Kulturelemente #171-172: 75 Jahre Israel

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Israel – der Weg zum Judenstaat (1897– 1948)

Theodor Herzl

In diesem Jahr feiert Israel seinen 75. Geburtstag. Vor 75 Jahren, am Nachmittag des 14. Mai 1948, verlas der Führer der Zionisten, David Ben Gurion, im Museum von Tel Aviv die Unabhängigkeitserklärung für den neuen Staat Israel. Um Mitternacht trat sie in Kraft. Dies war der Endpunkt einer Entwicklung, die Jahrzehnte vorher begonnen hatte. Und zwar mit jenem im 19. Jahrhundert in Europa entstandenen Phänomen und dem Mann, der daraus die Konsequenzen gezogen hatte. Das Phänomen war der Antisemitismus, der Mann Theodor Herzl.

Herzl war 1860 in Budapest geboren, wuchs in Wien auf und wurde ein vollständig assimilierter Jude. 1884 promovierte er zum Doktor jur. und hatte die Absicht, Schriftsteller zu werden. Er wurde eine Art Kaffeehausliterat und mittelmäßiger Theaterautor. 1891 wurde er

dann aber als Journalist für die Neue Freie Presse nach Paris geschickt. Der Aufenthalt dort wurde zur entscheidenden Station in seinem Leben.

Im Dezember 1894 wurde dort ein jüdischer Hauptmann des französischen Generalstabes, Alfred Dreyfus, von einem Militärgericht der Spionage für das Deutsche Reich für schuldig befunden und zu lebenslänglicher Deportation auf die Teufelsinsel in Französisch-Guyana verurteilt. Dreyfus wurde öffentlich degradiert: sein Degen zerbrochen, seine Rangabzeichen entfernt, er selbst in Ketten abgeführt. Währenddessen schrie der anwesende Mob: „Tod. Tod den Juden.“ Herzl war über diese antisemitischen Ausbrüche entsetzt; seine Antwort auf den Antisemitismus war eine kleine, 71 Seiten umfassende Broschüre: Der Judenstaat – Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage. Im Februar 1896 lag sie in 3000 Exemplaren vor.

Richard C. Schneider erörtert Gefahren und Folgen der drohenden Entdemokratisierung Israels.

Itay Levy erkärt die Bedeutung und globale Ausrichtung der israelischen IT-Branche.

Shira Levy-Benyemini führt uns als Urbanistin durch das UNESCO Weltkulturerbe White City in Tel Aviv.

Die Ausstellung Disrupted Layer von Zohar Gotesman ist eine Auseinandersetzung mit Geschichte, Macht und Korruption in Israel.

Yahav Zohar träumt von einem demokratischen Staat mit universellen Bürgerrechten und einer Verfassung.

Jana Weissteiner will mit ihren Zeugenberichten von Palästinenser*innen den Machtlosen eine Stimme geben.

Andrea Lerda spricht mit Gabriela Oberkofler, die er zum Nachhaltigkeitsfestival Connecting Worlds eingeladen hat.

Herausgegeben von der Distel Vereinigung Nr. 171/1722023 www.kulturelemente.org info@kulturelemente.org redaktion@kulturelemente.org Poste Italiane s.p.a. Spedizione Abbonamento Postale – 70 % NE Bolzano Euro 3,50 Inhalt
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Rolf Steininger
GALERIE
Liebling Garten inspiriert von Patrick Geddes, Stadtplaner von Tel Aviv, Liebling Haus FOTO Yael Schmidt Expanding the Vessel: ein Performance-Ritual von Kineret Haya Max im Bat Yam Museum.

Schabbat

Stellen wir uns einmal folgende Szenen vor: Wir sitzen in einem hippen Café in Tel Aviv, es ist Schabbat, und sprechen mit einer Studentin. Wir fragen sie, ob wir gemeinsam Jerusalem anschauen wollen, und sie antwortet, dass dies unmöglich sei, denn Jerusalem wäre viel zu gefährlich. Stellen wir uns weiter vor, dass wir nun bereits in der Neustadt von Jerusalem sind, in einem trendigen veganen Lokal beim Yehudah Markt und mit einer Künstlerin sprechen. Wir machen den Vorschlag, in die 2 km entfernte Altstadt zu spazieren. Sie wohne zwar in Jerusalem, so die Künstlerin, sei aber nur einmal als Kind in der Altstadt gewesen, da es dort viel zu gefährlich sei. Später sitzen wir mit einem älteren Palästinenser in einem von Mormonen geführten Olivenhain nahe der Grabeskirche von Maria. Er findet, dass der 6-Tage-Krieg eine abgekartete Eroberung war. Bis heute besitze er „nur“ einen jordanischen Pass. Später fahren wir mit zwei Amerikanerinnen in ein Flüchtlingslager in der Westbank wo aus Geschosshülsen gefertigter Schmuck verkauft wird. In einem heißen Bus, aus Ramallah kommend, sitzen wir an der Mauer fest, bis schwer bewaffnete Soldaten jedes einzelne Dokument kontrolliert haben. Im streng orthodoxen Viertel von Jerusalem hingegen entdecken wir palästinensische Flaggen und fragen uns, was das nun wieder zu bedeuten hat. Die Antwort kommt rasch: Unter orthodoxen Juden glauben viele nicht an den Staat Israel, sondern nur an den Gottesstaat, und wähnen sich somit in Palästina.

Juden, Muslime, Christen, Gläubige und Nichtgläubige, wir alle haben eine tiefe Verbindung zu diesem Stück Erde. Doch Israel steckt in einer politischen, demokratischen und demografischen Krise. Obwohl das Land als die einzige Demokratie im Nahen Osten gilt, hat es keine Verfassung, denn solange die Besatzung andauert, kann diese nicht ratifiziert werden.

Die rechte Regierung möchte eine Justizreform durchbringen, die die Demokratie aushöhlen würde.

In Folge gehen seit Monaten hunderttausende Menschen – mit unterschiedlichstem Background –auf die Straße. Vor allem am Sabbat.

75 Jahre nach seiner Staatsgründung, inmitten einer entscheidenden Phase für Israel, befragen wir Menschen aus Israel zu ihrer Sicht der Dinge.

Hannes Egger / Haimo Perkmann

HERAUSGEBER Distel-Vereinigung

ERSCHEINUNGSORT Bozen

PRÄSIDENT Johannes Andresen

VORSTAND Peter Paul Brugger, Gertrud Gasser, Martin Hanni, Bernhard Nussbaumer, Reinhold Perkmann, Roger Pycha

KOORDINATION Hannes Egger, Haimo Perkmann

VERANSTALTUNGEN

PRESSERECHTLICH

VERANTWORTLICH Vinzenz Ausserhofer

FINANZGEBARUNG Christof Brandt

SEKRETARIAT Hannes Egger – 39100 Bozen, Silbergasse 15

Tel +39 0471 977 468

Fax +39 0471 940 718 info@kulturelemente.org www.kulturelemente.org

GRAFIK% SATZ Barbara Pixner

DRUCK Fotolito Varesco, Auer

LEKTORAT Olivia Zambiasi

BEZUGSPREISE Inland Euro 3,50, Ausland Euro 4,00

ABONNEMENT Inland Euro 22,00, Ausland Euro 29,00

BANKVERBINDUNGEN Südtiroler Landessparkasse Bozen

IBAN IT30 F060 4511 6010 0000 1521 300

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Südtiroler Landesregierung, Abteilung Deutsche Kultur

Die kulturelemente sind eingetragen beim Landesgericht Bozen unter der Nr. 1/81. Alle Rechte sind bei den Autorinnen und Autoren.

Nachdruck, auch auszugsweise, ist nur mit Genehmigung der Redaktion und Angabe der Bezugsquelle erlaubt.

Es war eine programmatische Schrift, mit der der moderne politische Zionismus und damit die Umwälzung in der Geschichte des jüdischen Volkes begann. Der erste Satz macht deutlich, worum es Herzl ging: „Der Gedanke, den ich in dieser Schrift ausführe, ist ein uralter, es ist die Herstellung des Judenstaates.“

Die Reaktionen auf seine Schrift waren nicht gerade überwältigend. Herzl wurde anfangs sogar verlacht und verspottet. So schrieb zum Beispiel Anton Bettelheim, ein jüdischer Landsmann Herzls, in den Münchner Allgemeinen Nachrichten vom Faschingstraum eines durch den Judenrausch verkaterten Feuilletonisten. Herzl ließ sich nicht entmutigen und arbeitete rastlos für die Verwirklichung seiner Idee, deren Prophet und Leitfigur er gleichermaßen wurde. Es begann mit der Einberufung des ersten Zionistenkongresses in Basel Ende August 1897 mit 204 Delegierten aus 16 Ländern, der die inzwischen berühmte „Basler Resolution“ verabschiedete, in der es hieß: „Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina.“ Jeder wusste, was mit Heimstätte gemeint war: ein jüdischer Staat. In Basel wurde der zionistische Weltkongress gegründet und damit ein wichtiges Ziel erreicht: die öffentliche Diskussion über den Zionismus war wieder in Gang gekommen. In sein Tagebuch notierte Herzl am 3. September 1897 jene Sätze, die später immer wieder zitiert wurden: „Fasse ich den Basler Kongress in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde, öffentlich auszusprechen –, so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es jeder einsehen.“

50 Jahre und neun Monate später gab es diesen Staat. Für viele Juden, insbesondere in Osteuropa, war Herzl ein Prophet, dessen Ruf man folgte, auch und besonders nach dessen frühen Tod 1904.

„Balfour-Deklaration“ und britisches Mandat Es wurde ein harter und beschwerlicher Weg. Die wichtigste Station war zunächst am 2. November 1917 die Entscheidung der britischen Regierung, die Zionisten beim Aufbau einer „nationalen Heimstätte in Palästina“ zu unterstützen. Das entsprechende Schreiben trug die Unterschrift von Außenminister James Balfour und ist als „Balfour-Deklaration“ in die Geschichte eingegangen. Der Völkerbund übertrug Großbritannien dann das Mandat über Palästina – mit dem Text der Balfour-Deklaration, die den Zionisten die Pforten Palästinas öffnete, wo etwa 500.000 Araber lebten. Konflikte mit Mord und Totschlag zwischen Arabern und Zionisten blieben nicht aus. 1936 begannen die Araber ihren Aufstand gegen die Briten, die 1937 die Teilung des Landes in einen arabischen und einen jüdischen Staat vorschlugen. Die Zionisten stimmten zu, die Araber lehnten ab, der Aufstand ging weiter. Angesichts des nahenden Krieges zogen die Briten Anfang 1939 die Notbremse: das berüchtigte Weißbuch bestimmte: es würde keinen Judenstaat geben, sondern einen Staat Palästina innerhalb von zehn Jahren, in dem Araber und Juden gemeinsam leben sollten. Die nächsten fünf Jahre dürften nur noch insgesamt 75.000 Juden nach Palästina einwandern. Danach würde es keine jüdische Einwanderung mehr geben.

Die Hoffnung der Zionisten ruhte von nun an auf den USA, wo seit Kriegsende der neue Präsident Harry S. Truman ihr Anliegen unterstützte. Inzwischen forderten jüdische Terroraktionen gegen die Briten in Palästina immer mehr Opfer. Ein trauriger Höhepunkt war der 22. Juli 1946, als die Terrorgruppe Irgun unter Führung des späteren Ministerpräsidenten Menachem Begin den Südflügel des bekannten King David Hotels in Jerusalem sprengte; dort befand sich das Hauptquartier der britischen Mandatsverwaltung. 91 Menschen wurden getötet. Im Februar 1947 legte Großbritannien sein Palästinamandat zurück und überließ der UNO die Lösung des Problems.

Die UNO entscheidet: zwei Staaten

Die setzte daraufhin im Mai 1947 eine Untersuchungskommission ein, die sich mehrere Wochen in Palästina aufhielt, wo es im Juli das Drama um das Flüchtlingsschiff „Exodus 1947“ mit 4515 Holocaust-Überlebenden an Bord ging. Das Schiff wurde von den Briten aufgebracht und erreichte am 18. Juli Haifa. Die Flüchtlinge durften nicht an Land und wurden später nach Hamburg zurückgebracht.

Am 31. August legte die Kommission ihren Bericht vor. Die Mehrheit empfahl die Teilung Palästinas in einen arabischen und einen jüdischen Staat, Jerusalem sollte unter internationale Treuhänderschaft kommen. Am 29. November 1947 sprach sich die UNO-Generalversammlung dann in der Resolution 181 für diese Teilung aus. 33 Länder hatten mit Ja gestimmt, das war die notwendige Zweidrittelmehrheit. Unter ihnen die USA, Frankreich und die Sowjetunion; 13 hatten dagegen gestimmt: die arabischen Staaten sowie Kuba, Griechenland Indien, zehn hatten sich der Stimme enthalten, darunter Großbritannien und China.

US-Präsident Truman hat später in seinen Memoiren geschrieben, dass in keinem anderen Fall so viel Druck und Propaganda auf das Weiße Haus ausgeübt worden sei wie bei dieser Entscheidung. Einige Stimmen wurden tatsächlich mit Geld und Boykott-Drohungen „erkauft“.

Während die Juden in Palästina auf den Straßen tanzten, gab es in Washington Bedenken gegen die Teilung. Das State Department, die Vereinigten Stabschefs und der Geheimdienst CIA fürchteten den Hass der Araber, möglicherweise eine Sperre der Öllieferungen, Schwierigkeiten mit der Durchführung des Marshall-Plans, sowjetische Penetration des Gebietes und damit eine vollkommene Destabilisierung der gesamten Region.

Die Araber lehnten den Teilungsplan ab. Der österreichische Gesandte in Kairo, Erich Bielka, wurde drei Wochen nach der UNO-Entscheidung vom ägyptischen Außenminister empfangen und berichtete nach Wien, was der ihm mitgeteilt hatte. Demnach würden Ägypten und die arabischen Staaten den Beschluss der UNO „niemals anerkennen“, da er ihre Freiheit und zukünfti-

ge Existenzmöglichkeit schwerstens gefährde. Der Außenminister wörtlich: „Es besteht kein Zweifel, dass ein jüdischer Staat, der sich ungehindert entwickeln kann, dank der ungeheuren finanziellen Unterstützung des internationalen Judentums und der kommerziellen und technischen Überlegenheit der palästinensischen

Juden in Kürze eine enorme Macht und Dynamik erhalten wird. Der jüdische Staat muss dann zweifellos bestrebt sein, sich territorial auf Kosten anderer arabischer Gebiete zu erweitern.

Außerdem werden die Juden durch ihre Übermacht und ihren internationalen Rückhalt, durch ihre Beharrlichkeit und ihre Hartnäckigkeit den Handel und die Industrie des Vorderen Orients an sich reißen und dadurch alle arabischen Staaten wirtschaftlich ausbeuten. Es ist auch zu befürchten, dass die Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina leicht als Basis für die Infiltrierung kommunistischer Ideen und kommunistischer Propaganda in den arabischen Ländern und für Zwecke des russischen Imperialismus dienen kann, wodurch die Existenz der arabischen Staaten gleichfalls im höchsten Maße bedroht würde.“ Und abschlie -

ßend: „Bevor wir langsam unsere mühsam erkämpfte Freiheit wieder verlieren und in zwanzig Jahren vielleicht als Sklaven jüdischer Herren enden, ziehen wir lieber jetzt in den Krieg und versuchen, die Entwicklung dieses Staates unmöglich zu machen.“

Bielka zog abschließend das Resümee: „Es muss damit gerechnet werden, dass Palästina in wesentlich verstärktem Maße als bisher Schauplatz blutiger Zusammenstöße und Unruhen werden wird, besonders je mehr sich die englischen Truppen zurückziehen, die in wenigen Monaten das Land vollständig geräumt haben wollen.“

Genauso kam es. Dem UNO-Beschluss folgte ein blutiger Krieg Araber gegen Juden mit furchtbaren Exzessen auf beiden Seiten.

