umgang mit Besteck
Reflex- und Empfindungsverlust –insbesondere an Beinen und Füßen, mit subjektivem Gefühl von Taubheit oder Kribbeln
Ataxie beim Gehen und Gleichgewichtsstörungen
Breitbeiniger Gang oder „PinguinGang“
Probleme mit dem Sprechen – verlangsamte oder undeutliche Sprache
Schwierigkeiten beim Schlucken
Probleme beim Kauen und Schlucken oder Husten
Fatigue – stark ausgeprägte Müdigkeit, schnelle Erschöpfung und Abgeschlagenheit
Herzfunktionsstörungen –Herzrasen, Kurzatmigkeit und/oder Druck in der Brust
Die Symptome der Friedreich-Ataxie sind individuell sehr unterschiedlich. Wichtig ist, alle Beschwerden ärztlich abklären zu lassen.
Clusterkopfschmerz
Clusterkopfschmerz gilt als einer der stärksten Schmerzen, die ein Mensch ertragen kann. Die Erkrankung tritt bei rund einem von 1.000 Menschen auf und oft bleibt sie über Jahre unerkannt. Auch Sandra* lebte ganze zehn Jahre mit diesen qualvollen Schmerzen – ohne Diagnose, ohne wirksame Therapie. Besonders belastend war für sie nicht nur das körperliche Leid, sondern auch die Ohnmacht, als Mutter immer wieder auszufallen: ihre kleine Tochter nicht betreuen zu können, sich zurückziehen zu müssen, wenn sie eigentlich da sein wollte.
Redaktion Emma Howe
„Die Schmerzen haben mich isoliert“
Liebe Sandra, erinnerst du dich an deine erste Attacke?
Ja, sehr genau. Es war im Sommer 2014. Ich war gerade mit meiner damals dreijährigen Tochter auf dem Spielplatz, als mich plötzlich ein stechender Schmerz über dem rechten Auge traf – so heftig, dass mir fast schwarz vor Augen wurde. Mein Auge begann zu tränen, meine Nase lief, und ich konnte kaum noch atmen vor Schmerz. Ich wusste überhaupt nicht, was mit mir passiert. Ich habe meine Tochter nur noch geschnappt, bin irgendwie nach Hause und habe mich ins dunkle Schlafzimmer zurückgezogen. Zum Glück war mein Mann auch zu Hause. Nach einer Dreiviertelstunde war es vorbei, aber ich war völlig erschöpft und verängstigt.
Wie ging es dann weiter?
In den nächsten Wochen kamen die Attacken immer wieder – teilweise mehrfach am
Tag. Ich bin zu meinem Hausarzt gegangen, aber der tippte auf eine Nebenhöhlenentzündung oder Stress. Ich bekam Schmerzmittel, pflanzliche Mittel und später auch Akupunktur verschrieben. Nichts half.
Nach etwa zwei Monaten waren die Attacken so plötzlich verschwunden, wie sie gekommen waren. Aber sie kamen immer wieder. Meistens im Frühjahr oder Herbst und dann über acht bis zwölf Wochen. Ich hatte sogar mal zwei Jahre komplett Ruhe und dachte, ich hätte es hinter mir. Doch dann kehrten sie zurück – gefühlt schlimmer als je zuvor. Ich habe so viele Therapien ausprobiert: Chiropraktik, Homöopathie, Ernährungsumstellung. Jeder Arzt hatte einen Tipp. Und ich war so verzweifelt, dass ich alles versucht habe.
Wie lange hat es gedauert, bis du eine Diagnose bekommen hast?
Zehn Jahre. Irgendwann hatte ich das Gefühl, verrückt zu werden. Manche Ärzte schauten mich mitleidig an, andere belächelten mich, als wäre alles nur psychosomatisch. Es war furchtbar.
Letztes Jahr stieß ich online auf einen Erfahrungsbericht über Clusterkopfschmerz. Beim Lesen hatte ich plötzlich das Gefühl, meine eigene Geschichte vor mir zu haben. Ich habe mich dann an einen Kopfschmerzspezialisten gewandt und wir vereinbarten eine Videosprechstunde. Während dieses ausführlichen Gesprächs wurde schließlich die Diagnose gestellt: Clusterkopfschmerz.
Was hat diese Diagnose für dich bedeutet?
Einerseits war ich erleichtert, denn endlich hatte mein Leiden einen Namen. Andererseits war ich auch wütend. So viele
Ich habe mich oft geschämt, Verabredungen abgesagt und mich als schlechte Mutter empfunden, weil ich während der Clusterkopfschmerzepisoden nicht so für meine Tochter da sein konnte, wie ich es mir gewünscht hätte.
Jahre hätte ich mir ersparen können, wenn jemand früher die richtige Richtung eingeschlagen hätte. Aber ich hatte auch Hoffnung, denn endlich konnte ich gezielt behandelt werden.
Wie sieht deine Behandlung heute aus?
In der Akutphase nutze ich medizinischen Sauerstoff und je nach Schweregrad entweder ein Nasenspray oder eine Injektion. Ich persönlich bevorzuge die Injektion, weil sie sehr schnell wirkt. Seit der Diagnose und der richtigen Therapie hat sich mein Leben komplett verändert. Die Attacken sind zwar noch da, aber sie sind kontrollierbar geworden. Ich führe ein Schmerztagebuch und stehe in engem Austausch mit meinem Neurologen.
Wie hat die Erkrankung dein Leben verändert?
Sie hat alles verändert. Ich war vorher sehr aktiv, habe viel unternommen, war immer für andere da. Die Krankheit hat mich in die Isolation gezwungen. Ich habe mich oft geschämt, Verabredungen abgesagt, mich als schlechte Mutter gefühlt, weil ich mich während der Schmerzphasen oft nicht so um meine Tochter kümmern konnte, wie ich es gern getan hätte.
Was wünschst du dir für andere Betroffene?
Mehr Aufklärung, mehr Schulung für Ärzte – einfach mehr Gehör und Sichtbarkeit. Clusterkopfschmerz ist kein normaler Kopf-
!schmerz. Er ist selten und kann Leben zerstören, wenn er nicht erkannt und behandelt wird. Ich wünsche mir, dass Betroffene frühzeitig eine leitliniengerechte Therapie bekommen. Das macht so einen Unterschied!
Was bedeutet Lebensqualität heute für dich?
Nicht mehr ständig gegen den Schmerz kämpfen zu müssen. Wieder lachen zu können, ohne Angst vor der nächsten Attacke..
*Name von der Redaktion geändert
Anlaufstelle für Betroffene und Angehörige
Die Clusterkopfschmerz-SelbsthilfeGruppe (CSG) e. V. bietet eine zentrale Anlaufstelle für ClusterkopfschmerzPatienten und ihre Angehörigen. Auf der Website finden Betroffene umfassende Informationen über die Erkrankung, aktuelle Studien und einen medizinischen Versorgungsatlas mit schnellem Zugang zu Kompetenzzentren und spezialisierten Ärzten.
www.clusterkopf.de
Es fühlt sich an, als würde mein gesamter Körper in Alarmbereitschaft stehen, und gleichzeitig ist da dieser lähmende Schmerz. Die Zeit steht still –und ich auch.
instagram.com/ migraene_du.arsch
„Manchmal schmerzt sogar das Denken“
Migräne ist eine unsichtbare Krankheit, und doch hinterlässt sie tiefe Spuren im Leben der Betroffenen. Anni lebt seit ihrer Kindheit mit Migräne. Im Interview erzählt sie, wie sich die Krankheit auf ihren Alltag auswirkt, und sie spricht über lähmende Schmerzen und über ihren Wunsch nach echter Veränderung.
Liebe Anni, seit wann leidest du an Migräne und wie hat alles begonnen? Ich habe die Diagnose mit sechs Jahren bekommen. Ich erinnere mich noch, dass ich viel an den Fingernägeln gekaut habe und meine Lippen so lange geleckt habe, bis alles wund war. Das waren frühe Anzeichen von Stress und Überforderung durch die Schmerzen. Hinzu kamen Übelkeit, Bauchschmerzen und natürlich die bohrenden Kopfschmerzen, die mich fast immer begleitet haben. Besonders belastend war für mich, dass ich nicht ernst genommen wurde.