Der neue Staat Israel

Am Freitag, den 14. Mai 1948, um Mitternacht, würde nach 26 Jahren das britische Mandat zu Ende gehen und der letzte Brite Palästina verlassen haben. Acht Stunden zuvor, um 16.00 Uhr, trat der jüdische Nationalrat unter Vorsitz von David Ben Gurion im Stadtmuseum von Tel Aviv zusammen, um die Unabhängigkeitserklärung für den neuen Staat Israel zu verlesen.

Da am Freitagabend bei Sonnenuntergang der Sabbat beginnt, musste vorher gehandelt werden. Unter einem überlebensgroßen Porträt von Theodor Herzl verkündete Ben Gurion die Errichtung des Staates Israel, kraft des „natürlichen und historischen Rechts“ des jüdischen Volkes auf Grund des Beschlusses der UNOVollversammlung vom 29. November 1947“.

Um Mitternacht gab es den neuen Staat. Genau elf Minuten später erkannte Präsident Truman in Washington Israel an, während die Armeen von Ägypten, Jordanien, Syrien, dem Irak und dem Libanon Israel angriffen und der Generalsekretär der Arabischen Liga verkündete: „Es wird ein Ausrottungskrieg und ein Massaker sein, von dem man wie von dem mongolischen Massaker und den Kreuzzügen sprechen wird.“

Um 6:00 Uhr fielen die ersten Bomben auf Tel Aviv. Die Juden waren vorbereitet und entschlossen, die Unabhängigkeit zu verteidigen. Der erste israelischarabische Krieg endete mit einem Sieg Israels, das sein Territorium um ein Drittel erweiterte.

Die Araber nennen das, was damals geschah, Nakba, die Katastrophe. Für die arabischen Bewohner Palästinas war es in der Tat eine Katastrophe. Mehr als 700.000 Palästinenser hatten ihre Heimat verloren, waren geflüchtet oder vertrieben worden.

Der neue Staat organisiert sich jetzt – in direkter Verbindung zum ersten Zionistischen Weltkongress 1897 in Basel: das Lied, das dort gesungen worden war, die Hatikwa – die Hoffnung – wurde zur Nationalhymne bestimmt; im Oktober 1948 wurde jene Flagge, die auf dem Kongress geweht hatte, zur Flagge Israels: die Farben blau-weiß mit dem Davidstern. David Wolffsohn, Herzls Nachfolger in der Weltorganisation, hatte sie für den Kongress 1897 entworfen. Er berichtete später: „Eines der zahlreichen Probleme, die mich beschäftigten, enthielt etwas von der Substanz des jüdischen Problems: Mit welcher Flagge sollen wir die Kongresshalle schmücken? [...] Wir haben eine Flagge – sie ist blau-weiß. Der Tallit [Gebetsschal], den wir beim Gebet umlegen: dies ist unser Symbol. Diesen Tallit wollten wir aus dem Beutel nehmen und ihn vor den Augen Israels und der ganzen Welt entrollen. Und so bestellte ich eine blau-weiße Fahne mit Davidstern. So entstand unsere Nationalflagge, die über der Kongresshalle wehte. Und niemand zeigte Verwunderung oder fragte, wo sie herkam oder wie sie entstand.“

1949 entschied man sich für die Menorah als das offizielle Emblem des Staates: Das uralte Symbol des jüdischen Volkes, wie es auf dem Titusbogen in Rom zu sehen ist. Die Menorah wird von zwei Olivenzweigen umrankt, die unten durch die Inschrift „Israel“ in hebräischer Schrift verbunden sind. Die Olivenzweige sind das Zeichen für die uralte Friedenssehnsucht des jüdischen Volkes. Frieden würde es allerdings nicht geben. Nach ihrer Niederlage waren die arabischen Staaten erst recht entschlossen, Israel zu vernichten.

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Lesetipp Rolf Steininger, Der Nahostkonflikt Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2005/2020. Balkon im internationalen Stil, Rückansicht, Norden, Liebling Haus FOTO Yael Schmidt Treppenhaus und Briefkästen, Dov Karmi Design, Liebling Haus FOTO Yael Schmidt

Kreativität ist eine Frage der Politik

Über Potentiale und Schwierigkeiten

Über die Potentiale und Schwierigkeiten Israels zu schreiben, ist in diesen Tagen nicht einfach. Diese Zeilen werden verfasst, während im jüdischen Staat ein politischer Richtungskampf ausgetragen wird. Noch ist nicht klar, ob es der religiösesten und rechtesten Regierung in der Geschichte Israels gelingen wird, ihre sogenannte „Justizreform“ durchzubringen. Die Absicht dieser Reform ist es, das Oberste Gericht so zu schwächen, dass es seine Kontrollfunktion über die Regierung nicht mehr ausüben kann. Da nur das Oberste Gericht in Israel einer Regierung Einhalt gebieten kann, würden die Pläne der Regierung von Premier Benjamin Netanyahu das Ende der Gewaltenteilung bedeuten. Genau das wollen seit Monaten Hunderttausende israelische Bürger verhindern. Sie wollen, dass ihr Staat eine Demokratie bleibt, eine liberale Demokratie, die Minderheiten schützt. Und kein autoritärer Staat wird, in dem die Machthaber tun und lassen können, was und wie sie wollen.

Vom Ausgang dieses Machtkampfes wird es abhängen, was aus Israel wird, vor allem: welche Potentiale es weiter entwickeln kann. Wenn man sich die 75jährige Geschichte des jüdischen Staates anschaut, kommt man eigentlich aus dem Staunen nicht heraus. Aus dem Nichts entstanden, von Menschen gegründet und aufgebaut, die als Einwanderer nach Palästina kamen, musste Israel erst einmal eine eigene Identität schaffen, vor allem musste für die Juden, die aus 120 Ländern immigrierten, ein gemeinsamer Nenner jenseits der jüdischen Identität der Diaspora gefunden werden, um diese heterogene Gesellschaft zusammenzuhalten. Dabei war die Armee ein wichtiger Faktor, eine Art Schmelztiegel, in dem alle aufeinander angewiesen waren, sich gegenseitig unterstützten und natürlich auch gemeinsam kämpften. Hinzu kam die unglaubliche Leistung, Hebräisch zu einer modernen Sprache zu machen, die jenseits des biblischen Hebräischs Worte für alle Bereiche des 20. und 21. Jahrhunderts entwickelte, die ein Niveau erreichte, das Weltliteratur hervorbrachte. All das ist eine Kulturleistung, die es so nirgends auf der Welt gib. In vielen Bereichen der Kultur hat sich längst ein typisch israelischer „Sound“ herauskristallisiert, der gleichzeitig auch Elemente der globalen Kultur übernimmt. Da ist der israelische Jazz mit seiner sehr typischen Mischung europäischer und orientalischer Klänge, da sind die israelischen Spiel- und Dokumentarfilme, die spezifische Probleme des Landes darstellen, dabei durchaus einen eigenen Erzähl- und Drehstil finden, da ist eben die Literatur, die mit Shmuel Yosef Agnon bereits einen Literaturnobelpreisträger hat und mit dem verstorbenen Amos Oz einen zweiten verdient hätte. Auch die Literatur verbindet West und Ost: Erzählstrukturen der europäischen Kultur werden mit den Erzählformen der östlichen Literatur verbunden. Ein weiteres Beispiel: der unglaubliche Erfolg israelischer Streaming- und TV-Serien und ihrer Autoren, die längst auch internationale Projekte entwickeln. Serien wie „Fauda“, „Shtisel“, „Teheran“ und andere sind inzwischen Erfolgsgaranten und ermöglichen einem Publikum

weltweit einen Blick auf Israel zu werfen, wie das vorher kaum möglich war.

Die eigentliche Kreativität Israels, sein wahres Potential, liegt allerdings im Wissenschafts- und High-Tech Bereich. Von der weltberühmten und längst überall angewendeten Tröpfchenbewässerung bis hin zu Innovationen im Bereich High-Tech, Medi-Tech, Green-Tech, Bio-Tech oder Cybersecurity – der Erfindungsgeist Israels hat die ganze Welt beeinflusst. Es gibt beispielsweise heute keinen Computer, kein technologisches Gerät ohne israelisches Know-How. Kein Wunder, dass Tel Aviv und Umgebung zum zweitwichtigsten Hightech-Hub der Welt geworden ist, gleich nach Silicon Valley. In Anlehnung daran, nennt sich der israelische Hub gern „Silicon Wadi“, mit dem arabischen Wort für Tal. Kein Wunder, dass internationale Firmen wie Intel, Microsoft, Amazon und viele andere ihre R&D-Centers in Israel haben. Sie wissen, was die israelischen Spezialisten können. Die meisten von ihnen haben ihr Handwerk in der Armee gelernt, viele von ihnen in der Intelligence- und High-Tech-Einheit „8200“, wo man eine der besten Ausbildungen weltweit erhält.

Doch man lernt bei „8200“ noch mehr. Die jungen Soldaten in der Einheit, die zu intelligentesten des Landes gehören, müssen schon mit 19, 20 Jahren Verantwortung nehmen, Einsätze überwachen, Entscheidungen treffen, die über Leben und Tod entscheiden. So werden ihre analytischen Fähigkeiten ebenso trainiert wie ihr technologisches Know-How, ihre Teamfähigkeit ebenso wie ihre Reaktionsschnelligkeit. Kein Wunder, dass diese jungen Israelis Unternehmer werden. Mehr als 70 % der Start-up Gründer in Israel kommen aus dieser Einheit. Sie verkörpern einen Spirit, der in vielen europäischen Ländern so nicht existiert. Israel selbst ist ein Start-up, wenn man so will. Es ist auf alle Fälle ein Land von Einwanderern. Und das bedeutet: Die Menschen sind es gewohnt, Risiken auf sich zu nehmen. Wer ausund einwandert, hat gar keine andere Wahl. Man ist flexibel, muss sich ständig neu erfinden, kann nicht auf einer „Tradition“ aufbauen, die einerseits Stabilität suggeriert, im Zeitalter des digitalen Umbruchs allerdings notwendige Veränderungen häufig verhindert.

Doch wird Israel auch in Zukunft von all den hier genannten Vorzügen profitieren können? Sie weiterentwickeln und weiterhin eine führende Nation im Bereich Innovation sein? Wird die israelische Kultur neue Wege beschreiten können und sich dort, wo sie vielleicht noch nicht Weltniveau erreicht hat, diesem zumindest näherkommen?

All diese Fragen sind an eine Grundsatzfrage geknüpft. Denn Kreativität, egal ob in der Kultur oder anderen Bereichen des Lebens, braucht Freiheit und Liberalismus. Sie muss Grenzen sprengen können. Ideologische, moralische, gesellschaftliche, religiöse Grenzen. Die Gefahr, dass dies nicht so bleiben könnte, ist da.

Sollten die Ultraorthodoxen, die Rechtsextremisten und die Populisten in der Regierung Netanyahu, ihren „Coup“, wie das in den israelischen Medien genannt wird, durchziehen, sollte Israel ein Staat werden, der wie Ungarn eine „illiberale Demokratie“ wird, dann dürfte sich der Trend, der jetzt schon zu beobachten ist, fortsetzen: Die Besten werden das Land verlassen. Diejenigen mit dem größten Talent, der besten Ausbildung, den besten finanziellen Ressourcen.

Die Gefahr, dass das Land intellektuell ausbluten könnte, ist groß. Benjamin Netanyahu, der eigentlich innovationsaffin ist, ein Mann, über dessen herausragender Bildung es keinerlei Zweifel gibt, treibt diesen politischen Wechsel dennoch mit aller Macht an. Viele in Israel sind überzeugt, dass er dies nur tut, um seinen Prozess wegen mutmaßlicher Korruption in drei Fällen beenden zu können. Ihm könnte im Falle einer Verurteilung Gefängnis drohen.

Wie aber kann ein Netanyahu glauben und hoffen, dass Israels Führungsrolle in vielen Bereichen der Innovation erhalten bleiben kann, wenn die Freiheit fehlt? Er mag nach Russland und China blicken und sich denken, dass auch in autoritären Regimes zumindest die digitale Technologie vorankommt. Aber tut sie das wirklich?

Hat China einen Großteil seines Könnens nicht von den USA kopiert? Wie gut ist russische Innovation wirklich?

Präsident Putin hatte vor wenigen Tagen erklärt, man würde aus erobertem Militärmaterial des Westens in der Ukraine lernen wollen, um das Wissen des Westens zu übernehmen. Doch auch wenn in solchen Ländern eigene Kreativität ebenfalls existiert, so sind beide Länder riesig, verfügen über ganz andere Ressourcen als Israel. Das kleine Israel wird sich den Braindrain allerdings nicht leisten können. Und so wird die Frage der kulturellen, wirtschaftlichen und technologischen Kreativität zu einer sehr politischen. Wie kann es auch anders sein. Die Zukunft Israels wird gerade in diesen Wochen entschieden.

Itay Levy, Gründer und Co-Gründer einiger der innovativsten IT-Unternehmen der letzten Jahre und CEO des Start-ups Identiq erörtert im Gespräch mit Haimo Perkmann die aktuelle Lage, Vorteile, Nachteile und Aussichten für Unternehmen, Startups und IT-Pioniere in Israel, das sich zu einem der gefragtesten Standorte der Branche entwickelt hat.

KULTURELEMENTE Itay, erzähle uns von uns von deinem Werdegang. Wie hat alles angefangen?

ITAY LEVY Während meines Informatik-studiums bat mich mein Bruder, ihm beim Programmieren in seinem neuen Unternehmen Trendum zu helfen. Seit meiner Kindheit ist die Zusammenarbeit in der Familie ein fester Bestandteil meiner Welt, da wir schon damals alle in dem von unserem Vater gegründeten Marktforschungsunternehmen tätig waren. Als das Unternehmen aufblühte, war es für mich selbstverständlich, eine Vollzeitstelle zu übernehmen und meinem Bruder zu helfen.

Später übernahmen wir zwei US-Unternehmen und änderten den Firmennamen in Buzzmetrics. Im Jahr 2006 verkauften wir das Unternehmen an Nielsen, wo ich bis zur Mitgründung von Appoxee im Jahr 2010 blieb. Im Jahr 2015 wurde dieses Unternehmen dann an Teradata verkauft.

Das klingt nach „ständiger Veränderung“. Was sind deine Ziele?

Ich habe seit jeher eine große Leidenschaft für Problemlösungen und eine Begabung Dinge zu bauen, darum bereiten mir die intellektuellen Herausforderungen meines Berufes große Freude. Im Laufe der Zeit habe ich jedoch festgestellt, dass der lohnendste Aspekt meiner Arbeit nicht darin besteht, bloß Lösungen zu erarbeiten, sondern darin, die Menschen um mich herum zu fördern und aufzubauen.

Es ist ein Privileg, mit klugen, innovativen Köpfen zusammenzuarbeiten, und die Förderung eines Umfelds,

in dem sie wachsen und gedeihen können, ist zu einem wichtigen Teil meines Berufsethos geworden. Der Kern meiner Arbeit liegt nicht nur in den Produkten, die wir schaffen, sondern auch in der Pflege einer Kultur des Lernens und des gemeinsamen Wachstums. Es ist eine Reise zum gemeinsamen Erfolg, die ebenso erfüllend wie herausfordernd ist.

In Europa ist es für Start-ups schwierig, ihre Gründung zu finanzieren. Wie finanzieren sich neue Unternehmen in Israel, zumal Israel keine nennenswerten wirtschaftlichen Beziehungen zu den arabischen Nachbarländern unterhält?

Leider ist diese Herausforderung für Start-ups nicht nur in Europa, sondern weltweit zu spüren. Die israelische Wirtschaft hat sich jedoch im Vergleich zu anderen Ländern in den letzten zwei Jahrzehnten systematisch weiterentwickelt. Daher haben es talentierte Teams in Israel möglicherweise leichter, bei Investoren Gehör zu finden.

Der israelische Markt ist tatsächlich nicht groß, daher sind Unternehmer gut beraten, von Anfang an global zu denken. Das ist zwar anfangs eine Herausforderung, kann sich aber, wenn man diese Hürde erst einmal überwindet, als großer Vorteil herausstellen.

Silicon Valley ist weltberühmt, aber in Israel gibt es das Silicon Wadi. Was ist das für ein Phänomen?

Ich bin kein Experte auf diesem Gebiet, aber soweit ich das beurteilen kann, ist es die Kombination aus unserer Chutzpah-Mentalität und der hohen Talentdichte. Die Technologie-Einheiten der israelischen Streitkräfte spielen eine Rolle bei der Ausbildung unserer Arbeitskräfte, während mehrere globale Unternehmen große F&E-Niederlassungen aufgebaut haben, welche die Messlatte höher legen.

Du befasst dich eingehend mit der Verarbeitung personenbezogener Daten. Datenschutz ist ein sensibles Thema in der EU. Was sind die Vorteile und Hindernisse bei Geschäftsbeziehungen zu europäischen Partnern?

Israelische Start-ups bauen ihr Unternehmen stets mit einer globalen Perspektive auf. Darum achten sie eigentlich von Anfang an auf die Einhaltung der US- und EU-Vorschriften. Die USA sind für viele Firmen natürlich ein äußerst attraktiver Markt. Einige Unternehmen finden jedoch, dass der US-Markt gesättigt bzw. überfüllt ist und bevorzugen die asiatischen und europäischen Märkte.

Meiner Erfahrung nach darf man die EU nicht als ein Land betrachten. Deutschland ist ganz anders Thema als Spanien oder Frankreich. Ein Unternehmen muss bei der Expansion in Europa strategisch vorgehen und für jede Region unterschiedliche Markteinführungsstrategien planen.

Israel hat seit Jahrzehnten mit sozialen, politischen und demografischen Herausforderungen zu kämpfen. Wie schätzt du die gesamtgesellschaftliche Entwicklung ein?

Israel war vor allem in den letzten Jahren von politischer Instabilität geprägt. Dies hat sich jedoch nicht grundlegend auf unsere Wirtschaft ausgewirkt. Wir sind immer noch die einzige Demokratie im Nahen Osten, aber es müssen Fortschritte gemacht werden. Wir brauchen mehr weibliche Führungskräfte in der Politik und müssen uns auf die Gleichstellung von Minderheiten, Araber*innen und der LGBTQ+-Community konzentrieren.

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Richard C. Schneider
Israels
gestern, heute und morgen
„Gemeinsam lernen und wachsen, das ist unsere kulturelle Herausforderung.“
Dauerausstelllung Exceptional: The White City – an Everyday Heritage Liebling Haus FOTO Yael Schmidt

Tel Avivs berühmter Stadtteil, der in Israel als Weiße Stadt bekannt ist, ist eine einzigartige Stadtlandschaft, die durch ihre zahlreichen Gebäude im Bauhaus-Stil besticht.

Die weiße Stadt von Tel Aviv

Liebling Haus

Das White City Center wurde gemeinsam von der Stadtverwaltung Tel Aviv-Yafo und der deutschen Regierung an einer historischen und kulturellen Kreuzung im Herzen von Tel Aviv gegründet. Die Aufgabe des Zentrums ist es, Architektur, Denkmalschutz und Stadtentwicklung zu fördern. Das Liebling Haus dient als urbaner Knotenpunkt für die Gemeinde und fördert den lokalen und internationalen Dialog und die Zusammenarbeit in den Bereichen Denkmalschutz und Architekturforschung, Berufsausbildung und Wissen.

Die Weiße Stadt beherbergt über 4.000 Gebäude. Die meisten von ihnen wurden in den 1930er Jahren von deutsch-jüdischen Architekten errichtet, die vor dem immer extremeren Nazi-Regime in Deutschland Zuflucht suchten. Charakteristisch für diese Architektur im Zeichen des Funktionalismus und Minimalismus sind die glatten, sauberen, weißen Fassaden sowie flache Dächer und große Fenster, die für viel natürliches Licht in den Innenräumen sorgen. Zudem wurden die Gebäude mit schattigen Balkonen und luftigen Innenhöfen dem mediterranen Klima angepasst. Im Jahr 2003 erhielt die Weiße Stadt von Tel Aviv eine besondere Anerkennung, sie wurde von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt.

Diese Anerkennung beruht auf ihrer architektonischen Einzigartigkeit, dem historischen Kontext, den sie verkörpert, und ihrer zukunftsweisenden Stadtplanung. Die bauliche Bedeutung der Weißen Stadt ist zweifach.

Erstens stellt sie eine der dichtesten Konzentrationen von Gebäuden im Bauhaus-Stil weltweit dar und hatte damit einen starken Einfluss auf die Entwicklung der modernen Architektur auf der ganzen Welt.

Zweitens sind diese Gebäude keine Einzelbauten, sondern vielmehr integrale Bestandteile einer umfassenderen städtebaulichen Vision, die den modernen Gestaltungsprinzipien der damaligen Zeit entsprach und mit den Bedürfnissen einer schnell wachsenden Stadt harmonierte.

Diese meisterliche Gestaltungsvision wurde vom ersten Stadtplan Tel Avivs beeinflusst, den Sir Patrick Geddes entworfen hatte – ein Planer und Botaniker, der 1925 nach Tel Aviv kam und die Stadt als gemeinsamen Lebensraum plante, der in der Lage sein sollte, die natürlichen Ressourcen angemessen zu verwalten.

Seine Ideen betonten die Integration von Grün- und Freiflächen in das Stadtgefüge und spiegelten damit die Ideale der Gartenstadtbewegung Garden City Movement wider. Diese Mischung aus architektonischer Gestaltung und Stadtplanung verleiht Tel Aviv ein einzigartiges Ortsgefühl und verstärkt die Einzigartigkeit des Bauhaus-Stils, wie er sich in der Stadt manifestiert.

Tatsächlich wählte er einen traditionellen Ansatz, um sich mit den neuen modernistischen Gebäuden auf

eine Art und Weise anzupassen, die angemessener und organischer für die Stadt war.

Tel Avivs unverwechselbarer Stil, der insbesondere durch die Weiße Stadt verkörpert wird, erhält allgemeine Anerkennung für seine einzigartige Anpassung an den lokalen Kontext.

Anpassung an die Umgebung: Die Architekten haben die Elemente des internationalen Stils, der ursprünglich in Europa entwickelt wurde, geschickt mit den Besonderheiten des mediterranen Klimas, den leicht verfügbaren Materialien und dem bestehenden Stadtgefüge verbunden. Auf diese Weise haben sie eine einzigartige Interpretation dieser architektonischen Bewegung geschaffen. Diese harmonische Verschmelzung zeigt sich in den Gebäuden mit schattigen Balkonen, Dachterrassen und offenen Innenhöfen – Elemente, die dem Lebensstil und den Bedürfnissen der Bewohner entsprechen und Komfort bieten, ohne das lokale Klima zu vernachlässigen.

Maßstab und Dichte Die Weiße Stadt Tel Aviv beherbergt eine außerordentlich dichte Ansammlung von Gebäuden im selben Stil, ein architektonisches Spektakel, wie man es selten anderswo findet. Die Dichte dieser Gebäude in einem kompakten Gebiet bildet eine zusammenhängende und visuell beeindruckende Stadtlandschaft. Die Einheitlichkeit der Gestaltungsprinzipien in vielen Gebäuden verstärkt die Besonderheit des Viertels und verleiht dem Stadtbild einen einzigartigen Rhythmus.

Historische Gegebenheiten: Diese Gebäude im internationalen Stil wurden in einer singulären historischen Periode errichtet, als jüdische Architekten Zuflucht vor dem Nazi-Regime in Deutschland und anderen Teilen Europas suchten. Diese Architekten brachten ihre innovativen Gestaltungsideen nach Tel Aviv und prägten die architektonische Identität der Stadt. So ist die Weiße Stadt eine greifbare, dauerhafte Erinnerung an diese historische Periode, den kulturellen Austausch und die Widerstandsfähigkeit dieser Architekten. Interessant ist, dass die Betonung des horizontalen Designs in dieser modernen Architektur stark mit den zionistischen Idealen von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit übereinstimmt. Sie wird mit egalitären Werten assoziiert und steht in krassem Gegensatz zu der hierarchischen Vertikalität, die oft in traditionellen Architekturstilen zu finden ist; sie zielt, kurz gesagt, dar-

Verantwortung und Angst

auf ab, eine Gesellschaft zu schaffen, die alle Bevölkerungsgruppen unabhängig von ihrer Herkunft einschließt. In einem symbolischen Kontext spiegelt das horizontale Design die weiten, offenen Wüstenlandschaften Israels wider.

Dieser Entwurfsansatz ermöglichte die Schaffung geplanter Gemeinschaften und Nachbarschaften und förderte das Gefühl der Zugehörigkeit und der kollektiven Identität unter den Siedlern. Dieses Gemeinschaftsgefühl entsprach dem zionistischen Bestreben, lebendige, autarke jüdische Gemeinden in Palästina zu errichten.

Einige Gründe für die Einzigartigkeit des Konzeptes der Gartenstadt:

Die klimatische Integration Das Gartenstadtkonzept trug dem mediterranen Klima der Region Rechnung, das durch milde Winter und heiße Sommer gekennzeichnet ist. Die Freiflächen zwischen den Gebäuden ermöglichten eine frische Brise und schattige Innenhöfe. Die Gestaltung von Balkonen und Dachterrassen im Freien optimiert das Leben im Freien und die natürliche Belüftung. Ziel war es, eine komfortable Umgebung zu schaffen, die dem regionalen Klima entspricht.

Gemeinschaft und sozialer Zusammenhalt: Das Gartenstadtkonzept förderte das Gemeinschaftsleben und den sozialen Zusammenhalt. Die Planung umfasste genossenschaftliche Wohnkomplexe, Gemeinschaftsräume und öffentliche Parks, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft und die soziale Interaktion zwischen den Bewohnern förderten, was für die junge jüdische Gemeinde Tel Avivs sehr wichtig war.

Integration von städtischem und ländlichem Leben: Der Gartenstadt-Ansatz strebte ein Gleichgewicht zwischen städtischen und ländlichen Elementen an und verband bebaute Gebiete mit landwirtschaftlichen Flächen, öffentlichen Gärten, Obstplantagen und Grüngürteln. Diese Verbindung spiegelte die zionistischen Bestrebungen wider, die Juden mit ihrem angestammten Land zu verbinden und die Landwirtschaft zu fördern.

Nachhaltige und autarke Entwicklung: Der Entwurf der Gartenstadt legt Wert auf Nachhaltigkeit und Selbstversorgung und zielt darauf ab, unabhängige Stadtteile zu schaffen, die nicht vollständig vom Stadtzentrum abhängig sind. Lokale Märkte, Schulen und kommunale Einrichtungen sind zu Fuß erreichbar und fördern einen nachhaltigen und ortsbezogenen Lebensstil.

Seit sechs Monaten ist Meital Katz-Minerbo jeden Samstag auf der Straße und demonstriert gegen die umstrittene Justizreform der aktuellen Regierung. Hannes Egger befragt die Künstlerin für Kulturelemente nach ihren Beweggründen und einer möglichen Lösung des Konfliktes.

Stadtplanungs-Lounge und Forschungslabor,

KULTURELEMENTE Du bist in Venezuela aufgewachsen. Wann bist du nach Israel gekommen?

MEITAL KATZ-MINERBO Geboren bin ich in Jerusalem. Meine Eltern sind aus verschiedenen Kontinenten nach Israel eingewandert und haben sich hier kennengelernt. Ein paar Monate nach meiner Geburt gingen sie allerdings nach Venezuela. Ich wurde am 20. Februar 1974, in den letzten Monaten des Jom-Kippur-Krieges geboren. Mein Vater war aus Südafrika nach Israel eingewandert und war zu jener Zeit Soldat. Meine Mutter ist gebürtige Peruanerin, aber in Venezuela aufgewachsen. In Israel arbeitete sie als Ergotherapeutin im Hadassa-Krankenhaus in Mount Scopus und kümmerte sich um die verletzten Soldaten. Der Familienlegende nach habe ihr ein Soldat mit einer letalen Wirbelsäulenverletzung meinen Namen eingeflüstert, als sie sich während ihrer Schwangerschaft im Krankenhaus nach möglichen Namen für mich umhörte.

In meinem Elternhaus wurde Hebräisch und Spanisch gesprochen und ich hatte immer das Gefühl, dass ich eines Tages an den Ort zurückkehren würde, wo ich geboren bin. Das geschah im März 1995, im Alter von 21 Jahren – einige Jahre nach Chavez‘ erstem Putsch, der den Verfall des Landes einleitete. Mit meiner Familie lebe ich nun in Tel Aviv.

Ist Tel Aviv für dich ein guter Ort, um künstlerisch zu arbeiten?

Ich liebe Tel Aviv! Die Stadt hat diesen hektischen Rhythmus, der seine Bürger*innen vor der verrückten Realität des Landes schützt. In den Neunzigern wurde Tel Aviv The Bubble genannt, was ich mir immer wie eine

von Buckminster Fuller geplante geodätische und transparente Kuppel vorstelle. Ein bisschen Sci-Fi oder Pararealitätsgefühl macht diese Stadt zu einem erstaunlichen Ort, an dem man nicht nur kreativ sein kann. Zu sagen ist aber auch, dass das Leben in Tel Aviv nicht einfach und sehr teuer ist. Der Kampf ist echt, aber es hat etwas an sich, das einen so lebendig fühlen lässt, als wäre es der letzte Tag.

Seit Monaten finden in Israel Kundgebungen und Protestaktionen gegen die Justizreform statt. Du nimmst aktiv daran teil. Worum geht es?

Vor sechs Monaten verkündete die israelische Regierung unverblümt ihre Absicht, nicht nur das Justizsystem zu reformieren, sondern auch das Land in eine Diktatur verwandeln zu wollen. Ich bekam Panikattacken und hatte Flashbacks, erinnerte mich an meine Vergangenheit in Venezuela.