Wie hast du als Kind diese Krankheit erlebt? Ehrlich gesagt: Ich habe viele Erinnerungen verdrängt. Ich wusste lange nicht, wie sehr mich das alles geprägt hat. Ich hatte als Kind oft das Gefühl zu übertreiben, weil die Schmerzen nicht sichtbar waren. Ich habe erst viel später verstanden, wie sehr mich das alles belastet hat. Wenn ich mir Fotos oder Videos von damals anschaue,
sehe ich ein Kind, das gelitten hat, ohne dass es wirklich jemand erkannt oder gesehen hat.
Kannst du beschreiben, wie sich eine Migräneattacke für dich anfühlt?
Es ist ein pulsierender, bohrender Schmerz, als würde mein Kopf in einer engen, drückenden Schachtel stecken. Jede Bewegung tut weh. Manchmal ist es, als würde sogar das Denken schmerzen. Licht, Geräusche, Gerüche – alles wird zu viel. Es fühlt sich an, als würde mein gesamter Körper in Alarmbereitschaft stehen, und gleichzeitig ist da dieser lähmende Schmerz. Die Zeit steht still – und ich auch.
Wie reagiert dein Umfeld auf deine Erkrankung?
Leider oft mit Unverständnis. Viele sagen Dinge wie „Ach komm, das sind doch nur Kopfschmerzen“ oder „Lenk dich einfach ab“. Aber Migräne ist so viel mehr, sie ist eine komplexe neurologische Erkrankung mit vielen Begleit-
symptomen – Migräne ist nicht einfach nur ein bisschen Kopfweh. Solche Sprüche tun weh, weil sie ignorieren, was in mir wirklich vorgeht. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft endlich hinschaut – und zuhört.
Wann wurde es bei dir schlimmer?
Nach dem Abstillen meines zweiten Kindes, im letzten Jahr. Plötzlich kamen die Attacken öfter, heftiger, teilweise vier Tage am Stück. Früher hatte ich unter 15 Migränetage im Monat – das nennt man episodisch. Jetzt sind es über 15, also chronisch. Das hat alles verändert. Mein Leben ist seither noch viel weniger planbar, ich muss ständig mit dem nächsten Einbruch rechnen.
Wie gehst du mit akuten Attacken um? Ich versuche, so früh wie möglich zu reagieren. Selten helfen herkömmliche Schmerzmittel wie Ibuprofen. Ich greife mittlerweile lieber zu Triptanen. Es ist ein ständiges Abwägen: Nehme ich das Medikament jetzt, oder warte ich noch? Und
Text Emma Howe
manchmal kommen die Schmerzen im Laufe des Tages einfach wieder. Es gibt Attacken, die nach ein paar Stunden abflauen, und andere, die wie eine Welle über Tage hinweg nicht enden wollen.
Fühlst du dich medizinisch gut begleitet?
Ehrlich? Nein. Viele Ärzte haben wenig Zeit und wenig Verständnis. Ich habe in meinen frühen Zwanzigern ein Triptan verschrieben bekommen, was ich nicht vertragen habe. Dann habe ich nur noch Ibuprofen genommen, was quasi nicht hilft. Dass es aber mehrere Triptane gibt, wusste ich lange nicht. Die meisten Informationen über Migräne habe ich mir selbst zusammengesucht, und das würde ich auch jedem mit Migräne raten – werde dein eigener Experte.
Wie beeinflusst Migräne dein Familienleben?
Sehr stark. Ich habe zwei kleine Kinder, und wenn eine Attacke kommt, kann ich nicht die Mama sein, die ich gern für meine Jungs wäre. Dann liege ich im abgedunkelten Zimmer, während ich eigentlich für sie da sein möchte. Diese Ohnmacht ist schlimm. Ich brauche dann Hilfe von meinem Mann oder meinen Schwiegereltern, die für mich meine größte Stütze in diesen Momenten darstellen. Ohne diese Hilfe hätte ich ein riesiges Problem. Mama mit Migräne sein ist ein wahnsinniger Druck. Denn selbst wenn die Schmerzen nachlassen, bleibt oft eine bleierne Erschöpfung zurück.
Welche Prophylaxe hast du ausprobiert –und mit welchen Erfahrungen?
Ich habe vieles getestet: Betablocker, Antidepressiva, eine Antikörpertherapie. Meine Migräne hat sich unter der Antikörpertherapie verändert und ich hatte große Hoffnung, doch dann wurde es wieder schlimmer. Momentan mache ich eine Pause und werde bald eine neue Prophylaxetherapie testen.
Wenn du dir die ideale Migränebehandlung wünschen könntest, wie müsste sie aussehen?
Sie müsste schnell wirken, möglichst bevor der Schmerz sich voll entwickelt hat. Und sie müsste langanhaltend helfen, möglichst ohne Nebenwirkungen. Mein Traum wäre zudem, dass das Medikament auch alle Begleitsymptome mit sich nimmt, da diese häufig lange vor und lange nach dem Schmerz anwesend sind und mein Leben ebenfalls sehr einschränken.
Wärst du bereit, für diese Therapie selbst zu bezahlen?
Ja, ich habe auch bereits viel aus eigener Tasche gezahlt. Irgendwann versucht man andere Wege, um etwas zu finden, was das Leid weniger werden lässt. Ich habe schon viel ausprobiert, wie Heilpraktiker, Osteopathie, Nahrungsergänzungsmittel, die mich jeden Monat ein Vermögen kosten. Und natürlich würde ich auch für ein Medikament selbst zahlen, wenn es mir hilft. Denn jeder Tag mit Migräne ist ein verlorener Tag. .
„Mehr als nur Kopfschmerzen“
Interview mit Prof. Dr. Dagny Holle-Lee über Symptome, Diagnosefehler und moderne Therapien.
Prof. Dr. med. Dagny Holle-Lee Leiterin Westdeutsches Kopfschmerzzentrum/Schwindelzentrum, Oberärztin der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Essen
Frau Prof. Dr. Holle-Lee, beginnen wir mit der grundlegenden Frage: Was ist Migräne eigentlich?
Migräne ist weit mehr als nur Kopfschmerz – sie ist eine neurologische Erkrankung mit vielen Symptomen. Neben dem Schmerz treten oft Licht- und Lärmempfindlichkeit, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, kognitive Störungen oder sogar Sprach- und Sensibilitätsprobleme auf. Manche erleben auch eine Aura mit Sehstörungen, Taubheitsgefühlen oder Lähmungen vor der Schmerzphase. Migräne hat viele Gesichter – und wird deshalb nicht immer als solche erkannt.
Ist Migräne schwer zu diagnostizieren? Nicht unbedingt – wenn man weiß, worauf zu achten ist. Migräne ist eine Filterfunktionsstörung: Das Gehirn reagiert überempfindlich auf Reize wie Licht, Geräusche oder Gerüche. In Kombination mit typischen Schmerzen oder Schwindel ist die Diagnose meist klar. Das Problem: Viele Betroffene ordnen ihre Beschwerden falsch ein – oder Migräne wird mit Spannungskopfschmerzen verwechselt.
Wird Migräne also häufig falsch diagnostiziert?
Liegt das Problem eher bei Diagnostik oder Therapie?
Bei beiden. Wir haben heute sehr gute Möglichkeiten zur Akut- und Prophylaxebehandlung. Doch wenn die Erkrankung nicht erkannt oder falsch eingeordnet wird, bleiben diese ungenutzt.
Was hat sich in den letzten Jahren therapeutisch getan?
Viel. Triptane sind gut verträglich, allseits verfügbar und wirksam – vorausgesetzt, sie werden richtig angewendet. Auch in der Prophylaxe gibt es Fortschritte, insbesondere bei den Antikörpertherapien.
Wie sinnvoll sind Kombinationstherapien bei Migräneattacken?
Gerade bei langen Attacken sind sie sehr hilfreich. Triptane lindern schnell die akuten Symptome, ihre Wirkung kann aber nachlassen. Ergänzt man sie mit einem langwirksamen Schmerzmittel wie Naproxen, lassen sich Wiederkehrkopfschmerzen verhindern. Die Kombination aus Triptan und NSAR ist daher ein durchdachter Ansatz. Viele empfehlen, Triptan zu Beginn, NSAR ein bis zwei Stunden später einzunehmen, doch das ist in der Praxis oft umständlich. Eine Fixkombination wie Sumatriptan plus Naproxen vereinfacht die Anwendung, verbessert die Therapietreue und wirkt länger. Für Betroffene mit häufig starken Attacken bedeutet das eine echte Verbesserung der Lebensqualität.
Wie fördern Sie die Eigenverantwortung Ihrer Patienten im Umgang mit der Erkrankung?
Wir setzen stark auf Aufklärung. In unserer Klinik begleiten wir Patienten eng, geben ihnen verschiedene Medikamente zum Testen mit und helfen, den Umgang individuell zu erlernen. Es geht darum, dass Betroffene ihre Erkrankung verstehen und sich selbst helfen können. Deshalb betreiben wir auch einen Instagram-Kanal @migraene_doc, wo wir Wissen niedrigschwellig vermitteln und den Austausch fördern. Viele Menschen haben Angst vor Medikamenten, vor allem vor Nebenwirkungen. Diese Ängste müssen wir ernst nehmen, aber auch relativieren, denn viele Befürchtungen bewahrheiten sich gar nicht. Wichtig ist, zu vermitteln: Ausprobieren ist keine Schwäche, sondern Teil der personalisierten Medizin..
Die Artikel wurden mit Unterstützung der ORION Pharma GmbH umgesetzt. Redaktion
Leider ja. Viele leben jahrelang mit Migräne, ohne es zu wissen. In Hausarztpraxen fehlt oft das nötige Wissen oder die Erfahrung, obwohl dort eine gute Behandlung zum Beispiel mit Triptanen möglich wäre. Ein Besuch beim Neurologen ist nicht immer notwendig –aber der Weg zur richtigen Diagnose ist oft holprig.
Multiple Sklerose
Die Angst vor dem, was kommt
Multiple Sklerose (MS) ist eine chronischentzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems. Die Symptome reichen von Taubheitsgefühlen über Sehstörungen bis hin zu Lähmungen und chronischer Erschöpfung. Die Diagnose bedeutet oft einen tiefen Einschnitt ins Leben – so auch für Jack.
Rückblickend hat sich die MS bei mir schon in der Kindheit gezeigt“, sagt Jack. „Mit 13 oder 14 Jahren wurden meine Beine immer wieder taub. Manchmal konnte ich gar nicht mehr laufen.“ Der Kinderarzt vermutete harmlose Ursachen: einen eingeklemmten Nerv, Probleme mit dem Rücken oder einen Wachstumsschub.
Die Diagnose
2012 verschlechterte sich Jacks Zustand drastisch. „Es war so schlimm, dass meine Mutter mir aus der Dusche helfen musste, weil ich mich allein nicht mehr auf den Beinen halten konnte.“ Ein Neurologe, den sie privat kannten, hatte einen Schlaganfall im Verdacht und schickte Jack ins Krankenhaus. Dort folgten Untersuchungen, unter anderem eine Lumbalpunktion und ein MRT. Nach zwei Wochen stand die Diagnose fest: Multiple Sklerose. „Diese Visite werde ich nie vergessen. Es war morgens um sieben. Ich lag verschlafen im Bett, als eine Gruppe Ärzte hereinkam. Einer sagte: ,Sie haben Multiple Sklerose. Wir wünschen Ihnen alles Gute.‘ Dann verließen sie das Zimmer. Keine Erklärung, keine Fragen. Nur das.“ Jack war Anfang 20, und die Nachricht traf ihn unvorbereitet. „Ich hatte keine Ahnung, was MS ist. Niemand hat mir erklärt, was das für mein Leben bedeutet.“
Der emotionale Absturz
Seine Mutter, selbst in der Medizin tätig, half ihm zu verstehen, was MS ist. „Sie sagte mir, dass mein Immunsystem mein eigenes Nervensystem angreift. Dass das bleibende Schäden verursachen kann. Ich dachte: Mein Leben ist vorbei. Ich wollte die Welt entdecken, etwas aufbauen. Und plötzlich schien all das nicht mehr möglich.“ Die Zeit nach der Diagnose war geprägt von Unsicherheit, Isolation und Angst. „Ich habe mich zurückgezogen, war kaum noch unter Menschen. Ich war wie betäubt. Das Gefühl, dass nichts mehr so wird wie früher, hat mich fast aufgefressen.“
Wendepunkt durch Reha
Das Gefühl, dass nichts mehr so wird wie früher, hat mich mental sehr belastet.
im Leben stehen. Die arbeiten, reisen, lachen – trotz MS. Das hat mir gezeigt: Mein Leben ist nicht vorbei. Es wird anders. Aber es geht weiter.“
Alltag mit unsichtbaren Hürden
Ein Jahr später erlitt Jack einen erneuten Schub. „Er war so stark, dass ich wieder im Krankenhaus landete, diesmal im Rollstuhl.“ In einer schlaflosen Nacht nahm sich ein junger Arzt Zeit für ihn. „Er hat mir in Ruhe erklärt, was in meinem Körper passiert, wie die Therapie aussieht, welche Optionen ich habe. Er hat mir Mut gemacht.“ Die anschließende Reha dauerte sechs Wochen. „Der Kontakt zu anderen Betroffenen war eine riesige Hilfe. Ich habe dort Menschen getroffen, die mitten
Und doch ist der Alltag mit MS oft unsichtbar belastend. „Ich kann nicht beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn meine Freundin mir über den Kopf streichelt und ich ihre Berührung kaum spüre. Meine gesamte linke Körperhälfte ist taub. Ich spüre nicht, ob ich gestreichelt oder gekratzt werde. Meine Hand-Augen-Koordination ist gestört, und auf dem rechten Auge bin ich fast blind.“
Stigmatisierung im Alltag
Diese Einschränkungen sind für Außenstehende oft nicht sichtbar. „Ich sehe nicht behindert aus. Das führt zu vielen Missverständnissen. Neulich im Museum zeigte ich meinen Schwerbehindertenausweis an der Kasse. Die Mitarbeiterin warf mir vor,
Redaktion Emma Howe
Fotos: privat
ich wolle mir den Eintritt erschleichen. Das war demütigend. Ich habe mir meine Krankheit nicht ausgesucht.“
Der Kopf kämpft mit Was Jack besonders belastet, ist das mangelnde Wissen über MS in der Öffentlichkeit. „Es gibt Millionen Betroffene weltweit, und doch ist das Bewusstsein dafür erschreckend gering. Ich wünsche mir mehr Aufklärung. Nicht nur über die Symptome, sondern auch über die psychische Belastung.“ Denn MS betrifft nicht nur den Körper, sondern auch die Seele. „Ich habe mich lange gefühlt, als wäre ich innerlich zerrissen. In meinem Kopf herrschte eine Leere, die kaum auszuhalten war. Ich war allein, trotz Familie und Freunden.“
Jack beschreibt es so: „Multiple Sklerose wird die Erkrankung mit den tausend Gesichtern genannt. Jede MS ist anders und dennoch irgendwie gleich. Körperliche Kämpfe sind die eine Sache, doch wie der Kopf damit fertig wird, verstehen viele nicht ... Ich kann nicht beschreiben, wie es sich anfühlt, wenn ich Berührungen kaum spüren kann. Ich kann nicht beschreiben, wie es sich anfühlt, mit meinen Freunden oft nicht mithalten zu können. Ich kann nicht beschreiben, wie es sich anfühlt, beim Arzt zu sitzen und Angst zu haben, nicht ernst genommen zu werden. Ich kann nur sagen, was dadurch in meinem Kopf passiert. Die Multiple Sklerose hat mich anfangs kaputt gemacht, mich gebrochen und innerlich zerrissen. Doch ich habe etwas gelernt: Es gibt immer Menschen, die beistehen. Vielleicht sieht man sie für einen kurzen Moment nicht, doch sie sind da, nehmen dich so, wie du bist, und werden immer alles ihnen Mögliche tun, um aus einem Allein ein Gemeinsam zu machen. Wahre Liebe und Freundschaft geht über jegliche Krankheit hinaus. Darauf kann man sich verlassen, wenn man sich allein fühlt.“
Neue Wege finden
Trotz allem hat Jack einen Weg gefunden, mit der Erkrankung zu leben. „Ich habe gelernt, auf meinen Körper zu hören. Ich kenne meine Grenzen und habe gelernt, auch mal Nein zu sagen. Das war schwer, aber wichtig.“ Unterstützung fand er vor allem bei seiner Familie und seinem engen Freundeskreis. „Ich habe gelernt: Es gibt Menschen, die bleiben. Die dich nehmen, wie du bist. Die dir das Gefühl geben, nicht allein zu sein.“
Die ungewisse Zukunft
Die Angst vor der Zukunft bleibt. „MS ist unberechenbar. Auch wenn es mir aktuell gut geht, weiß ich: Ein Schub kann alles verändern. Gerade sitzt man noch aufrecht, und morgen braucht man einen Rollstuhl.“ Für Jack ist eines der größten
Probleme im Alltag die Unsichtbarkeit seiner Erkrankung. „Man sieht mir die MS nicht an, und genau das ist Fluch und Segen zugleich. Ich möchte nicht ständig auf meine Einschränkungen reduziert werden, aber es ist frustrierend, sich immer wieder rechtfertigen zu müssen.“ Das fordert viel Kraft. „Ich bin oft erschöpft –nicht nur körperlich, sondern auch emotional. Die Erschöpfung, die sogenannte Fatigue, ist ein typisches, aber kaum bekanntes Symptom bei MS. Sie ist schwer zu erklären, weil sie sich nicht durch Schlaf oder Ruhe bessert. Sie ist einfach da – lähmend, tiefgreifend, unsichtbar.“ Jack wünscht sich, dass gerade diese unsichtbaren Symptome mehr Aufmerksamkeit bekommen. „Ich glaube, das würde vielen helfen – im Alltag, im Berufsleben, im Umgang mit Behörden oder einfach im Gespräch mit anderen Menschen.“
Appell an Offenheit
Was Jack anderen Betroffenen rät: „Sprecht über eure Sorgen. Mit der Familie, mit Freunden, mit anderen Erkrankten. Holt euch Hilfe. Sich alles allein aufzuladen, macht krank.“ Er sagt abschließend: „MS hat mich viel gekostet. Aber ich habe auch viel gelernt. Vor allem: Wahre Freundschaft und Liebe gehen über jede Krankheit hinaus – für diese Erkenntnis bin ich sehr dankbar.“
Multiple Sklerose wird die Erkrankung mit den tausend Gesichtern genannt. Jede MS ist anders und dennoch irgendwie gleich. Körperliche Kämpfe sind die eine Sache, doch wie der Kopf damit fertig wird, verstehen viele nicht.