An den wöchentlichen Protesten nehme ich immer teil, manchmal sogar an mehreren am selben Tag. Ich arbeite weiter und habe Kinder, um die ich mich kümmern muss, aber nicht zu den Protesten zu gehen ist keine Option, da sich dadurch meine Unsicherheit und Wut nur potenzieren – ich gehe also jeden Samstag auf die Straße, auch bei Hitze und strömendem Regen.

Fühlst du dich einer bestimmten Protestgruppe zugehörig?

Bei den Protesten sind zahlreiche Gruppen vertreten, die sich alle dafür einsetzen, dass unser Land demokratisch bleibt. Ich persönlich gehöre keiner bestimmten Gruppe an und fühle mich frei, mit allen zu protestieren, mit denen ich möchte. Es ist eine Frage der Verantwortung und eine Frage der Angst, die mich motiviert. Ich bange um die Zukunft meiner Kinder, um meine Familie, um meine Freunde und um mich als Frau. Unser Leben, wie wir es kennen, wird durch dieses religiöse und totalitäre Regime bedroht.

Wie stellst du dir die Zukunft in Israel vor?

Ich träume von einem anderen Israel: Ein Land mit einer Verfassung, die auf Offenheit für alle beruht, die zum Leben und zum sozialen Gefüge beitragen möchten. Ich träume von einer Demokratie ohne martialisches Ethos. Ich träume von einem Land, in dem Gleichberechtigung für alle umgesetzt wird, unabhängig von Religion, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit und Alter. Ich träume von einem Land, das seine Menschen respektiert und auf einem Narrativ baut, das auf Glück, Freundlichkeit und Wahrhaftigkeit beruht.

Beeinflusst die politische Situation auch deine künstlerische Arbeit? Kann Protestieren selbst ein künstlerischer Akt sein?

Die politische Situation beeinflusst mein Leben in jeder Hinsicht, sie zwingt mich, meine Zeit besser einzuteilen. In künstlerischer Hinsicht wirkt sie sich nicht auf meine Arbeit aus, denn meine Kunst hat keinen spezifischen Bezug zur politischen oder gesellschaftlichen Situation in Israel. Das Problem ist vielmehr, dass ich weniger Zeit für die Arbeit im Atelier habe.

Du fragst, ob Protestieren Kunst ist? Keine Ahnung. Ich persönlich würde meine Kunst nicht in einer Protestaktion verorten, weil ich für meine Kunst den Protest nicht brauche. Bei den Kundgebungen treffe ich aber immer wieder auf Menschen, die ihre Meinung auf sehr kreative Weise zum Ausdruck bringen. Es gibt Performances, Plakate, Slogans und Lieder, die geradezu genial sind. Ich bin mir nicht sicher, ob das Kunst ist, aber ich glaube, es ist Kreativität in ihrer besten Form! Jede Woche treffe ich mich mit meinen Freund*innen, um gemeinsam gegen diese schlimme Entwicklung zu protestieren. Eine von ihnen, Sally Krysztal, ist eine wunderbare Künstlerin und seit Jahren politisch aktiv. Sie hat eine Stoff-Version von Eduard Munchs Der Schrei angefertigt, mit dem sie seit mehreren Jahren zu Demonstrationen geht. Dieser Ausdruck der „Angst der Vielen“ ist in Israel mittlerweile berühmt.

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Liebling Haus FOTO Yael Schmidt

Vom Heiligen Land ins Heilige Land

Nir ist vor rund einem Jahr von Israel nach Südtirol gezogen, sozusagen von einem Heiligen Land ins nächste. Im folgenden Gespräch mit Hannes Egger gibt er Auskunft darüber, weshalb er das Land, in das viele Menschen seit Jahrzehnten hinziehen, verlassen hat, wie es sich in Bozen lebt und wie es mit Israel weitergeht.

KULTURELEMENTE Welchen Eindruck hast du von Bozen, wie ist das Leben hier in Südtirol?

NIR Die Stadt ist sauber und es herrscht Frieden; die Menschen sind im Allgemeinen höflich und halten eine angemessene Distanz ein. Ich genieße es wirklich fast jeden Tag. Ich kann nicht sagen, dass ich jeden Tag glücklich bin, aber es ist ein Ort, an welchem du respektiert wirst, wenn du andere respektierst. In gewisser Weise ist Südtirol auch geteilt wie Israel, aber es ist nicht in so viele Teile zersplittert. Es gibt eine klare Trennung zwischen der italienischen und der deutschen Kultur. Beide Kulturen respektieren sich. Es ist eine gute Koexistenz, die vielleicht nicht die Beste aller Möglichkeiten ist, aber funktioniert, da die Menschen die gesetzlichen Grundlagen akzeptieren. Und das Gesetz zu respektieren ist ein wesentlicher Baustein der Gesellschaft. Wenn die Leute das Gesetz respektieren, dann sind sie vielleicht nicht die nettesten Leute, aber zumindest weiß man, was man von ihnen zu erwarten hat – das ist etwas sehr Grundlegendes.

Was hat dich hierhergeführt?

Der praktische Grund, nach Bozen zu kommen, war, dass meine Partnerin, die aus der deutschsprachigen Kultur kommt, auf der Suche nach einer guten Ausbildung war, die zumindest teilweise in deutscher Sprache stattfindet. Ich hingegen spreche Italienisch, da ich ein paar Jahre im Trentino verbracht hatte, insofern war Südtirol wahrscheinlich die einzige Option in Europa. Ich bin jedoch kein typischer Immigrant im eigentlichen Sinne, denn ich arbeite als Informatiker außerhalb Italiens und importiere mein Einkommen aus Israel. Somit bin ich nicht von der lokalen Wirtschaft abhängig.

Hast du Kontakt zu anderen Israelis in der Gegend?

In Südtirol sind mir keine Israelis bekannt. Ich habe auch nicht aktiv Kontakt vor Ort gesucht. In einem guten Verhältnis stehe ich mit einem israelischen Forscher, der mit seiner Familie in Trient lebt. Wir treffen uns gerne, da wir beide manchmal unsere Art der Kommunikation brauchen, die eine völlig andere Art von Dialog ist, wie ihn die Leute hier führen. Es geht dabei viel um Nuancen, das Grundlegende ist die Sprache. Es ist eine informelle und sehr intuitive Kommunikation. Aber es gibt auch andere kulturelle Verbindungen, wir stammen beide mehr oder weniger aus derselben Generation, sind beide in den Achtzigern und Neunzigern in Israel aufgewachsen.

Hast du vor, irgendwann wieder nach Israel zu ziehen?

Es gibt keinen aktuellen Plan, nach Israel zurückzugehen. Wir werden nur dann dorthin zurückkehren, wenn unsere Familie uns dort braucht oder wenn es die politische Situation erfordert, um uns gegen die Diktatur zu stellen und die Demokratie zu schützen. Die gesellschaftspolitische Lage in Israel ist unter den Gesichtspunkten der Demokratie und der Einheit sehr kritisch zu betrachten. Der Staat ist gespalten und bewegt sich derzeit in mehrere, widersprüchliche Richtungen. Es gibt politische Kräfte, die diese Spaltung ausnutzen, um übermäßige politische und wirtschaftliche Macht zu erlangen. Das Ziel dieser Kräfte ist es, diesen Zustand als den neuen Status quo zu etablieren. Israel könnte in ein paar Jahren eine militaristische Theokratie oder etwas anderes werden, aber sicherlich nicht das, was für mich und für viele Menschen eine Demokratie ist. Mir ist an dieser Stelle wichtig, die Botschaft zu übermitteln, dass auch in einem Grenzgebiet mit Kulturkonflikten wie Südtirol die Grundprinzipien des Friedens und der Einheit mit aller Kraft bewahrt und gewürdigt werden sollen. Eine multikulturelle, zweisprachige Gesellschaft kann sehr wohl talentierte Menschen aus dem Ausland anziehen, welche zum wirtschaftlichen Wachstum beitragen.

Wie siehst du in dieser Optik das Leben in Israels?

Die Realität in Israel ist sehr dynamisch. Aber so, wie ich es sehe, führt diese Dynamik derzeit in eine immer chaotischere und gewalttätigere Richtung. Und das ist etwas, das ich in meinem Leben definitiv nie wollte. Einer der Hauptgründe für mich, das Land zu verlassen, war eine gewisse kulturelle Abkoppelung. Der israelische und mein persönlicher Weg haben sich schon vor einigen Jahren getrennt und der Abstand zwischen diesen beiden Gleisen wird immer größer, nicht nur auf politischer Ebene, es geht hauptsächlich um das tägliche Leben. Es gibt viele Nuancen, die mir das Gefühl geben, nicht mehr Teil der Kultur in Israel zu sein. In gewisser Weise habe ich angefangen, mich als Ausländer in meinem eigenen Land zu fühlen. Und wenn man sich tagtäglich so fühlt, wird klar, dass sich etwas ändern muss.

Viele Menschen in Israel verbarrikadieren sich in sozialen, wirtschaftlichen oder sozioökonomischen Blasen. Dieses überaus bunte Puzzle Israel ist also sehr zersplittert, die Gesellschaft ist nicht mehr miteinander verbunden. Das ist etwas, was ich vor allem in den letzten 20 Jahren beobachtet habe. Und es ist definitiv nicht meine Vision davon, wie eine Gesellschaft funktionieren sollte.

Dazu kommt noch die schlimme Situation der Existenzangst, das Gefühl, immer in einem beengten Raum zu leben, weil etwa die Nachbarländer nicht bereist werden können. Israel ist ein schwieriger Ort zum Leben. Man muss also immer einen gewissen Grad an Verdrängung besitzen, um dort weiterleben zu können, oder man verlässt eben das Land.

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Original Frankfurter Küche, Liebling Haus FOTO Yael Schmidt

Expanding the Vessel Ritual

„Expanding the Vessel“ ritual is a performance, an integral part of the exhibition „Don’t Say Water Water,“ which was held in May 2023 at the Bat Yam Museum of Art, Israel (Participating artists: Moshe Gershuni, Roni Hajaj, Eti Levi, Kineret Haya Max, Curator: Hila Cohen Schneiderman). The exhibition emerged at a moment when Israel entered political chaos, and the masses went out to protest in the streets - to defend or oppose democracy. Out of a feeling of helplessness, the question of how one can influence reality took root in our hearts, and with it, the understanding that physical reality is a manifestation of underground processes that constitute it. It became clear that we must enter „the cave“ and look inside in order to act through art upon reality. We had a sense of urgency to touch the delicate veins that construct the visible, and we knew that drifting into the pragmatism of the burning political moment would distance us from the source of things to which we sought to connect and act from.

One of the veins we felt the urge to look closely at is related to the sorrow for the disconnection between the entity called a „museum“ to the art, artists, and audience. We acted out of a longing to renew the connection between all these elements. The gateway to this hearts desire was the work process, and the belief that it is the one that creates the experience of meeting the actual exhibition, which will later resonate into reality. What happened in the short history of the work process will be reflected in the souls of the spectators who did not witness the creation process but the art itself. We allowed the exhibition to be woven organically, around a frequency. Like DNA, the frequency is at the same time the thing that already exists, that already transmits to us, and also what allows everything to continue to weave in and around it. Within the request to connect to the frequency, there was already a hint to one of the elements that we held, and that held us: the frequency has a vibration and a pulse, an actual physical indication; at the same time, it is invisible, and there is no way to communicate it in words. To act from a frequency means calibrating to a starting point that allows openness to any movement that arrives, as long as it is calibrated to the same frequency. We worked with chance, and opened a portal that allows everything that wishes to connect to our artistic act to arrive.

We were in tune.

The starting point of the exhibition is that art can transcend us. It has the ability to take us to the other side, to transform us into a new dimension of consciousness. We wanted to generate a work process that would emerge into an exhibition whose essence is - to allow art to act in its power. We thought of each artist as a particular entity that grows a body of work reliable for her or his uniqueness. At the same time, we nurtured the relationship between the artists, enabled common ground for mutual permeation that generates the relationship between the works of art, and eventually turned the museum itself into a unified space that the audience enters, as if into an ocean, endless water that contains all and stimulates change. The artistic act and the act of encountering it are equal to mirrors that reflect in each other to infinity.

The third additional wheel (further to reality and frequency) is a connection to what was before us, the sources, as they are known in the Jewish tradition, the Kabbalistic Jewish mysticism. The text that activated us is the Talmudic legend Four Entered the Pardes”, among the most mysterious Jewish texts. Four learned men – Elisha Ben Abuyah, Ben Azzai, Ben Zoma, and Rabbi Akiva –enter an orchard (Pardes). Entering the Pardes signifies entering Paradise, a mystic experience, a closeness to God. As with every passage through a threshold, entry involves danger. Not for nothing is the mezuzah affixed to the doorpost – an entrance demands a miracle, providence. As they are

about to enter the Pardes, Rabbi Akiva sounds a warning: „When you come to the place of pure marble stones, do not say, ‚Water! Water!“ His warning addresses the gap between the power of vision and our ability to comprehend it. Are the marble stones so pure as to seem as transparent as water? Where exactly is the gap between that which we see and that which we comprehend?

Rabbi Akiva implores his companions to refrain from trying to understand and to remain within the experience. The moment they say, if even only in their hearts, „Water! Water!“ is the moment in which they have left the Pardes and separated from the unity made possible only by their complete and full presence. Our hearts longing is to enter the museum, the abode of art, as if into a Pardes. Suspend the need to understand and open the ability to experience. Relying on this text as a gateway, and placing the connection between faith and art as an infrastructure for creation, at present, in the current state of affairs at the State of Israel; is like choosing a starting point concerning the gaping wound of society.

Expanding the Vassel Ritual was invited to create a new work of art related to the notion of expansion of the vessel. The invitation to dive into an open work process allowed my artistic act to weave itself out of itself without limitations and expectations for an artistic outcome. It led me not only to get closer to the vessel that am but also to expand it into new mediums, such as sculpture and video, which have performative qualities. Artworks whose connection with the live action is inseparable - they vibrate each other.

The first thing that was clear to me is that I am a vessel, and the museum is a vessel, and the two vessels that we are talking to each other and are thirsty to be the well of the other. The second thing that became clear is that the action I am about to do is wider than me. That am its channel, and it

should flow through me. For this, it was vital to expand all my resources to whatever the chance calls for. For about two months, I stayed in the museum, studied its character and surroundings, internalized its presence, and immersed my presence within it. When enter a space, I dont see its limitations related to my needs, but I enter the space and compare pulse. I see it. At the same time, see the people’s journey to the museum. How they park their car in a neighborhood from the 1950s. Their gaze goes to the water tower and then to the strange structure attached to it. see how for a moment, this whole experience feels almost surreal. At this point, I can already feel their doubt, like a small crack spreading within them. This physical data highlight the liminal space on the museums threshold, at the entrance, between the halls - the hall of everyday and the sacred. In fact, the two halls fulfill both roles. They are connected deeply, but part of the necessary healing concerns the transition between them and their ability to merge into each other. I dwell on this narrow transition, which needs a ritual to be made possible. A ritual is a space in which transformation takes place, and a ritual is something that makes the performative act urgent and necessary, an action with a collective interest that people want to take part in and not consume under the heading of „culture.“ The ritual was held six times throughout the exhibition.