Ich musste mein gesamtes Leben neu denken. Alles umstellen. Anfangs bin ich in ein tiefes Loch gefallen.
„Ich wollte da raus –zurück auf die eigenen Füße“
Ein Gespräch mit Jürgen Aschemoor über das Leben nach dem Schlaganfall –über das mühsame Wiedererlernen des Gehens, tiefe Ängste, neue Stärke durch seine Familie und die Kraft, nicht aufzugeben.
Dieses Interview wurde in Zusammenarbeit mit umgesetzt.
Lieber Herr Aschemoor, erinnern Sie sich noch an den Moment Ihres Schlaganfalls? Ja, sehr genau. Es war ein Wintertag, ich war mit meiner Frau in der Bremer Innenstadt unterwegs. Von einem Schritt auf den nächsten konnte ich mein linkes Bein nicht mehr bewegen. Ich blieb stehen, um nicht zu stürzen. Meine Frau drehte sich um, sah mein Gesicht – und erkannte sofort den schiefen Mundwinkel. Sie rief sofort 112. Keine drei Minuten später war der Notarzt da. Ich hatte Glück.
Wie ging es danach weiter?
Ich kam sofort ins Krankenhaus. Ich konnte mich nicht mehr bewegen, lag im Bett, war auf den Rollstuhl angewiesen. Meine linke Körperhälfte war gelähmt – Arm, Bein, Hand, nichts funktionierte. Ich wurde direkt in eine Rehaklinik verlegt, wo ich Schritt für Schritt lernte, mit der neuen Situation umzugehen. Körperlich wie mental.
Was war in der Reha Ihr größtes Ziel?
Ich wollte unbedingt aus dem Rollstuhl raus.
Das war mein größter Antrieb. Ich habe in kleinen Etappen das Gehen wieder gelernt – auf dem Laufband, mit Gehstock, anfangs mit Unterstützung. Irgendwann konnte ich meine ersten Schritte allein machen. Das war ein sehr emotionaler Moment.
Gab es Momente, in denen Sie fast aufgegeben hätten?
Ja. Vor allem in der Weihnachtszeit. Ich war allein in der Reha, abgeschottet von meiner Familie. Das war schwer. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen, war depressiv. Aber ich habe mir gesagt: Jürgen, da musst du raus. Ich habe mich abgelenkt, viel telefoniert, Fernsehen geguckt – alles, um nicht zu versinken. Und ich habe andere gesehen, die es nicht geschafft haben. Das wollte ich nicht.
Wer oder was hat Ihnen geholfen?
Vor allem meine Frau. Ohne sie geht gar nichts. Sie hat mich nicht nur in der Fußgängerzone gerettet, sondern war auch später meine größte Stütze. Sie hat mich
nie bemitleidet, sondern immer ermutigt. Wenn ich sagte: „Ich kann das nicht“, sagte sie: „Versuch’s!“ Auch meine drei Söhne waren eine wichtige Hilfe. Ich hatte das große Glück, eine Familie hinter mir zu haben. Das hat nicht jeder.
Sie sprechen offen über Ihre Spastik – was bedeutet das für Ihren Alltag?
Nach dem Schlaganfall hat sich eine Spastik entwickelt – vor allem im linken Arm. Die Muskeln zogen sich ständig unkontrolliert zusammen. Mein Arm stand immer unter Spannung. Das war unangenehm, hat mich in vielen Bewegungen eingeschränkt. Ich habe verschiedene Therapien ausprobiert, Sandkastenübungen, Spiegeltherapie – bei mir hat leider nichts dauerhaft geholfen.
Wie kam es zur Behandlung mit Botulinumtoxin?
Erst zehn Jahre nach dem Schlaganfall hat mein Neurologe mir das vorgeschlagen. Ich war erst skeptisch – ein Nervengift? Aber
Foto: Ipsen
dann habe ich die Behandlung ausprobiert: zwölf Injektionen alle drei Monate, tief in die betroffenen Muskeln. Zwei Tage später wurde der Arm spürbar lockerer. Ich konnte plötzlich wieder mit der linken Hand eine Tür öffnen. Das war ein riesiger Fortschritt –und seither mache ich das regelmäßig.
Gab es noch andere Ängste, mit denen Sie kämpfen mussten?
Ja – zum Beispiel Angst vor dem Wasser. Ich war früher ein sportlicher Schwimmer, viel auf der Weser und der Nordsee unterwegs. Aber nach dem Schlaganfall konnte ich nicht mehr schwimmen. Das hat in mir eine richtige Panik ausgelöst: Was, wenn ein Schiff untergeht – alle retten sich, nur ich nicht? In der zweiten Reha habe ich das angesprochen, und eine Therapeutin hat mit mir gezielt daran gearbeitet. Heute kann ich mich wieder über Wasser halten. Das hat mir viel von dieser Angst genommen.
Wie hat sich Ihr Leben verändert – abgesehen vom Körperlichen?
Ich musste mein gesamtes Leben neu denken. Alles umstellen. Vom Autofahren – das ich nur mit Umbau und neuem Führerschein wieder durfte – bis zum Öffnen einer Flasche. Aber ich bin Ingenieur – ich finde technische Lösungen. Und ich habe Tagebuch geführt, von Anfang an. Daraus ist schließlich mein Buch entstanden: Leben nach dem Schlaganfall.
Was möchten Sie anderen Betroffenen mitgeben?
Gib dich nicht auf. Es geht nicht darum, wieder zu werden wie früher. Aber es geht darum, das Beste aus dem Neuen zu machen. Such dir Hilfe. Sprich mit anderen. Ich engagiere mich heute in einer Selbsthilfegruppe. Dort sehen wir: Kein Schlaganfall ist wie der andere. Aber jeder Mensch hat das Potenzial, seinen Weg zu finden. Und wenn ich heute andere sehe, die Hoffnung schöpfen, weil ich ihnen Mut mache – dann weiß ich: Es hat sich gelohnt, nicht aufzugeben..
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Arm- und Beinspastik
Spastik – eine Definition Spastik bezeichnet eine Bewegungsstörung mit erhöhter Muskelspannung (Steifigkeit). Sie kann lokal (z. B. Arm oder Bein), regional oder am ganzen Körper auftreten.
Typische Symptome einer Spastik
Bei einer Schädigung des Nervensystems, die zu einer Spastik führt, treten neben der Spannungszunahme der Muskulatur typischerweise weitere Beschwerden auf. Wie z. B.:
• verminderte Kraft
• eingeschränkte Beweglichkeit
• ungewollte, rhythmische Kontraktionen der Muskeln (Klonus)
• schmerzhafte Krämpfe und ruckartige Bewegungen
• Schmerzen
• eingeschränkte Koordination und Feinmotorik
• Wahrnehmungsstörungen
Die Beeinträchtigung variiert stark –von leichter Bewegungseinschränkung bis zu großen Alltagsproblemen.
So kann eine Spastik am Arm aussehen:
Durch Spastik entstehen typische Haltungs- und Bewegungsmuster, die sich meist einem der folgenden Muster zuordnen lassen. Die Übergänge sind dabei fließend:
So kann sich eine Beinspastik äußern:
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Myasthenia gravis
„Nichts ist, wie es mal war“
Als Marie Anfang 30 war, ließen Kraft, Sprache und Ausdauer plötzlich nach. Erst nach über fünf Jahren erhielt sie die Diagnose Myasthenia gravis – eine seltene Autoimmunerkrankung, bei der die Signalübertragung zwischen Nerven und Muskeln gestört ist. Im Interview erzählt sie, wie sich ihr Leben verändert hat und warum Akzeptanz manchmal der größte Kraftakt ist.
Liebe Marie, wann hast du gemerkt, dass etwas nicht stimmt?
Ich war schon immer jemand, der viel geschafft hat. Ich habe Vollzeit gearbeitet, war im Verein aktiv und habe mich um alles gekümmert. Mein Kalender war immer voll, und ich mochte es, gebraucht zu werden. Dann kam plötzlich diese seltsame Erschöpfung. Ich kam die Treppen kaum noch hoch, mein Blick verschwamm, beim Sprechen rutschten mir die Worte weg. Ich begann Sätze und wusste mitten im Gespräch nicht mehr, was ich sagen wollte. Es war, als würde mein Körper langsam, aber sicher seine Verbindung zu mir verlieren. Es fühlte sich nicht wie normale Müdigkeit an. Ich war Anfang 30 und begann, an mir selbst zu zweifeln. Vielleicht übertreibe ich. Vielleicht bin ich einfach nicht so belastbar, wie ich dachte. Ich fühlte mich oft schuldig, als würde ich meiner Umwelt nicht mehr gerecht werden. Ich wollte stark sein, aber mein Körper ließ mich immer wieder im Stich. Das war ein sehr hilfloses Gefühl.
Wie lange hat es gedauert, bis du die Diagnose Myasthenia gravis bekommen hast, und was müsste sich ändern, damit die Krankheit schneller erkannt wird? Es hat über fünf Jahre gedauert, bis ich die Diagnose erhalten habe. In dieser Zeit bin ich von Arzt zu Arzt gegangen. Viele hielten meine Beschwerden für psychisch bedingt. Manche empfahlen mir, mich mehr auszuruhen oder einfach abzuschalten. Ich fühlte mich oft
Redaktion Leonie Zell
nicht ernst genommen und manchmal sogar als Hypochonder abgestempelt. Es war eine sehr belastende Zeit, weil ich wusste, dass etwas mit mir nicht stimmte, aber niemand fand die Ursache. Erst durch einen Zufall wurde ich in einer neurologischen Ambulanz richtig untersucht. Es folgten ein Bluttest und eine Untersuchung meiner Muskelkraft. Dabei stellte sich heraus, dass meine Muskulatur ungewöhnlich schnell ermüdet. Die Diagnose lautete schließlich Myasthenia gravis. Ich war erleichtert, endlich zu wissen, was mit mir los ist, aber auch erschrocken. Plötzlich stand ich vor der Tatsache, mit einer seltenen, chronischen und unheilbaren Krankheit zu leben. Das hat alles verändert. Ich glaube, dass die Erkrankung noch viel zu wenig bekannt ist, auch unter Ärztinnen und Ärzten. Deshalb wünsche ich mir mehr Aufklärung im medizinischen Bereich und ein besseres Gespür für seltene Krankheitsbilder. Wenn bestimmte Symptome wie Muskelschwäche, Doppelbilder oder Sprechstörungen auftreten, sollte frühzeitig an Myasthenia gravis gedacht werden. Standardisierte Antikörpertests könnten helfen, die Krankheit früher zu erkennen und Betroffenen viel Leid zu ersparen.
Es
war, als würde mein Körper langsam seine Verbindung zu mir verlieren, und ich fühlte mich oft schuldig, als würde ich meiner Umwelt nicht mehr gerecht werden.
Wie hat sich dein Leben verändert?
In allen Bereichen. Ich musste mein Leben völlig neu organisieren. Früher habe ich alles unter einen Hut bekommen. Heute muss ich meine Kräfte sehr bewusst einteilen. Ich habe gelernt, Pausen zu machen, nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil mein Körper sie braucht. Es war schwer, das als Notwendigkeit und nicht als Schwäche zu sehen. Was mich am meisten getroffen hat, war der soziale Rückzug. Viele Menschen verstehen nicht, was es heißt, plötzlich nicht mehr belastbar zu sein. Ein einfaches Treffen mit Freundinnen kann zu viel sein. Ich habe oft abgesagt, nicht weil ich nicht wollte, sondern weil ich es körperlich einfach nicht geschafft habe. Manchmal war mein Gesicht so schwach, dass ich kaum sprechen
Fotos: privat
konnte. Es war mir unangenehm, mich so zu zeigen. Ich nutze mittlerweile für längere Wege einen Rollstuhl. Das hilft mir, überhaupt am Alltag teilzunehmen. Nach einer schweren myasthenen Krise im vergangenen Jahr ist vieles noch komplizierter geworden. Selbst einfache Dinge wie Einkaufen oder der Weg in meine Wohnung im zweiten Stock sind große Herausforderungen. Aktuell kann ich auch nicht mehr arbeiten, was mir sehr fehlt. Ich habe meine Arbeit geliebt. Sie hat mir Struktur gegeben und das Gefühl, gebraucht zu werden. Dazu kommt eine ständige Unsicherheit. Ich weiß nie genau, wie ich mich am nächsten Tag fühlen werde. Manchmal geht es mir morgens gut und ich mache Pläne – nur um am Nachmittag plötzlich so schwach zu sein, dass ich nicht mehr aufstehen kann. Diese Unberechenbarkeit macht es schwer, mein Leben zu gestalten oder langfristig zu planen. Ich vermisse es, spontan zu sein. Ich vermisse meine alte Energie, meine alte Unabhängigkeit.
Wie sieht deine Therapie aus und wie beeinflusst sie deinen Alltag?
Ich nehme mehrere Medikamente, die meinem Körper helfen sollen, die Signalübertragung zwischen Nerven und Muskeln zu verbessern. Die Wirkung ist nicht immer vorhersehbar. Es ist ein ständiges Austarieren und Anpassen. Manchmal habe ich das Gefühl, ständig an mir herumzuexperimentieren. Die Medikamente haben auch Nebenwirkungen. Ich bin häufig müde oder habe Kreislaufprobleme. Trotzdem bin ich dankbar, dass es überhaupt Behandlungsmöglichkeiten gibt. Die Therapie ist zu einem festen Bestandteil meines Lebens geworden. Ich plane meinen Alltag rund um die Einnahmezeiten. Ich versuche, auf meinen Körper zu hören und seine Grenzen zu respektieren. Das ist nicht immer einfach. Es gibt Tage, an denen ich mir wünsche, einfach mal ganz normal zu funktionieren. Aber ich weiß, dass ich achtsam mit mir umgehen muss. Jeder kleine Fortschritt, jede Phase mit etwas mehr Energie ist ein Erfolg. Ich habe gelernt, mich über die kleinen Dinge zu freuen. Zusätzlich bekomme ich regelmäßig Infusionen, die mein Immunsystem beeinflussen. Auch das ist mit Aufwand verbunden. Ich muss zu Terminen ins Krankenhaus oder in die Tagesklinik, und verliere damit oft den ganzen Tag. Aber es lohnt sich, wenn ich dadurch ein bisschen mehr Kraft gewinne. Ich habe gelernt, meine Erwartungen zu dämpfen und kleine Verbesserungen zu feiern, statt einem Idealbild hinterherzulaufen.