Outdoor

My first act was to say what there is. What I see and what I dont see. Like a Tabula rasa, like a blank page, let what wants to rise to articulate itself. The content dealt with the incomprehensible relationship between the artist and the museum. Supposably they are each others home. It is clear that the museum is the artists home, but it is not clear that the artist is the museums home too. The ritual began by turning my gaze back to the museum. Im in a relationship with it, and the museum has become my extension. I see it as an energetic entity, and we close an electric circuit together. The ritual is a charging process, which would need to be released slowly.

I see a building.

I see a round building.

I see a tower.

I see a water tower.

I see a water tower attached to a round building.

I see that the second floor of the building is wider than the first floor.

I see that the water hall is wider than the tower.

I see a museum.

I dont see a museum.

I see a mermaid (Bat Yam).

I dont see a mermaid (Bat Yam).

I see a neighborhood around the museum.

I dont see a neighborhood.

I see a city around the neighborhood.

I dont see a city.

I see a country around the city.

I dont see a country.

I see a continent around the country.

I dont see a continent.

I see a world.

I see people.

I dont see people.

I see an audience.

I dont see an audience.

I see the reflection of an artist in the glass.

I dont see an artist.

I see myself.

I dont see myself.

„I see - dont see,“ opened the ritual. Through my gaze, turn the audiences gaze toward what there is. Between looking as an artistic act and the actual entry into the museum, I performed a sequence of actions whose entire essence is filling and emptying through three vessels: One, the museum - embracing the museum - being filled with it. The second is the perforated vessel: hold two identical glass vases and pour the water from the whole one into the one perforated at the bottom. Fill my lungs with air and, in one breath, while producing a sound - the letter Alef (ah) - empty all the air while the vessel is emptied from its perforated bottom. Using the liquid water poured on the floor; write in Hebrew the words „expansion of the vessel,“ which will soon evaporate.

The third is a ceramic vase of living water: standing on the museums threshold, lift and lay the vase on my right shoulder as if it becomes my head; the object and body merge. While bowing with my body, the water in the vase spills over the threshold. A stream of water flows slowly and draws a water line that separates the word „Expanding“ from the word „Vessel.“ I follow the swarm and expand with it; when the momentum of the water flow almost ends, stand and let it seep under my feet. I walk back along the line, the swarm, to the threshold.

The Entry Moment. First action: open the museum doors to a narrow width and push my body towards it. Second action: when my body is in the narrow space between the doors, spread my hands to the sides at once and open the museum doors wide.

Third action: walk backward in a movement reminiscent of paddling an oar. This sign flows the audience following me into the museum space.

Ground floor

After isolating myself, when theres me, theres a museum, and see myself only through you; I compare my pulse with the museum and those who are present in space. tap on my chest with the palm of my hand, by the tempo of a heartbeat that remains even, excluding for one moment when I direct my gaze to the statue/temple I created - a tall and narrow pillar, on top of which are two glasses of water placed one on the other. The lower one is upside down, and the upper one is full of water up to a millimeter beyond the threshold. As get closer to it, the pulse rate increases. When the beating action of the hand on the chest has become established, I move away from the center, lay the same hand on the staircase bar, and place my cheek on it. At the same pace, without patting, I reach up the stairs with my cheek caressing the bar as if placing my head on a loved one. A comforting action that allows me to listen to the pulse of the other body. In this case, the other body is the museums body.

I am - I am you are - you are I and you - we we are - we are we are - we are, they are they they are they you are they they are you I am they I am you

They, you and I - all of us all of us are all of us all of as are they all of us are you all of us are I I am all of us.

The mezzanine floor

I stand at the top of the stairs, turn to the audience on the entrance floor, and say the text: „I am - I am.“ The transition from the previous text that ended with „I dont see myself“ to a text that ends with „I am all of us“ assists the audience to perceive that the artist is a symbolic being; she does not represent herself. The moment I give up the need or the possibility to see myself and, in the same breath, acknowledge that „I am all of us“ become a channel for what flows through me. I invite the audience to connect to their own personal humanity. This dimension binds the personal and the universal together.

Dont say water, water what if, what if mama, mama fear, fear

Himma

Hey, what water, water

* performed this text in Hebrew. All the words that come out of the word water (Maim) have phonetic similarities, meaning that the ear hears the same word, almost, with a slight change and a completely different meaning than appears here in the translation.

Upper Level

I begin to circle the museum space, this time from the inside. I surround the audience that remains on the ground floor from above while singing over and over as a hymn the sentence: Do not say Water Water. The museum is my resonance box. The sound floods the circular space and sinks down to the listeners. As get closer to the wall, the vibration of the space gets stronger, and I feel the space responding to my voice. repeat the sentence, all its particles drop off, and I am left with only the word „water.“ As repeat the word, it deconstructs and reconstructs consonant by a consonant - first to „Ma Im“ (what if), then into the word „Ima“ (mother), and finally reveals itself as „Ey Ma“ (fear). „Water“ is similar to an atom - it contains the DNA of everything. Water is everything, and Mother is the source of everything. The question „what if?“ already contains the fear of what will follow and shifts to „Himma“ which is the power of the imagination, the constant notion between the „Ey“ (where) and the „Ma“ (what) - the past and the future.

As the charging notion is complete, I must return to the endless circular movement. A cluster of glasses is lying on the museums floor. Glass is the most everyday characterization of a vessel. It has a closed-end, receptacle, and an open side that allows drinking and pouring. While repeating the word „Hi-mma“ I start rolling the glasses around their axis. The glass rotating on the floor in circles unloads all that was charged within it. The multiplicity of spinning glasses produces sound. A sound of fragility that begins with a single glass and multiplies to infinity, like a thin and eternal glass. move quickly between the glasses, running, trying to keep them in motion, rolling them repeatedly with a light patting into their already whirling movement. The result of my actions is a vigorous exhaustion of my physical abilities to carry out this action and the ritual. The exhaustion of the body gives rise to thirst and silence. The thirst brings me back to the word water. head down to the ground floor; the audience is gathering around the bar of the museums upper level looking at me as walk. I stand in the center of the space, raising my head to the audience, repeating and asking with pursed lips and without a sound: „water, water, water.“ Water is no longer my need; now, it is our need. The need of all of us - me, those present, the space. All of us. A human need.

Macht, Korruption, Kontrolle, Beziehung zwischen Natur und Mensch

Ein Gespräch mit dem Künstler Zohar Gotesman und den Kuratorinnen Sally Haftel Naveh und Tali Sharvit über die Ausstellung „Disrupted Layer: Zeitgenössische Kunst von Zohar Gotesman im Archäologieflügel“ im Israel Museum in Jerusalem.

HANNES EGGER Ihr habt in die archäologische Sammlung des Israel Museums eingegriffen, indem ihr sieben zeitgenössische Skulpturen in der Dauerausstellung platziert habt. Was hat euch zu dem Projekt inspiriert?

ZOHAR GOTESMAN Schon als Kind habe ich mich für Archäologie und Kunst interessiert. Darum studierte ich zunächst Archäologie und Kunstgeschichte. Nach drei Jahren entschied ich mich, eine Kunstakademie zu besuchen, aber die Archäologie war stets im Hinterkopf. Darum hat das Archäologiestudium wohl meine künstlerische Arbeit beeinflusst. 2017 besuchte mich Sally Haftel Naveh in meinem Atelier. Ich erzählte ihr von meinem Traum, mit der außergewöhnlichen Sammlung des Israel Museum zu arbeiten und sie zu erforschen. Wir traten an Tali Sharvit heran und so begann ein langer Prozess der Zusammenarbeit.

SALLY HAFTEL NAVEH Es ist faszinierend zu sehen, wie sehr sich zeitgenössische israelische Kunstschaffende mit Archäologie beschäftigen. Aber Zohar ist zweifellos der prominenteste und herausragende in diesem Bereich. Schon zu Beginn seiner Karriere hat er seine Werke auf vielen verschiedenen Ebenen mit Archäologie und Kunstgeschichte in Verbindung gebracht. Wir haben diesen Ausstellungsvorschlag für das Museum vorbereitet. Auf der einen Seite wollten wir einen sinnvollen Dialog mit der Sammlung schaffen und auf der anderen Seite wollten wir uns einmischen. Das Erstaunliche ist, dass der archäologische Flügel schon seit vielen Jahren davon geträumt hat, zeitgenössische Kunst zu beherbergen, also kam unser Vorschlag zur rechten Zeit. Als wir unseren Vorschlag präsentierten, wurden uns gewissermaßen alle Türen geöffnet. Nachdem der Vorschlag genehmigt wurde, begann ein erstaunlicher, knapp sieben Jahre währender Prozess.

TALI SHARVIT Mich trieb die Neugierde an, denn ich lernte Zohars Arbeit kennen und sah, wie er Altes mit Neuem, Traditionelles mit Zeitgenössischem und Weltliches mit Heiligem mischt, wie er Dinge aus verschiedenen Welten nimmt und sie einfach zusammenfügt. Ich war neugierig zu sehen, wie er diese Art seiner Arbeit auf unsere Museumssammlung überträgt.

Tali, du bist die Assistentin des Chefkurators der archäologischen Abteilung im Israel Museum Was macht die Archäologie in Israel so besonders?

TALI SHARVIT In Israel gibt es so viele archäologische Stätten, dass man auf Schritt und Tritt etwas aus einer anderen Kultur, aus einer anderen Zeit findet. Es ist nicht nur die Archäologie des Heiligen Landes, der

Wiege der drei monotheistischen Religionen, es ist mehr; es ist der Ort, an dem viele wichtige Errungenschaften in Bezug auf Material, Techniken und Denken gemacht wurden. Im Israel Museum nimmt die Archäologie einen großen Bereich ein. Wir erzählen die Geschichte der Völker, die hier in Israel gelebt haben, und jene der benachbarten Kulturen, mit denen wir Beziehungen hatten. Archäologie ist ein Weg, Menschen zu verstehen, und genau das tut Zohar mit seiner Arbeit. Er nutzt die Archäologie, die antiken Artefakte, um etwas über Menschen und die Menschheit zu sagen.

Habt ihr mit eurer Intervention die Narration des Museums verändert?

SALLY HAFTEL NAVEH Die ganze Idee war, die zeitgenössischen Kunstwerke auf eine Weise in die Sammlung zu integrieren, dass sie als Teil der Sammlung wahrgenommen werden, als wären sie selbst archäologische Objekte. Deshalb haben wir das Design und die Struktur der Sammlung beibehalten. Auf den ersten Blick erkennt man nicht wirklich, dass es sich um zeitgenössische Kunst handelt. Aber auf den zweiten Blick sieht man, dass es sich um etwas Zeitgenössisches handelt. In der permanenten Sammlung wird eine Zeitleiste von anderthalb Millionen Jahren präsentiert, und wenn man darin eingreift, stört man zwangsläufig und ist gezwungen, die Geschichte zu überdenken. Wir wollten hier tatsächlich für Verwirrung sorgen und mit den Arbeiten dazu anregen, über die heutige Situation der Menschen nachzudenken. Durch diesen Eingriff verändert sich die Geschichte der Galerie, zum Beispiel mit dem Werk „Good Morning Sunshine“ in der prähistorischen Galerie.

ZOHAR GOTESMAN In dieser Galerie gibt es viele Grabbeigaben, die sich mit der Entwicklung des Verhältnisses zwischen menschlicher Kultur und Natur befassen.

Zum Beispiel ein Mensch mit einem Hirschgeweih in seinem Grab oder der erste Beweis für die Domestizierung eines Hundes, der mit einer Frau begraben wurde, und die Überreste eines schamanischen Bestattungsrituals einer Frau mit vielen wilden Tieren. Mein Vorschlag für die prähistorische Galerie war eine Kalksteinskulptur, ein menschliches Fossil, umgeben von verschiedenen Schädeln von Tieren, die heutzutage vom Aussterben bedroht sind. Dies spiegelt die aktuelle Zeit wider. Die Skulptur befasst sich mit dem Prozess, der vor Millionen von Jahren begann, und im heutigen Verhältnis von Mensch und Natur kulminiert.

Mit „Final Escape“ stellst du einen antiken Königsthron aus. Seine Form erinnert an den Schleudersitz eines F-35-Kampfjets. Was willst du uns damit sagen?

ZOHAR GOTESMAN Das Werk ist in der Galerie „Israel und die Bibel“ ausgestellt. Die Objekte in der Galerie beziehen sich auf die Geschichte des Aufbaus dieser Nation. Es ist ein sehr interessanter Ort und ich habe diese Skulptur in die Mitte des Raumes gestellt. Gleich dahinter befindet sich eine Vitrine mit Elfenbeineinlagen, Überreste von Möbeln. Diese Stücke wurden in Samaria gefunden und gehörten zum Königshaus des alten Israel. Der Prophet Amos erwähnte diese Gegenstände als Symbole der Verderbnis.

Wir haben gründlich recherchiert, wie der alte Thron des Königs von Israel zu biblischen Zeiten aussah. Ich habe ihn als Schleudersitz eines F-35-Kampfjets entworfen, einem modernen Machtsymbol. Auf diese Weise gebe ich einige Hinweise darauf, was heute in der Gesellschaft passiert, und der Subtext der Skulptur bezieht sich auf eine Unheilsprophezeiung.

Wie hat sich die Ausstellung entwickelt?

SALLY HAFTEL NAVEH Es ist wirklich interessant zu sehen, wie sich jedes einzelne Kunstwerk entwickelt hat. Ausgelöst durch viele verschiedene Ebenen, sei es ein bestimmter Gegenstand, seine Form, sein Material oder seine Funktion, oder die verschiedenen Erzählungen, die in den verschiedenen Galerien des archäologischen Flügels präsentiert wurden, warfen die Arbeiten Fragen zu vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Zeiten auf. Um diesen tiefgreifenden Dialog zu schaffen, mussten die Kunstwerke vor Ort, in den Galerien selbst präsentiert werden.

Jedes Werk ist das Ergebnis eines vielschichtigen Dialogs, sei es in Bezug auf das Objekt, das Material oder die Themenkreise, die mit vielen Fragen einhergehen. Das ist einer der Gründe, warum die Ausstellung hier an diesem Ort stattfinden musste, um all diese Fragen zu stellen und die Unterschiede zu verdeutlichen.

TALI SHARVIT Die Ausstellung nimmt die Besucherinnen und Besucher mit auf eine Reise und bringt ihnen eine andere Sichtweise nahe; manchmal ist sie kritisch, ironisch oder humorvoll. Das ist für unser Publikum eine andere Ebene des Kontakts mit den Objekten. Ich glaube, sie sind es gewohnt, unsere Ausstellung auf eine bestimmte Art und Weise zu betrachten und die Erzählung auf eine bestimmte Art zu lesen. Wir konnten aber auch Menschen, die sonst nicht in die Archäologie-Ausstellung gehen, in diesen Teil des Museums bringen –und das ist wunderbar.

75 Jahre Israel Seite 13

Zum 75. Jahrestag der israelischen Militärregierung

„Der Staat Israel wird der jüdischen Einwanderung und der Sammlung der Juden im Exil offenstehen. Er wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestützt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben.

Rund drei Kilometer vom Kunstmuseum Tel Aviv entfernt, wo David Ben Gurion seine berühmte Erklärung abgab, trieben am Morgen des 14. Mai 1948 jüdische Milizen die verbliebenen Einwohner von Jaffa zusammen und brachten sie in einen Teil des Ajami-Viertels. Am selben Tag, an dem in Tel Aviv der jüdische Staat ausgerufen wurde, entstand also in Jaffa ein arabisches Ghetto, und neben der jüdischen Demokratie gab es von Anfang an auch eine Militärregierung für die Palästinenser.