Was möchtest du anderen mit auf den Weg geben, die gerade erst mit einer seltenen Erkrankung leben lernen?
Du bist nicht allein. Auch wenn du dich manchmal so fühlst. Es gibt andere, die dich verstehen, selbst wenn sie vielleicht
nicht in deinem direkten Umfeld sind. Es ist okay, nicht zu funktionieren. Es ist in Ordnung, traurig oder überfordert zu sein. Das macht dich nicht schwach. Du bist nicht zu empfindlich. Du bist auch nicht falsch. Du bist genau richtig, so wie du bist. Ich wünsche mir mehr Verständnis und Offenheit für Menschen mit chronischen Erkrankungen. Unsere Geschichten sind nicht immer laut, aber sie sind wichtig. Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass es Mut braucht, sich verletzlich zu zeigen. Und dass echte Stärke nicht darin liegt, alles zu schaffen, sondern darin, sich selbst zu akzeptieren – mit allem, was dazugehört. Außerdem ist es wichtig, sich Unterstützung zu holen. Ob durch Selbsthilfegruppen, Online-Communities oder therapeutische Begleitung – niemand sollte diesen Weg allein gehen müssen. Für mich war der Austausch mit anderen Betroffenen ein Wendepunkt. Zu sehen, dass andere ähnliche Herausforderungen meistern, hat mir Hoffnung gegeben. Es hat mir gezeigt: Ich bin nicht die Einzige. Und das verändert alles. Manchmal reicht ein ehrliches Gespräch, um sich wieder aufzurichten. Jeder kleine Lichtblick zählt. Und auch wenn der Weg schwer ist – du gehst ihn, Tag für Tag. Das allein ist schon ein Zeichen von unglaublicher Stärke. .
Manchmal reicht ein ehrliches Gespräch, um sich wieder aufzurichten. Jeder kleine Lichtblick zählt. Und auch wenn der Weg schwer ist – du gehst ihn, Tag für Tag. Das allein ist schon ein Zeichen von unglaublicher Stärke.
Parkinson
Als Thorsten Heyer 2019 mit 41 Jahren die Diagnose Parkinson erhielt, stand er mitten im Leben. Selbstständig, erfolgreich –und wie viele: im Dauerlauf. Er stand unter konstantem Druck. Die Warnsignale seines Körpers überhörte er: „Ich hatte schon vorher gemerkt, dass meine Finger nicht mehr so funktionierten, dass ich öfter Schmerzen in der Muskulatur hatte. Aber ich habe das alles auf den Stress geschoben.“
instagram.com/ pacman_im_kopf
Mut und Neubeginn
Der Wendepunkt kam bei einem scheinbar harmlosen Besuch beim Orthopäden wegen Rückenschmerzen. „Er sagte im Nebensatz, mein Arm würde beim Gehen nicht mitschwingen. Das war der Auslöser.“ Es folgte eine nervenaufreibende Zeit zwischen Arztbesuchen und unklaren Befunden – von Schlaganfall bis Hirnverletzungen. Dann die Gewissheit: Parkinson. Heyer erinnert sich genau an den Moment in der Klinik: „Ich saß im Wartezimmer und sah die anderen Patienten – ältere Herren, die wackelig unterwegs waren. Da dachte ich nur: Das kann doch nicht sein. Ich gehöre doch nicht dazu.“ Doch genau das tat er.
Alltag im Ausnahmezustand
Seine Reaktion? Erst einmal Verdrängung. „Ich habe auf Durchzug geschaltet. Ich bin nach dem Termin sogar wieder zur Arbeit gefahren.“ Aber innerlich begann sich etwas zu verändern, und auch sein Körper sendete immer deutlichere Signale. Schmerzen, Muskelverspannungen, eingeschränkte Beweglichkeit. „Ich hatte irgendwann eine Spastik im Bein. Anfangs kam die einmal die Woche – am Ende dreimal am Tag.“ Auch die Feinmotorik ließ spürbar nach, ebenso die Sprache: „Ich habe extrem verwaschen gesprochen, als hätte ich zu viel Alkohol getrunken.“ Dazu kamen Wirkstoffschwankungen der Tabletten. Mal zu viel, mal zu wenig Dopamin: „Entweder war ich überbeweglich wie ein Hampelmann –oder ich konnte mich plötzlich gar nicht mehr bewegen, wenn das sogenannte FreezingSyndrom eintrat. Da steht man beispielsweise an der Ampel, es ist grün, aber man kann nicht losgehen …“ Alltagsdinge wurden zur Herausforderung. „Wenn man morgens aufsteht, schon eine Spastik hat, nicht mehr im Stehen duschen kann, sondern auf einen Duschstuhl muss … Oder wenn man abends weggeht und weiß: Um zehn Uhr fällt die Medikation ab –
und dann kann ich den Heimweg nicht mehr schaffen. Das macht etwas mit einem.“ Thorsten Heyer trifft eine Entscheidung.
Schluss mit dem Hamsterrad – Leben im Turm statt auf der Überholspur „Ich bin jemand, der Dinge sehr klarsieht: ja oder nein, schwarz oder weiß. Entweder Hamsterrad oder gar kein Hamsterrad“, sagt Heyer. Also entschied er sich für einen radikalen Schnitt. Er verkaufte seine Firma – eine mutige Entscheidung, auch gegenüber seinen Mitarbeitenden. „Ich wusste, wenn ich jetzt anfange zu wackeln, dann wackelt alles. Und ich wusste einfach, dass ich der Arbeit und meinen Mitarbeitern nicht mehr gerecht werden kann.“ Gemeinsam mit seinem Mann erfüllte er sich einen lang gehegten Traum: eine Reise im Wohnmobil – von 220 Quadratmetern auf zehn Quadratmeter. „Das war ein krasser Schritt. Aber auch eine richtig schöne Zeit, die wir nie vergessen werden.“
Heute lebt er in einem alten Wehrturm in Oberwesel – mit 108 Stufen. „Viele sagten: Du hast Parkinson, wie kannst du da einen Turm kaufen? Aber genau darum ging es mir: nicht mehr rational sein. Ich wollte nicht mehr fragen, was in fünf Jahren ist, sondern: Was will ich jetzt?“
Der Wendepunkt dank THS Trotz aller Lebensfreude blieb die Krankheit. Tabletten, Schmerzen und Spastiken bestimmten den Tagesablauf. Und irgendwann kam der Punkt, an dem Heyer sagte: So geht es nicht weiter. „Ich habe Medikamente gegen die Nebenwirkungen von Medikamenten genommen. Impulskontrollstörung, Depression, Schlafprobleme waren die Folge – das ist doch Wahnsinn.“ Er begann zu recherchieren – und stieß auf die Tiefe Hirnstimulation, kurz THS. Als sein Neurologe das Thema erstmals ansprach, war seine Antwort klar: „Da brauchen Sie mich nicht mehr drüber informieren
ich bin schon informiert und ich bin bereit.“ Der Weg war nicht einfach. Erste Klinikversuche scheiterten. Doch in der Uniklinik Köln stimmte alles. Die Operation verzögerte sich wegen einer Umstellung der Medikation, aber am Ende war es der richtige Schritt, denn die OP war ein voller Erfolg. „Die Stimulation war noch gar nicht angeschaltet – und ich habe trotzdem sofort eine Erleichterung gespürt. Diese ständige Muskelspannung, die sich anfühlte wie eine zu kleine, aber immens schwere Ritterrüstung, war weg.“ In der Reha wurde der Hirnschrittmacher feinjustiert. Seitdem nimmt Heyer keine Medikamente mehr.