Tags zuvor hatte Jaffa nach monatelangen Kämpfen kapituliert. Von den 75.000 arabischen Einwohnern vor dem Krieg waren nur noch etwa 3.000 übriggeblieben, die zusammen mit anderen aus den umliegenden Dörfern in Ajami konzentriert wurden. Daraufhin wurde das Viertel mit Stacheldraht umzäunt. Die Kanonen, die von Tel Aviv bis nach Jaffa geschossen hatten und die Menschen dazu brachten, auf dem einzig verbliebenen Weg, nämlich mit dem Boot, zu fliehen, waren endlich verstummt, sodass alle, die sich vor dem Museum versammelt hatten, über eine improvisierte Lautsprecheranlage Ben Gurion deutlich hören konnten:

„[Der Staat Israel] wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen. Er wird

Glaubens- und Gewissensfreiheit, Freiheit der Sprache, Erziehung und Kultur gewährleisten, die Heiligen Stätten unter seinen Schutz nehmen und den Grundsätzen der Charta der Vereinten Nationen treu bleiben.

(…)

Wir wenden uns - selbst inmitten mörderischer Angriffe, denen wir seit Monaten ausgesetzt sind - an die in Israel lebenden Araber mit dem Aufrufe, den Frieden zu wahren und sich aufgrund voller bürgerlicher Gleichberechtigung und entsprechender Vertretung in allen provisorischen und permanenten Organen des Staates an seinem Aufbau zu beteiligen.“

Etwa 750 000 Palästinenser wurden 1948 vertrieben und durften nie mehr zurückkehren. Die in Jaffa und anderswo verbliebenen Palästinenser wurden einer Militärregierung unterstellt, die ihre zivilen, gesellschaftlichen und politischen Rechte einschränkt. Palästinensische Häuser und Ländereien außerhalb der Ghettos wurden vom Staat beschlagnahmt und mit jüdischen Einwanderern besiedelt.

Mitte der 1960er Jahre, als die jüdische Mehrheit gesichert war, wurde die Militärregierung schrittweise gelockert, zunächst in den Städten und dann auf dem Land, und am 12. Dezember 1966 offiziell aufgelöst (obwohl einige ihrer Befugnisse, die die Freiheiten der arabischen Bürger einschränkten, immer noch bei der Abteilung „Minderheiten“ der Polizei und dem Shin Bet lagen). In 75 Jahren gab es nur sechs Monate lang keine israelische Militärregierung, doch im Juni 1967 eroberte Israel das Westjordanland und den Gazastreifen. Dieses Mal dauerte der Krieg nicht Monate, sondern Tage, und obwohl das Militär versuchte, die Bevölkerung zu vertrei-

ben, blieben etwa eine Million Menschen zurück, viele von ihnen Flüchtlinge aus den 1948 eroberten Gebieten. Diese Menschen wurden nun einer neuen und größeren Militärregierung unterstellt.

Wo zuvor die Militärregierung in isolierten Gebieten innerhalb des demokratischen Israels existierte, war im Westjordanland die Militärregierung die Regel, und das israelische Zivilrecht galt nur für die jüdischen Siedler, die dort einzogen. Wenn die Militärregierung auf Widerstand stieß, reagierte sie mit ausgeklügelten Systemen der kollektiven Bestrafung, Ausgangssperre und Belagerung. Neben dem demokratischen System für seine Bürger entwickelte Israel ein riesiges geheimes Polizeisystem, um die Palästinenser mittels Überwachung, Denunziantentum und Folter zu kontrollieren. Heute leben zwei Millionen Menschen im Gazastreifen unter israelischer Belagerung, mit Drohnen im ständigen Überflug und vollständiger militärischer Kontrolle ihres Luftraums und ihrer Grenzen. Währenddessen finden sich im Westjordanland Reservate mit begrenzter palästinensischer Autonomie, die von Militär und Siedlungen umstellt sind.

An ihrem 75. Jahrestag spricht fast niemand in der israelischen Politik über die Beendigung der Belagerung des Gazastreifens oder der Militärregierung im Westjordanland. Was einst als vorübergehende Maßnahme betrachtet wurde, ist heute eine grundlegende (wenn auch nicht oft erwähnte) Tatsache des israelischen Lebens. Stattdessen ist die derzeitige israelische Regierung, der mehr Siedler aus dem Westjordanland angehören als je zuvor, bestrebt, Elemente der Militärregierung aus dem Westjordanland in den Rest des Landes zurückzuholen, die Grenzpolizei und den Shin Bet zurück nach Ajami und in andere ähnliche Orte zu bringen, in denen noch palästinensische Bürger Israels leben. Die Verfassung, die laut Ben Gurion von der gewählten Versammlung spätestens am 1. Oktober 1948 angenommen werden sollte, wurde nie geschrieben, geschweige denn angenommen, und das tatsächlich eingeführte System enthielt nur sehr wenige Kontrollmechanismen, sodass die gesamte Macht bei der parlamentarischen Mehrheit und der von ihr gebildeten Regierung liegt.

Weitere autoritäre Befugnisse ergeben sich aus dem 1948 verhängten Ausnahmezustand, der jährlich von der Knesset verlängert wird.

Liberale und säkulare Israelis, die gegen die derzeitige Regierung protestieren, berufen sich häufig auf die in der Unabhängigkeitserklärung verkündeten Ideale. Bei genauerer Lektüre gibt es jedoch wenig, was ihre Behauptungen stützt. Die hier zitierten Absätze sind nur ein kleiner Teil eines größeren Dokuments, das sich fast ausschließlich mit der Begründung des absoluten rechtlichen und historischen Rechts des jüdischen Volkes auf die Kontrolle über das Land Israel befasst. Es steht dort nichts über die Einschränkung der Macht der Regierung, noch wird das Wort Demokratie erwähnt. Deklariert wird dagegen klar und deutlich „...das natürliche Recht des jüdischen Volkes, Herr seines eigenen Schicksals zu sein“.

Was aber geschieht, wenn dieser jüdische Staat auch über Nicht-Juden herrscht? Er regiert in Form einer Militärregierung. Und da Israel nicht vorhat, seine Kontrolle über die Palästinenser oder das Prinzip des jüdischen Staates – unabhängig vom Ausgang der derzeitigen innerisraelischen politischen Umwälzungen –aufzugeben, wird die Militärregierung bestehen bleiben.

Sie ist ein grundlegendes Merkmal des demokratischen jüdischen Staates.

Der Kampf dagegen ist nicht der Kampf für die von Ben Gurion vorgeschlagenen Ideale, sondern für die Abschaffung des Prinzips eines Staates, der einer ethnischen Gruppe gehört und nicht allen, einer Gruppe von Bürgern, nicht jedoch den anderen. Das Ergebnis könnte ein neuer, wirklich demokratischer Staat sein, der ein „Staat aller seiner Bürger“ wäre, mit universellen Bürgerrechten und einer echten Verfassung, die vielleicht wirklich auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden beruht, wie es die Propheten Israels vorgesehen haben.

Walk About Love

Der Israel National Trail ist wohl einer der spannendsten Fernwanderwege der Welt. Der Long Distance Trail verläuft quer durch das ganze Land, von den Golanhöhen in Nordisrael, vorbei am Toten Meer, durch die Wüste bis nach Eilat am Roten Meer. Unternehmer, Reise- und Wanderführer Rea Pasternak erzählt uns, was dieser Weg mit Frieden und Liebe zu tun hat und wie er auf die Idee kam, den Walk About Love entlang des nationalen Fernwanderweges von Israel zu beginnen.

Im Sommer 2006 kam der leidenschaftliche Wanderer Rea Pasternak auf die Idee, er müsse wandernd ein Zeichen gegen den Hass setzen. Diese Vision hatte er allerdings nicht in Israel, sondern während eines Aufenthaltes in Sydney in Australien. Er kehrte nach Israel zurück. Die Idee, einen Friedensmarsch durch umkämpftes Gebiet zu machen, war schnell in die Tat umgesetzt, nach dem Motto: „1.000 Kilometer, 100 Tage, eine Liebe.“

Menschen aus der ganzen Welt sollten kommen, um gemeinsam auf eine unglaubliche Reise zu gehen, quer durch Israels vielfältige Landschaft, grüne Wälder, Strände, Meere und Wüsten. „Mein Leben – sagt Rea rückblickend – hat sich in diesem einen Moment der Vision völlig verändert.“

„Ich sitze im Wohnzimmer meiner Tante und plane meine nächsten Tage in Australien, während ich im Hintergrund die Nachrichten im Fernsehen höre. Aus den Augenwinkeln heraus sehe ich die Bilder: Israelische Soldaten sind im Zweiten Libanon-Krieg wieder einmal in Gefechte verwickelt. Es sind schreckliche Szenen.

Bei Gesprächen mit meiner Familie in Israel, Tausende von Kilometern entfernt, erfahre ich, dass ich zum Armeedienst einberufen wurde. Und noch schlimmer ist, dass ein Freund aus meinem Dorf in Israel schwer verwundet wurde. Gedanken rasten mir durch den Kopf –nicht schon wieder! – Noch ein Krieg? Wird das jemals enden? – Was kann ich tun, um die Situation zu ändern?

– Wie lässt sich Hass in Liebe verwandeln?

Ich begann mir vorzustellen, dass anstelle von Soldaten Rucksacktouristen, anstelle von Waffen Musikinstrumente und anstelle von Hass und Zerstörung eine Fülle von Brüderlichkeit und Liebe die Trauer und Verzweiflung durch Freude und Hoffnung ersetzen würden.

Und so wurde aus einer Vision eine Idee geboren –Menschen aus der ganzen Welt zusammenzubringen, um im Land der endlosen Konflikte eine Reise des Miteinanders, der Liebe und der Toleranz zu erleben. Das ist mein Beitrag zum Frieden auf der Erde.“

Was ist das Besondere an dem Israel National Trail ?

REA PASTERNAK Wir durchqueren auf dieser Strecke vier verschiedene Wüsten und Wüstengebirge: das Eilat Gebirge, die Arava Wüste, die Negev Wüste und die Judäische Wüste. Ebenso sehen wir vier Meere: den See Genezareth, das Mittelmeer, das Tote Meer und das Rote Meer. Das Panorama ändert sich auf dieser Wanderung jeden Tag. Es ist ein kurzer Flug von Europa, das Wetter ist großartig und im Gegensatz zu langen Trecks um die Welt durchqueren wir hier das ganze Land Israel in zwei Monaten!

Was hat dich dazu inspiriert, die zweimonatige Tour de Force Walk About Love zu nennen?

Inspiriert wurde ich von der Kultur der australischen Ureinwohner, die der Meinung sind, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens das ganze Land bereisen sollte. Sie sagen, dass ein Mensch in die Pubertät kommt, wenn er den Ruf der Natur spürt. Er begibt sich auf eine Reise der spirituellen Reifung und verlässt seinen Stamm für eine längere Zeit, bis er die Erleuchtung erlangt. Nach diesem „Walkabout“ kehrt er als besserer Mensch zu seinem Stamm zurück. Um Antworten auf sein Leben zu finden, begibt sich ein Ureinwohner also auf eine spirituelle Reise, verlässt seinen Stamm und kehrt zurück, sobald er die Antwort, oder Antworten, erhalten hat.

Als ich mein Projekt zum ersten Mal im Kopf plante, ging ich an den Strand, um den Sonnenuntergang zu beobachten, und traf ebendort zwei Ureinwohner, ein Paar. Ich sprach mit den beiden. Ich erzählte ihnen, dass meine Idee darin bestand, Menschen aus der ganzen Welt nach Israel zu bringen, um mit Israelis im Land Israel auf eine lange Reise gehen, um Veränderungen zu bewirken. Der Mann lachte und sagte: „Du machst einen Walkabout “, und die Frau sagte: „Du machst einen Walkabout der Liebe“. Und so heißt es nun.

Die Teilnehmer*innen sollen reflektieren, meditieren, sich durch die Wanderung wandeln. Nimmst du tatsächlich Veränderungen wahr oder ist es nur ein frommer Wunsch?

Wir ändern uns doch Im Laufe unseres Lebens beständig. Auch unser Wissensstand wandelt sich. Als Menschen werden wir von allen Menschen geformt, denen wir begegnen. Der erste Eindruck, den ein Mensch von einem anderen Menschen hat, ist jedoch oft so, als hätte er diesen flugs in eine Kiste gesteckt, die er in seinem eigenen Kopf schon zusammengebaut hatte.

Diese Reise, unser Walkabout durch karges Gelände, ermöglicht es uns nun, uns als Menschen gegenseitig besser kennenzulernen und zu erkennen, dass diese Rahmen nur Illusionen sind und jeder Mensch einzigartig ist. Während wir zusammen aneinander wachsen, erkennen wir, dass auch diejenigen, die anders sind als wir, Freunde sein können und uns etwas Wertvolles beibringen können. Die häufigste Rückmeldung der Wanderer nach Abschluss der Reise lautet: „Es war eine lebensverändernde Erfahrung.“

Viele der Teilnehmer*innen kommen aus Europa. Dort scheint diese Idee besonders gut angenommen zu werden…

Es kommen Menschen aus aller Welt, auch aus Südamerika und Asien. Aber für Europäer war Israel schon immer ein Sehnsuchtsort. Es ist eine Pilgerreise, eine neue Art der Wallfahrt, die heute von großer Bedeutung ist. Diese Wallfahrt hat nichts mit Tempeln oder Kirchen zu tun, sondern mit jener Verbindung, die wir alle zu dieser Erde fühlen, mit der Landschaft und der Geschichte, die sie birgt.

In Israel leben Juden, Christen, Muslime, Tscherkessen, Drusen und viele andere. Es besitzt eine Vielfalt an Sprachen und Kulturen, auch eine vielfältige Alltagskultur, verschiedenste Geschmäcker, Gerichte und Weine. Dieses Land ist ein Schmelztiegel von allem.

75 Jahre Israel Seite 14 75 Jahre Israel Seite 15
Haimo Perkmann Yahav Zohar
FOTO
Das Café und die Gartenterrasse, Liebling Haus FOTO Yael Schmidt
Hadira residency program in einer Original-Wohnung im obersten Stockwerk
Yael Schmidt

Macht(lose) Stimmen

Texte von Nadim (Pseudonym), Thaer, Jamal, Maram, Abdel Nasar, Naji (Psyeudonym) aus einer Sammlung von Jana Weissteiner

Das Gelobte Land ist schon so lange fremdbestimmt, schon so lange geopolitischer Spielball westlicher Mächte, dass ich als weiße Südtirolerin nicht noch weiter dieses System bestärken möchte. Es gibt schlichtweg keine Legitimation für die westliche Dominanz und deshalb sehe ich auch keinen Platz mehr für eine weitere solche privilegierte Perspektive – meine Perspektive –auf Papier. Stattdessen will ich jene zu Wort kommen lassen, die in postkolonialen Theorien als Subalterne bezeichnet werden: die vom Diskurs Ausgeschlossenen, die Machtlosen.

Während meines sechsmonatigen Aufenthalts in Jerusalem und Ramallah habe ich palästinensische Freund*innen gefragt, was für sie 75 Jahre Israel bedeuten. Hier will ich ihre Texte teilen. Es sind intime Geschichten von jungen Menschen, die nicht nur mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind, sondern auch mit sozialen Hierarchien kämpfen, der Rolle der Frau in einer konservativen Gesellschaft und die obendrein unter einer militärischen Besatzungsmacht leiden. Eine Besatzungsmacht mit Auswirkungen auf das alltägliche Leben und das in einem Ausmaß, welches ich mir vor meinem Aufenthalt nicht ausmalen konnte. Ich will ihre Berichte ohne Kontext wiedergeben und für sich sprechen lassen. Dabei lade ich Euch ein, vorherrschende Machtstrukturen zu hinterfragen, indem wir als westliche Stimmen schweigen, zuhören, versuchen auszuhalten, wenn es ein wenig unbequem wird. Meine Dankbarkeit gilt den Menschen, die mit mir im Austausch standen und die ihre Geschichten so großzügig mit mir geteilt haben.

Nadim, Jersusalem

75 Jahre Israel sind für mich, meine Familie und Freunde alles andere als ein Grund zum Feiern. Für mich sind es

75 Jahre Landraub, Unterdrückung, Verfolgung und Kolonialismus. 75 Jahre, in denen meine Nation eine Nation zweiter Klasse in einem Land ist, das ursprünglich ihres war. 75 Jahre der Einschränkung und Kontrolle des Rechts auf Bewegungsfreiheit, des Rechts auf Selbstbestimmung und des Rechts auf Selbstverteidigung. 75 Jahre, in denen Kriegsverbrechen begangen wurden, ohne dass jemand dafür zur Rechenschaft gezogen wurde. 75 Jahre, in denen die internationale Gemeinschaft zu den Ereignissen in Palästina geschwiegen hat. 75 Jahre, in denen keine ernsthaften Maßnahmen gegen diese Besatzung ergriffen wurden. 75 Jahre, in denen meine Großeltern, Onkel und ein Teil meiner Familie aus ihrem eigenen Dorf in ein Flüchtlingslager in Jordanien vertrieben wurden. 75 Jahre, in denen ihnen das Recht auf Rückkehr vorenthalten wurde.

Meine Mutter war das einzige Mitglied ihrer Familie, das viele Jahre nach ihrer Flucht den Jerusalem-Ausweis erhielt. Sie konnte nach Palästina zurückkehren, weil sie dort meinen Vater heiratete. Das bedeutet bis heute, dass meine Mutter von ihren Brüdern und Schwestern, die immer noch Flüchtlinge in Jordanien sind, nicht besucht werden kann. Es bedeutet, dass mein Bruder, der ein Mädchen aus dem Westjordanland mit palästinensischem Ausweis geheiratet hat, nicht mit uns als Familie ans Meer fahren kann. Das bedeutet, dass ich, wenn ich nicht so leiden will wie mein Bruder, gezwungen bin, ein geeignetes Mädchen zu finden, das einen Jerusalemer Ausweis hat – genau wie ich.

75 Jahre Israel bedeuten für mich vollständige Kontrolle eines fremden Staates über mein Leben in allen Aspekten, auch in der Liebe.

Thaer, Beitummar-Hebron

Die Geschichte beginnt am 4. März 2009, ein Tag, der in psychologischer und sozialer Hinsicht zu einem tiefen Einschnitt für meine Familie wurde.

Israelische Besatzungstruppen stürmten in den frühen Morgenstunden meine Heimatstadt Beitummar mit einem Konvoi an Panzern. Mein Bruder Mahdi und ich liefen hin. Wie bei den meisten solcher Überfälle sind die Mittel für eine palästinensische Verteidigung begrenzt: Junge Männer fingen an, die Soldaten mit Steinen zu bewerfen. Zwei der Männer, einer davon ist einer meiner Freunde, wurden dabei verhaftet. Plötzlich ging alles Schlag auf Schlag. Die Soldaten eröffneten das Feuer auf uns, ganz egal, ob wir Steine warfen oder nicht. Wir rannten, doch eine der Kugeln traf meinen Bruder. Er fiel neben mir zu Boden und Blut strömte aus seinem Kopf. Ich war wie erstarrt. Ich weiß noch, wie Leute um mich herum für meinen Bruder um Hilfe schrien. Er wurde in das Fahrzeug meines Vaters gehievt, ohne dass mein Vater wusste, dass es sich bei dem Verwundeten um sein eigenes Kind handelte. Als der Krankenwagen endlich eintraf und die Besatzungstruppen noch versuchten, seine Durchfahrt zu blockieren, hatte er schon zu viel Blut verloren. Mein Bruder Mahdi wurde ins Krankenhaus gebracht und fiel ins Koma.

Am 12. Oktober 2009 starb Mahdi an den Folgen des Kopfschusses. Es ist ein Tag, der sich unweigerlich in mein Gedächtnis eingebrannt hat.

Als ob der Tod meines Bruders nicht schon genug Schmerz für mich und meine Familie bedeutete, verhaftete die Besatzungsarmee am vierten Dezember 2009 meinen älteren Bruder Mohamed, und am folgenden Tag kehrte die Besatzungsarmee zurück und verhaftete mich. Ein neues Kapitel des Leidens begann im Gefängnis, wo wir einer harten, mehrere Monate dauernden Untersuchungsphase unterzogen wurden und physische und psychische Unterdrückung erleben mussten. Mohamed wurde daraufhin zu 10 Monaten und ich zu anderthalb Jahren Haft verurteilt.

Meine Mutter kam uns in dieser Zeit im Gefängnis besuchen, und ich erinnere mich, dass sie sagte: „Ich wünschte, Mahdi wäre auch im Gefängnis und nicht im Grab, wo wir mit ihm reden und nach ihm sehen könnten.“

Maram, Jerusalem

Ich bin Maram aus Silwan, einem Stadtteil in Ost-Jerusalem, einem Ort, der viel Schönes aber auch sehr viel Hässliches in mein Leben gebracht hat. Ein Ort, der auf verschiedenen Ebenen zu einem Ort der Unterdrückung geworden ist.

Zum einen gehörte die Besatzung für mich schon als Kind zum Alltag. Das Militär feuerte Gasbomben in unser Haus, ich wurde von israelischen Soldaten brutal angegriffen, fundamentalistische Siedler versuchten das Haus meiner Nachbarn gewaltsam einzunehmen. Dazu kam dann die Oppression durch meine Gesellschaft. Ich bin in einem traditionell muslimischen Umfeld aufgewachsen, mit einer Mutter, die nicht arbeitet, und einem Lehrer als Vater. Als ich 14 Jahre alt war, beschloss meine Familie, dass ich das Kopftuch tragen musste. Ich war kein einfacher Teenager und rebellierte. Die Männer in meiner Familie konnten das nicht ertragen. Mein Bruder drohte mir mit einem Schulverbot. Von meinem Onkel wurde ich sexuell belästigt. Ich fing an mich zu ritzen und trug das Kopftuch letztlich doch – sechs lange Jahre. Ich habe versucht, mich selbst davon zu überzeugen, dass es etwas Gutes für mich sei. Ich habe versucht, mich meiner Religion anzunähern und zu begreifen, warum Frauen sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten haben. In all der Zeit hatte ich Mühe, mich selbst zu lieben und so kam es, dass ich mich am Ende wieder gegen meine Familie auflehnen musste und es ablegte.

Ein paar Jahre später lernte ich einen Jungen im Fitnessstudio kennen und verliebte mich in ihn. Meine Mutter wusste von der Beziehung und bestand darauf, dass wir uns verloben. Kurz nach unserer Verlobung änderte sich für mich jedoch aufs Neue einfach alles. Er wurde sehr kontrollierend und hasste die Tatsache, dass ich rebellisch war. Eines Tages hatten wir einen Streit und er wurde handgreiflich. Er würgte mich so lange, bis ich von zwei anderen Männern gerettet wurde.

Wenn ich darüber nachdenke, wie viele Frauen sowohl unter der Besatzung als auch unter dieser Gesellschaft leiden, dann tut mir mein Herz weh. All diese Gewalt hinterlässt Narben. Sie hat mich aber auch zu der Person gemacht, die ich heute bin. Ich bin eine Frau, die nicht mehr um ihr eigenes Leben kämpfen muss, sondern für ihre Leute einstehen will, damit daraus eine freiere und offenere Gesellschaft entstehen kann.

Jamal, Jerusalem

Letzten Sommer, nach meinem Urlaub in Norwegen, traf ich im Flugzeug einen älteren Herrn in seinen Siebzigern. Wir unterhielten uns auf Englisch, bis er mich plötzlich auf fließendem Arabisch fragte, ob ich Araber sei. Anfangs gab ich keine genaue Antwort und sagte ihm lediglich, dass ich Palästinenser sei. Er nahm an, dass ich ein palästinensischer Flüchtling sei, der in der Türkei lebt, da der Flug nach Istanbul ging.

Erst später im Gespräch erzählte ich ihm von meinem Leben in Jerusalem. Ganz unerwartet fing er neben mir auf dem Flugzeugsitz an zu weinen. Er war noch nie in Jerusalem, erklärte er, und darf auch nicht zur drittheiligsten Stätte des Islam reisen, der Al-Aqsa Moschee. Er fuhr fort und sagte, sein größter Wunsch sei es, dort für seine krebskranke Frau zu beten.

Obwohl ich selbst nicht besonders religiös bin, beschloss ich, nach meiner Ankunft in Jerusalem in die Moschee zu gehen und für die Frau des älteren Herrn im Flugzeug zu beten.

Naji, USA/Ramallah (Pseudonym) Als meine Urgroßmutter alt wurde, wünschte sie sich, in Palästina zu sterben, in ihrem Heimatdorf. Stattdessen starb sie im kalten und weit entfernten Kanada.

Meine Urgroßeltern lebten bis zu ihrer Enteignung für das israelische Kolonialprojekt vor 75 Jahren ein ruhiges und bescheidenes Leben in einem Dorf in Galiläa, im heutigen Nordisrael. In den späten 1940er Jahren wurden nicht nur meine Urgroßeltern, sondern mit ihnen Hunderttausende von Menschen aus ihren Häusern vertrieben. Sie wurden zwangsumgesiedelt, weil ihre Sprache, ihre Abstammung und ihre Religion nicht zur zionistischen Idee passten. Sie flohen in den Libanon, wo sie sich in einem elenden Flüchtlingslager niederließen und Palästina nie wieder sehen sollten. Die ethnische Säuberung meiner Familie wird durch den israelischen „Unabhängigkeitstag“ markiert.

Beide Generationen vor mir – meine Großeltern und meine Mutter – haben Palästina nie besucht. Die eigene Sehnsucht, dorthin zu reisen, war größer als meine Angst davor, und ich machte mich auf den Weg. Von Amerika aus reiste ich in das heutige Israel. Bei der Einreise wurde ich mit einem 90-Tage-Besuchervisum und einem stundenlangen Verhör empfangen, wohingegen andere jüdische und internationale Gäste problemlos passieren durften.

Abdel Naser, 27, Kafr’ Aqab

Ich bin jetzt 27 Jahre alt und komme aus Kafr’ Aqab, einem Ort direkt hinter dem Qalandia Checkpoint im Westjordanland. Meine ganzen Leben habe ich unter der Besatzung gelebt. Ein Palästina ohne Besatzung stelle ich mir als eines der schönsten Länder der Welt vor. Ich hoffe wirklich, dass ich das in meinem Leben noch erleben werde.

Ich bin dankbar, dass ich vor ihrem Tod Zeit mit meiner Urgroßmutter verbringen konnte. Ich hörte aus erster Hand die Erzählungen über ihr Palästina: Landwirtschaft, Zeit mit Freunden verbringen, die mehr wie eine Familie waren, und Kinder in einem Dorf großziehen, von dem sie jeden Zentimeter kannte, den Blick auf die Berge des Libanon am Horizont. In diesem Jahr besuchte ich die Überreste des Hauses meiner Urgroßmutter, 75 Jahre nach ihrer Zwangsausreise. Obwohl durch das ehemalige Dorf heute ein israelischer Wanderweg führt, wurden ihre Geschichten dort wieder lebendig. Vor mir konnte ich sehen, wohin sie einst ging, um Feigen zu pflücken. Ich konnte die Bäume sehen, auf die ihre Kinder einst kletterten. Ich konnte den Weg sehen, den sie schließlich nahm, um in den Libanon zu fliehen, als die zionistischen Truppen näherkamen.

Als ich das Dorf besuchte, habe ich den Wunsch meiner Urgroßmutter für mich übernommen. Doch egal, wo ich lebe, Palästina wird immer in mir leben, und egal, wo ich sterbe, Palästina wird fortbestehen.

75 Jahre Israel Seite 16 75 Jahre Israel Seite 17
Ausstellung im Erdgeschoss A Great Place to Live? Paul Kearns und Moti Ruimy, Liebling Haus FOTO Yael Schmidt Auf dem Dach des Liebling Haus sind Kunstinstallationen zu Beschattungszwecken aufgebaut, wie z.B. Fifth Space von Jakub Szczesny und Hadas Tuval FOTO Yael Schmidt Liebling Haus, Ansicht von der Idelson Straße FOTO Yael Schmidt

Gabriela Oberkofler: Kunst und Wissenschaft

zur Erzeugung von Empathie

Andrea Lerda

Curators Page Seite

ANDREA LERDA Deine Recherche ist Teil einer künstlerischen Strömung, die sich für die spekulative Erforschung der Beziehung zwischen Kunst, Leben und ökologischer Dynamik interessiert. Kannst du mir sagen, woher deine Forschung kommt und warum der Dialog mit anderen Bereichen so wichtig ist?

GABRIELA OBERKOFLER Meine Recherche entspringt einem Gefühl der Ungerechtigkeit, das ich empfinde, wenn ich das unausgewogene Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt betrachte. Wenn ich Texte von Umweltaktivist*innen und Greenpeace-Publikationen lese, bin ich immer sehr beunruhigt. Ich denke, dass es uns Menschen an Bewusstsein, Sensibilität und Wissen über ökologische Prozesse mangelt.

Ich erinnere mich, dass mich dieser Gedanke zum ersten Mal berührte, als ich als Kind eine Dokumentation über Wale sah. Wir wissen so wenig darüber, wie sie leben... Es fasziniert mich, dass sie so empfindlich auf Magnetfelder und allgemein Geräusche unter Wasser reagieren.

Meine Recherche und die vieler anderer Künstler*innen ist unter anderem ein Mittel, um alternatives ökologisches Denken zu vermitteln. Ein Mittel, um anzuprangern und alternative Geschichten zu erzählen. Ich denke, dass das Verständnis für die Zyklen des Lebens – die Beziehungen zwischen Tieren, Pflanzen und Menschen – das wichtigste Element meiner Arbeit ist. Dieser Schwerpunkt zeigt sich zum Beispiel in der Sorgfalt und Detailgenauigkeit, mit der ich meine Zeichnungen anfertige.

Aktivismus, Wissen über ökologische Prozesse, Partizipation – all das sind Themen, die in der Recherche vieler zeitgenössischer Künstler*innen, die sich mit dringenden Umweltfragen beschäftigen, auf unterschiedliche Weise wiederkehren. Einige deiner Werke, wie z. B. Api étoilé, sind aus der Verbindung zwischen Kunst und Wissenschaft entstanden. Kannst du mir mehr über diese Arbeit und Ihr Verhältnis zur Forschung erzählen?