Zwischen 13 Schafen, 108 Stufen und ganz viel Selbstbestimmung
Was er gelernt hat? Geduld. „Früher war ich sehr ungeduldig. Alles musste sofort passieren. Jetzt weiß ich: Manche Dinge dauern eben.“ Heute lebt Heyer nicht nur im Turm, sondern auch mit einer Schafherde. „Die sind am Karfreitag eingezogen. 13 Mädels.“ Polly, Harlekinchen, Bella … – er kennt jede Einzelne beim Namen. Was ihn sonst trägt? Sein Mann und sein Hund. „Ich habe gesagt: Nimm mir nie den Hund weg. Mit dem Gassigehen, da muss ich mich durchbeißen.“ Selbsthilfegruppen sind nicht seins, soziale Medien dagegen schon. „Ich mache meine Krankheit über Instagram öffentlich. Denn je öffentlicher ich bin, desto weniger muss ich mich verstecken.“ Heyer hat sich sein Leben zurückerobert –nicht trotz Parkinson, sondern mit ihm. „Ich frage mich nicht mehr, ob es wirtschaftlich sinnvoll ist. Ich mache einfach, was mir Freude macht – ich lebe!“.
Redaktion Emma Howe
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Neue Wege bei Bewegungsstörungen
Bei Zittern, Muskelsteifheit oder unkontrollierten Bewegungen kann die Tiefe Hirnstimulation (THS) neue Perspektiven eröffnen. Die moderne Therapiemethode kommt bei neurologischen Erkrankungen wie Morbus Parkinson, Dystonie oder essenziellem Tremor zum Einsatz und hat sich in vielen Fällen als wirksam erwiesen. Durch gezielte elektrische Impulse im Gehirn lassen sich krankhafte Bewegungsmuster beeinflussen und Symptome deutlich lindern. Für viele Betroffene bedeutet das nicht nur eine spürbare Verbesserung ihrer motorischen Fähigkeiten, sondern auch ein großes Stück zurückgewonnene Lebensqualität und Selbstständigkeit im Alltag.
Bewegungsstörungen sind krankhafte Veränderungen im Ablauf von Bewegungen, die häufig durch Störungen in zentralen Bereichen des Nervensystems wie dem Gehirn oder dem Rückenmark entstehen. Diese Veränderungen können sich sehr unterschiedlich äußern. Zu den häufigsten Symptomen zählen unwillkürliches Zittern (Tremor), eine krankhafte Muskelsteifheit (Rigor) oder stark eingeschränkte, verlangsamt ablaufende Bewegungen (Bradykinese). Alltägliche Tätigkeiten wie Gehen, Schreiben oder Sprechen können dadurch erheblich beeinträchtigt sein. Typische Krankheitsbilder in diesem Bereich sind Morbus Parkinson, Dystonie sowie der essenzielle Tremor – Erkrankungen, die für Betroffene mit einem hohen Leidensdruck verbunden sein können. Eine mögliche und inzwischen gut etablierte Behandlungsoption bei diesen Erkrankungen ist die Tiefe Hirnstimulation (THS). Dabei handelt es sich um ein modernes Verfahren, das auf eine gezielte Beeinflussung krankhaft veränderter Hirnaktivitäten abzielt. Über sehr feine Elektroden, die in genau definierte Regionen des Gehirns eingebracht werden, werden kontinuierlich schwache elektrische Impulse ausgesendet. Diese Impulse sollen gestörte neuronale Signale modulieren und somit die Symptome der Grunderkrankung deutlich abschwächen. Die Elektroden sind mit einem kleinen Stimulationsgerät verbunden – einem sogenannten Hirnschrittmacher, der meist unter der Haut im Bereich der Brust oder des Bauchs eingesetzt wird. Das Gerät ist von außen kaum sichtbar und in der Regel auch nicht spürbar. Sobald es aktiviert wird, berichten viele Patienten über eine spürbare Verbesserung ihrer Beweglichkeit.
Verständliche Ängste – und warum es wichtig ist, darüber zu sprechen
Die Tiefe Hirnstimulation ist ein operativer Eingriff und damit immer mit gewissen Ri-
siken verbunden. Es ist völlig verständlich, dass viele Betroffene zunächst mit Respekt oder Unsicherheit darauf reagieren. Angst ist eine natürliche Reaktion – vor allem, wenn es um einen Eingriff am Gehirn geht. Gerade deshalb ist es wichtig, Bedenken nicht zu verdrängen, sondern offen anzusprechen. Ein gut informierendes Gespräch mit dem medizinischen Team kann helfen, Ängste abzubauen, Missverständnisse zu klären und eine fundierte Entscheidung zu treffen – bei der sowohl Risiken als auch Chancen abgewogen werden.
Wann ist eine Tiefe Hirnstimulation sinnvoll?
Nicht alle Patienten mit Bewegungsstörungen sind automatisch für eine THS geeignet. Es müssen bestimmte medizinische Voraussetzungen erfüllt sein, und eine sorgfältige Abklärung durch ein spezialisiertes Ärzteteam ist unerlässlich.
Morbus Parkinson: Für viele Menschen mit fortgeschrittenem Parkinson kann die Tiefe Hirnstimulation eine wirksame Ergänzung zur medikamentösen Therapie sein – vor allem dann, wenn die Erkrankung seit mindestens fünf Jahren besteht, die Symptome aber nicht mehr ausreichend mit Medikamenten kontrolliert werden können.
Dystonie: Auch bei Dystonie kann THS helfen – insbesondere dann, wenn Medikamente kaum oder gar nicht wirken. Voraussetzung für eine Operation ist in der Regel ein Mindestalter von sieben Jahren.
Essenzieller Tremor: Viele Patienten mit essenziellem Tremor haben nur begrenzten Nutzen von Medikamenten oder leiden unter starken Nebenwirkungen. In diesen Fällen kann THS eine hilfreiche Alternative sein. Der erste Schritt ist meist eine Überweisung an eine neurologische oder neurochirurgische Spezialambulanz für Bewegungsstörungen.
Vorteile der THS
Weniger Medikamente
THS senkt die tägliche Medikamentendosis und reduziert Nebenwirkungen.1
Verbesserte motorische Symptome THS verbessert motorische Symptome nach einem Jahr um bis zu 56 %.2,3,4
Weniger Tremor
Der Tremor kann je nach Typ und Lokalisation um bis zu 70 % abnehmen.5
Bessere Beweglichkeit
Die THS führt im Tagesverlauf zu einer längeren Zeit im Zustand guter Beweglichkeit.2,3,4
Wirkungsdauer
Die THS bewirkt eine anhaltende motorische Verbesserung für mindestens fünf Jahre.5
Redaktion Leonie Zell
Wenn Erinnerungen verschwinden, aber die Liebe bleibt
Demenz ist mehr als eine medizinische Diagnose. Sie ist ein schleichender Abschied, der sich über Jahre hinziehen kann – leise, fast unmerklich und doch unaufhaltsam.
Jeden Tag geht ein kleines Stück des geliebten Menschen verloren. Nicht plötzlich, nicht sichtbar wie eine Wunde – aber tief spürbar für jene, die zurückbleiben. Für Partnerinnen und Partner, die mit jemandem leben, der ihnen vertraut ist und doch immer fremder wird. Für Kinder, deren Eltern nach und nach die gemeinsamen Erinnerungen verlieren –Geburtstage, Urlaube, Namen. In Deutschland leben aktuell rund 1,8 Millionen Menschen mit Demenz, zwei Drittel davon mit Alzheimer, der häufigsten Form. Experten rechnen damit, dass diese Zahl in den kommenden Jahrzehnten deutlich steigen wird. Schon jetzt wird ein Großteil der Betroffenen – etwa 76 Prozent – zu Hause gepflegt, meist von Angehörigen. Für sie ist Demenz nicht nur eine Krankheit, sondern ein täglicher Kraftakt. Zwischen Fürsorge und Erschöpfung, zwischen Überforderung und tiefer Zuneigung. Und inmitten all dessen gibt es sie: die flüchtigen, kostbaren Momente der Nähe, der Verbindung, des Wiedererkennens – die zeigen, dass da noch etwas ist. Jemand. Olga ist 58 Jahre alt. Vor vier Jahren bekam ihr Mann Mario (65) die Diagnose Alzheimer. Im Interview erzählt sie, wie sich ihr gemeinsames Leben verändert hat und was es bedeutet, wenn der Mensch, den man liebt, langsam verschwindet.
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Es
ist,
als würde man mit ansehen,
wie
ein geliebter
Mensch Stück für Stück geht. Sein Körper ist präsent, doch er wirkt oft fern. Und dann gibt es diese Augenblicke, in denen er mich ganz klar anschaut und sagt: ‚Du bist schön.‘ Oder einfach meine Hand nimmt. Es sind nur Sekunden, aber sie bedeuten alles. Denn sie zeigen mir: Er ist noch immer da.
Liebe Olga, wie haben Sie gemerkt, dass sich Mario verändert?
Der allererste Moment war eher seltsam als beunruhigend. Mario stand eines Morgens auf, zog sich an – Hemd, Jackett, sogar die Laptoptasche – und sagte: „Ich muss los, die Besprechung ist um neun.“ Ich war irritiert. Er war damals schon zwei Jahre in Rente. Ich sagte nur: „Mario, du arbeitest doch gar nicht mehr.“ Aber er bestand darauf. Und war regelrecht ärgerlich, als ich ihn aufhalten wollte.
Wie haben Sie das damals gedeutet?
Ich dachte, vielleicht hatte er von der Arbeit geträumt, und habe mir nichts weiter dabei gedacht. Aber dann kamen andere Dinge dazu. Er verlegte ständig Schlüssel, Briefe, Portemonnaie. Fragte mich dreimal hintereinander, wann der Müll abgeholt wird. Irgendwann sagte er, dass der Fernseher „komisch redet“. Da habe ich innerlich gespürt: Da passiert was. Und es macht Angst.
Wie kam es dann zur Diagnose?
Es war ein langer Weg. Ich habe ihn monatelang versucht zu überreden, mit mir zum Arzt zu gehen. Aber er wehrte sich. Sagte, er sei doch nicht verrückt. Ich glaube, er spürte selbst, dass etwas nicht stimmte. Erst als er einmal auf dem Heimweg zu unserer alten Wohnung in einen anderen Stadtteil gefahren ist, weil er überzeugt war, dass wir dort wohnen, hat er eingewilligt. Nach einigen Untersuchungen bekamen wir dann auch die Diagnose Demenz. Das war hart. Sehr hart. Ich kann mich noch genau an den Satz des Arztes erinnern: „Ihr Mann zeigt klare Anzeichen einer beginnenden Alzheimer-Demenz.“ Ich saß da, habe genickt, Fragen gestellt – funktioniert, wie man eben funktioniert. Erst abends, allein im Bad, habe ich zum ersten Mal richtig geweint.
Wie hat Ihr Mann reagiert?
Mario hat es nicht wahrhaben wollen. Er hat gesagt, dass sich der Arzt irren muss. Danach hat er nie wieder darüber gesprochen.
Das muss schlimm für Sie gewesen sein. Mit wem konnten Sie über die Diagnose sprechen?
Ich habe mich meiner besten Freundin anvertraut. Sie ist es auch, die mich am meisten mental unterstützt. Ohne sie wüsste ich oft nicht, wie es weitergehen soll.
Was hat sich in Ihrem Leben seit der Diagnose verändert?
Alles. Absolut alles. Es ist, als würde man zusehen, wie ein geliebter Mensch Stück für Stück verschwindet. Er ist noch da, körperlich. Aber innerlich ist er oft weit weg. Es fühlt sich an, als verliere ich ihn langsam, ohne dass er wirklich geht. Und das Schlimme ist: Es gibt kein Anhalten, kein Umkehren.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Eines Tages saß er auf dem Sofa, ganz ruhig. Ich brachte ihm einen Tee. Da sah er mich an – und fragte: „Wissen Sie, wo meine Frau ist?“ Ich habe gezuckt. Ich habe ihm gesagt, dass ich’s bin. Und er runzelte nur die Stirn und sagte: „Sie sehen ihr ähnlich.“ Das passiert leider immer öfter.
Wie organisieren Sie den Alltag?
Sehr strukturiert. Rituale geben ihm Halt. Ich schreibe Zettel: „Heute ist Montag“, „Du bist zu Hause“, „Ich bin gleich zurück“. Wir stehen jeden Tag zur gleichen Zeit auf, gehen dieselbe Strecke spazieren, essen fast das Gleiche. Sobald etwas abweicht, wird er nervös und manchmal auch aggressiv. Er hat eine Phase gehabt, da wollte er ständig weg. Einmal hat er sich angezogen, die Tür geöffnet und gesagt, er hätte einen Einsatz. Früher war er bei der freiwilligen Feuerwehr, doch das ist schon 35 Jahre her. Doch er war fest überzeugt, dass die Kameraden ihn brauchen. Ich konnte ihn kaum bremsen.
Das klingt sehr belastend. Ja, das ist es. Ich bin ständig in Alarmbereitschaft. Ich kann ihn nicht lange allein lassen. Er könnte irgendwohin laufen, sich verlaufen,
einen Herd anlassen. Ich schlafe schlecht, bin oft gereizt und gleichzeitig voller Schuldgefühle, weil ich manchmal einfach erschöpft bin.
Wie geht es Ihnen persönlich mit alldem? Ich würde lügen, wenn ich sage: Gut. Ich liebe meinen Mann, ich bin dankbar für die Zeit mit ihm. Aber ich bin auch müde. Emotional, körperlich, seelisch. Ich habe mich selbst ein bisschen verloren in den letzten Jahren. Früher war ich Olga Heute bin ich Betreuerin und Pflegerin. Darf ich ehrlich sein?
Ja, natürlich.
Manchmal liege ich nachts wach und dann denke ich: Wie lange kann ich das noch und was passiert, wenn ich nicht mehr kann? Davor habe ich Angst.
Das ist verständlich. Gibt es trotz allem auch schöne Momente?
Ja, die retten mich. Manchmal sieht er mich an, ganz klar, und sagt: „Du bist schön.“ Oder er nimmt plötzlich meine Hand. Es sind nur Sekunden, aber sie zeigen mir, dass er noch da ist. Irgendwo hinter dieser Krankheit. Und ich liebe ihn. Anders als früher, aber nicht weniger.
Bekommen Sie Hilfe?
Ja, inzwischen. Ich bin einer Angehörigengruppe beigetreten, das hat mir sehr geholfen. Dort kann man alles sagen, auch die dunklen Gedanken. Und man wird nicht bewertet. Auch ein ambulanter Pflegedienst kommt inzwischen regelmäßig. Es war ein schwerer Schritt für mich, Hilfe anzunehmen. Aber ich habe gelernt: Ich kann nur für ihn da sein, wenn ich mich selbst nicht vergesse. Das war eine der wichtigsten Lektionen. Ich wollte immer alles allein schaffen – das hat auch mit Stolz zu tun und vielleicht mit der Ehe, die wir geführt haben. Wir waren immer ein starkes Team. Aber mit der Demenz kam diese neue Realität: Ich kann das nicht allein auffangen. Ich habe gelernt, dass Liebe auch bedeuten kann, sich Unterstützung zu holen, damit man überhaupt weitermachen und für den anderen da sein kann.
Wenn Sie an die Zukunft denken – was wünschen Sie sich?
Vor allem wünsche ich mir, dass er möglichst lange in Würde leben darf. Dass er keine Angst hat, keinen Schmerz. Und dass ich die Kraft behalte, ihn zu begleiten, bis zum Ende – so, wie wir es uns einmal versprochen haben.
Was möchten Sie anderen Menschen mitgeben, die Ahnliches erleben?
Traut euch, über das zu sprechen, was euch überfordert. Lasst euch helfen. Und vergesst euch selbst nicht. Es ist okay, traurig zu sein. Es ist okay, wütend zu sein. Es ist okay, zu weinen und zu schreien. Aber es ist auch okay, zu lachen. Demenz nimmt viel – aber sie zeigt auch, wie tief Liebe wirklich reicht. Und sie lehrt uns, den Moment zu sehen. Denn manchmal ist eine einzige klare Minute mehr wert als alles, was war..
SE BRACON
Die erste Convention für Menschen mit seltenen Erkrankungen
#dubistnichtallein
Am 11. Oktober 2025 erwartet dich im AXICA am Brandenburger Tor ein besonderer Tag voller Austausch, Vernetzung und Empowerment.
Seltene Erkrankungen sind oft unsichtbar. Doch du bist es nicht! Die SEBRACON gibt Betroffenen und Angehörigen eine Bühne. In Talkshows, Workshops und offenen Gesprächen triffst du auf Menschen, die dich verstehen – und auf Experten aus Medizin, Forschung, Politik, Kultur und Medien.
Die Teilnahme ist kostenlos – vor Ort oder per Livestream. Weitere Infos und Anmeldung unter: www.lebenmit.de/sebracon