Ich habe das Gefühl, dass die Arbeit im Dialog mit der Wissenschaft es mir erleichtert, Zusammenhänge zu verstehen. Am Beispiel der Wale lässt sich das sehr gut zeigen. Durch die Forschung lernen wir, ihr Verhalten zu verstehen. Dieses Verständnis verändert unsere Sichtweise und damit auch unser Handeln – wahrscheinlich werden wir einfühlsamer.

Dasselbe gilt für Pflanzen: Das Projekt Api étoile ist ein Samenarchiv, das immer noch wächst und in dem ich eine Reihe von Überlegungen zu den Konzepten von Sprache und Kommunikation in der Pflanzenwelt anstelle. Mit dieser Arbeit versuche ich, einen Weltgarten zu schaffen – ein Gemeinschaftsbild, das mit Hilfe der Wissenschaft entsteht –, mit dem ich ein anderes wich-

BlackoutPoetry –CortoCircuito

blackoutpoetry – cortocircuito (la morte del principe azzurro)

S.O.S: atterraggio d`emergenza per un sogno avariato tower tower notlandung für meine träume

Mr. Scheißkerl hat mir die flügel gestutzt fliegen war gestern

GABRIELA OBERKOFLER Installationsansicht Villa Merkel

tiges Thema anspreche, nämlich das der Monokultur und des Pflanzenlebens jenseits des intensiven Anbaus. Das Projekt ist eine Mischung aus Kunst, Wissenschaft und landwirtschaftlichem Wissen. In Bezug auf letzteres finde ich es sehr interessant, dass es immer noch Bauern gibt, die uralte Saatgutarchive, außergewöhnliche Pflege- und Anbaufähigkeiten und -fähigkeiten besitzen, die der landwirtschaftlichen Dynamik, die das Produktionssystem in der heutigen Welt bestimmt, widerstehen. Meine Referenzen in Bezug auf die Verbindung zur Wissenschaft sind unterschiedlich.

Eine sehr wichtige Person in dieser Hinsicht ist Florianne Köchlin, Biologin und Künstlerin, die das Buch PflanzenPalaver veröffentlicht hat. Sie reiste um die halbe Welt und traf Wissenschaftler*innen, die Experimente durchführten, um eine Reihe wichtiger Fragen zu beantworten: Wie findet die Erbsenpflanze Wasser, wenn sie nicht bewässert wird? Wie wachsen die Wurzeln einer Pflanzenart, um Wasser zu erreichen? Wie kann eine Tomatenpflanze ohne Pestizide überleben?

Bei der Beschäftigung mit diesen Themen entdeckte ich, dass alte Tomatensorten ein ausgeklügeltes System zur Schädlingsbekämpfung haben. Die Akazie hingegen hat die Fähigkeit, Botenstoffe auszusenden, um Insekten anzulocken, die den Befall vernichten, unter dem sie leiden.

All diese Überlegungen haben 42 Zeichnungen hervorgebracht, die die Geschichte erzählen, wie Pflanzen es schaffen, ohne die Hilfe von Chemie zu wachsen, und die einen natürlichen Überlebensprozess zeigen, der in der DNA einer Pflanze angelegt ist.

Du sagtest, dass du daran arbeitest, einen Weltgarten am Taberhof in Flaas/Jenesien zu schaffen. Die Entscheidung, deine Praxis und deine Vision an diesen Ort zu bringen, zeugt davon, dass es keine Barrieren zwischen der

Es gibt mehrere Gründe, warum der Familienbauernhof in meiner künstlerischen Praxis so wichtig geworden ist. Einer davon ist, dass mein Saatgutarchiv ein Zuhause braucht, und der Bauernhof – den ich als einen sich ständig erweiternden Organismus verstehe – ermöglicht es, das Projekt in seiner Gesamtheit unterzubringen und den Weltgarten zum Leben zu erwecken, in dem alle Samen keimen und wachsen können. Ein weiterer wesentlicher Grund ist die Zeit. Ausstellungen, wie wir sie normalerweise im Kunstkontext verstehen, haben eine begrenzte Dauer, das heißt, sie sind temporär. Dieses Projekt hingegen ist eine unendliche Geschichte, ein lebender Organismus in jeder Hinsicht, auch weil ich immer wieder neue Samen erhalten werde und der Garten sich im Laufe der Zeit um neue Pflanzen erweitern wird.

Ich sehe den Bauernhof daher als eine Versuchsstation, in der ich dem Dialog zwischen Kunst und Forschung zu landwirtschaftlichen Themen Raum gebe. Daran kannst du erkennen, dass meine Praxis besonders sensibel auf Studien aus der wissenschaftlichen Welt reagiert. Das nächste Projekt auf dem Hof wird darin bestehen, gemeinsam mit einem Landwirt zwei Versuchsfelder anzulegen, auf denen der Anbau von Buchweizen und Mohn – früher eine Spezialität des Dorfes Flaas, in dem sich der Hof befindet – wieder aufgenommen werden soll. Der Hof wird als Zeichenstudio dienen, aber auch als Herberge für die Expert*innen, die mit mir auf Entdeckungsreisen in die Natur gehen werden.

und täglich zeige ich dir die zunge – e continuo a farti la lingua cosa significa essere donna, madre, compagna? chi ha definito gli schemi, il « range », criteri che definiscono la femminilità? oltrepassarli, o meglio, infrangerli, al fine di essere pienamente me stessa - ecco il Leitmotiv di questa prima poesia che vi propongo zu schwarz und doch zu bunt zu alt und doch zu jung exotischer paradiesvogel lebensgefährtin und mutter zugleich zu burschikos, um weiblich zu sein? wo ist die grenze, wer hat sie bestimmt? zeige sie mir und ich werde sie überschreiten schüttle deinen kopf missbilligend und ich werde dir die zunge zeigen mache eine frau aus mir und ich werde deine schöpfung zerstören sage mir wo´s langgeht und ich werde mich verlieren versuche mich noch enger festzuhalten und ich werde wegfliegen ich dein exotischer paradiesvogel

leergefegt – vuotototale

berührungshymne – le parole che non ci siamo detti tuffarmi nelle tue braccia, farmi un´overdose del tuo corpo e percepire come il senso della vita stia tutto lì, in un abbraccio deine umarmung bedeutet mir mehr als all die worte die wir uns nicht gesagt haben

was ich dir schon immer sagen wollte – quello che mi resta di te un sogno non è mai né troppo grande né troppo piccolo per essere sognato; aiutami a ritrovare le tue tracce, mi faranno strada i tuoi lunghi capelli attraverso il nero corvino di questa notte

ich fliege mit fein gepuderten flügeln meinen traum an ein mikro-märchen auf parkettboden ein hauch von sonnencreme und seidenen schwarzen haaren lass mich sie berühren lass uns dieses sprachverbot brechen

dresdenstraße 21 – via dresda 21

qui, nel cuore della notte di un quartiere di periferia, sono riuscita a vincere le mie paure grazie a poche cose essenziali, che mi hanno traghettata sana e salva fino alla mattina du betäubst deine angst mit sylikon gibst den krähen deine träume zum fraß und alles was dich hält ist eine pfote. ein gedicht. ein steifes glied.

poetry saved my life – quando è la poesia a salvarmi la vita dedicata a lei: ancora di salvataggio, uscita di sicurezza, luogo privo di tempo e di spazio, dove le strofe si confondono con il battito del cuore e le parole si posano sulle ferite rimarginandole come solo loro sanno fare poetry saved my life once upon a time and today did survive am alive because of a poem and write with my shoes on and write barefoot and when they ask me what I`m here for answer it´s because of a poem it´s because poetry saved me once upon a time and every single day of my life

75 Jahre Israel Seite 19 Savannen/Saavana/Savineles Eine Rubrik der Südtiroler Autorinnenund Autorenvereinigung Una rubrica dell̕Unione autrici e autori del Sudtirolo Bancon dla Union de scritëures dl Südtirol
quando è il vuoto ad abitarti e non riesci a riempirlo in alcun modo, mentre continui a illuderti che qualcosa o qualcuno possa farlo per te nahe am wasser gebaut bist du der leere entlang gegangen wo sich dein schatten aufhält hast einen fuß in die leere gesetzt wer bist du ohne deinen schatten wer bist du wenn dich die leere nicht trägt 18
Claudia Polver künstlerischen Dimension und dem Alltagsleben gibt. Kannst du mir sagen, wie diese Erfahrung zustande kam und wie du sie weiterentwickeln möchtest?

Lesen versetzt uns in einen „Flow“

Viele von uns kennen das Gefühl, wenn man ein gutes Buch gefunden hat: Schon nach ein paar Seiten taucht man ab in eine Parallelwelt, vergisst Raum und Zeit –und landet erst Stunden später wieder in der Realität – mit einem wohligen Gefühl von Zufriedenheit. Die folgende internationale Bücherauswahl garantiert den Flow-Zustand in diesem Sommer!

Die erste Geschichte beginnt 1986 bei einer Beerdigung in Pretoria, Südafrika: Eine weiße, südafrikanische Familie begräbt ihre Mutter. Am Sterbebett gab sie der Schwarzen Frau, die ihr ganzes Leben lang für die Familie gearbeitet hat, ein Versprechen. Doch nicht alle in der Familie wollen dieses Versprechen einlösen. Über 30 Jahre, von der Apartheid bis zur Demokratie, verändern sich ein Land und eine Familie – doch das Versprechen bleibt bestehen.

„Das Versprechen“ von Autor Damon Galgut wurde 2021 mit dem Booker Prize ausgezeichnet, einem der bedeutendsten internationalen Literaturpreise. Der Autor wurde im südafrikanischen Pretoria geboren. Er lebt und schreibt in Kapstadt. Sein Buch „Das Versprechen“ erzählt nicht nur eine Familiengeschichte, sondern auch zugleich die jüngere Geschichte von Südafrika.

Claudia Piñeiro ist Autorin in Buenos Aires. Sie gehört zu den erfolgreichsten Autorinnen zeitgenössischer argentinischer Literatur. Mit humorvollem Stil hinterfragt sie in ihren Romanen vermeintliche Idyllen und deckt deren Abgründe auf. So auch in ihrem Buch „Ein wenig Glück“:

20 Jahre sind vergangen, seit Mary mit ihrem Sohn und dessen Freund ins Kino fahren wollte. Da erschütterte ein Unfall ihr Leben – und prägt es noch heute. Die Flucht aus Buenos Aires war damals ihre einzige Möglichkeit, mit ihrem Schuldgefühl und der Ächtung durch ihre Mitmenschen umzugehen. Heute muss Mary nach Argentinien zurückkehren. Doch viel hat sich verändert, allem voran sie selbst: Wird man sie wiedererkennen?

Wird ihre Vergangenheit sie einholen?

Zwischen herbeigesehnten Begegnungen und erschütternden Enthüllungen versteht Mary, dass das Leben weder reines Schicksal noch purer Zufall ist. Vielleicht kann ihre Rückkehr also etwas wie ein wenig Glück bedeuten. Dieses Buch legt man so schnell nicht aus der Hand.

In Hawaii geboren und aufgewachsen ist der Autor Kawai Strong Washburn. „Haie in Zeiten von Erlösern“ ist sein Debütroman, er wurde in den letzten Monaten auf Instagram gehypt. Mit einer Mischung aus Mythos und Moderne schaffte es die Familiengeschichte sofort auf Barack Obamas Liste seiner Lieblingsbücher.

Als Nainoa mit sieben Jahren von Haien vor dem Ertrinken gerettet wird, fängt seine Mutter wieder an zu glauben. Der Junge wird zum Erlöser, von dem hawaiianische Legenden erzählen. Er bringt den Segen, der die Familie und vielleicht sogar ganz Hawaii retten kann. Doch was ist ein Segen der alten Götter im modernen Hawaii?

Die Geschichte folgt den drei Geschwistern Nainoa, Dean und Kaui, die versuchen, zwischen der Bestimmung ihres Bruders und ihren persönlichen Werdegängen zu navigieren. Sie alle gehen ans amerikanische Festland, bis mythische Ereignisse und die Inseln selbst sie wieder zurückrufen. Das ist das richtige Buch für eine literarische Reise im Kopf.

Nach Büchern aus Südafrika, Argentinien und Hawaii noch ein Geheimtipp aus der Schweizer Bergwelt: Gleich zu Beginn der Handlung stürzt etwas ein. Der Boden zittert. Aus einem dumpfen Poltern werden ein Dröhnen und ein Krachen. Dann folgt Stille. Nach einem Felssturz ist ein kleines Wandergebiet abgeschnitten. In einer abgelegenen Berghütte finden zehn Menschen einen Zufluchtsort. Sie sind hier auf engstem Raum eingeschlossen, ein Abstieg ins Dorf ist unmöglich, da der Weg weggebrochen ist. Die Dunkelheit bricht ein. In diesem flüssig und rasant geschriebenen Roman der Schweizerin Angelika Waldis stehen diese Menschen im Zentrum – ihr Handeln und Verhalten in dieser Extremsituation. Mit psychologischer Tiefe, atemraubender Ruhe, stimmig und authentisch erzählt die Autorin in „Berghau“ von zwei außergewöhnlichen Tagen und Nächten. Großartig und ergreifend!

Autor*innen

Hila Cohen Schneiderman

Kuratorin MoBY: Museums of Bat Yam, Tel Aviv/Jaffa

Hannes Egger Künstler, Dozent an der UniBZ, Lana

Zohar Gotesman Künstler, Tel Aviv

Sally Haftel Naveh  Freie Kuratorin und Lehrende, Tel Aviv

Kineret Haya Max Performance-Künstlerin, Tel Aviv

Meital Katz-Minerbo Künstlerin, Tel Aviv

Andrea Lerda Kurator am Museo della Montagna, Turin/Cuneo

Itay Levy

Unternehmer, CEO von Identiq, Tel Aviv

Shira Levy Benyemini Stadtplanerin, Kuratorin und Direktorin des Liebling Haus – The White City Center, Tel Aviv

Gabriela Oberkofler Künstlerin, Jenesien/Stuttgart

Rea Pasternak Unternehmer, Wanderführer, Golan

Haimo Perkmann

Kulturpublizist, Übersetzer, Meran

Claudia Polver Schriftstellerin und Buchhändlerin, Bozen

Yael Schmidt

Künstlerin und Fotografin, Tel Aviv

Richard C. Schneider Journalist, Autor und langjähriger Israel-Korrespondent der ARD, München/Tel Aviv

Tali Sharvit

Damon Galgut: „Das Versprechen“. 368 Seiten. 2021. Claudia Piñeiro: „Ein wenig Glück“. 224 Seiten. 2016. Kawai Strong Washburn: „Haie in Zeiten von Erlösern“. 448 Seiten. 2022.

Angelika Waldis: „Berghau“. 167 Seiten. 2023.

Assistentin des Chefkurators für Archäologie in The Israel Museum, Jerusalem, Modi‘in

Rolf Steininger Historiker, Universitätsprofessor, Innsbruck

Jana Weissteiner Filmemacherin, Dokumentaristin, Wien/Brixen

Yahav Zohar Fremdenführer in Jerusalem, Mitglied des Green Olive Collective, Jerusalem

Lydia Zimmer

Literaturvermittlerin und Literaturexpertin, Basel

Transkription und Übersetzungen der Interviews aus dem Italienischen und Englischen: Haimo Perkmann, Hannes Egger

75 Jahre Israel Seite 20
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