#182: Demokratie im Umbruch

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Demokratische Selbstbegrenzung

Herausforderungen

der Demokratie

Europas Demokratien gelten weltweit als vorbildlich –vor allem, was Beteiligungsmöglichkeiten und die pluralistische Qualität der Entscheidungsfindung betrifft. Doch auch europäische Gesellschaftskonzeptionen werden von den großen Entwicklungen weltweit beeinflusst – und zwar immer stärker. Als politisches und Werte-System ist die Demokratie heute mit neun Grundsatzproblemen konfrontiert.

Erstens gerät Demokratie durch die weltweite Konkurrenz mit – zumindest nach außen – erfolgreichen autoritären Systemen unter Druck. Diese heften Zukunft und Zukunftsbereitschaft immer effizienter an ihre Fahnen, während Demokratien in der Kultivierung von Vergangenheiten zu stagnieren scheinen. Wachsender Konkurrenzdruck kommt von Autokratien oder Schwellensystemen in China, Arabien und Lateinamerika. Obwohl diese selbst von innen heraus unter Druck stehen, erzeugen sie – etwa in Ost- und Südosteuropa

– geopolitisch langfristige Abhängigkeiten und beeinflussen politische Systeme.

Zweitens scheint Künstliche Intelligenz ohne genauere Einbettung in Demokratie (was nicht automatisch gleichbedeutend mit Regulierung sein muss) im Begriff zu sein, Demokratie eher auszuhöhlen als zu festigen. KI und Chatbots laden dazu ein, Entscheidungen nach mathematischen Erfolgswahrscheinlichkeiten zu treffen statt mittels Mehrheits- und Konsenssuche, Dialog und Einbeziehung. Effizienz und Geschwindigkeit werden Kompromiss und Beteiligung vorgezogen. Deshalb wurden bis dato keine überzeugenden Wege gefunden, die Künstliche Intelligenz aktiv in den Dienst der Demokratie zu stellen. Zudem scheinen Chatbots wie ChatGPT4, Gemini oder DeepSeek, die das Wissen der ganzen Welt auf Knopfdruck jedem bereitstellen und Analysen vornehmen, plötzlich alle Politiker gleich informiert und intelligent zu machen. Wen soll ich also wählen?

Karl Plattner, Michael Gaismair, 1975 PUBLIZIERT IN Kunst im Südtiroler Landtag

Inhalt

Andreas Gross erörtert das demokratiepolitische Geheimnis der Schweiz.

Juan Cruz Dìaz und Santiago Ott analysieren den raschen Aufstieg Javier Mileis in Argentinien.

Kulturlandesrat Philipp Achammer steht Rede und Antwort zur Südtiroler Kunstund Kulturförderung.

Josef Prackwieser erklärt die Bedeutung von Michael Gaismair und seiner Neuen Landesordnung für Tirol.

Markus Pfeifer gewährt uns einen Einblick in seine Novelle Springweg brennt

Die SAAV – Südtiroler Autorinnen und Autoren Vereinigung – stellt Irene Moroder vor.

GALERIE

Indra Moroder zeichnet mit links und rechts.

FOTOSTRECKE Abbildungen aus dem Buch Kunst im Südtiroler Landtag veranschaulichen die Bedeutung der Kunst im öffentlichen Raum.

Roland Benedikter

Das politische Geheimnis der Schweiz: Mehr Demokratie wagen lohnt sich!

Als die Walliser Bundesrätin Viola Amherd Mitte März im schweizerischen Parlament ihre Abschiedsrede hielt, widmete sie sich der Frage, was denn die politische Schweiz ausmache. Dazu erzählte sie dem Parlament eine Geschichte:

„Ich war spätabends allein im Dunkeln zu Fuß auf dem Weg nach Hause. Da rannte plötzlich ein Jogger auf mich zu, machte abrupt halt vor mir und rief meinen Namen. Ich erschrak und dachte, was will der wohl jetzt, worauf er bemerkte: „Sie machen einen super Job, aber bei der nächsten Abstimmung stimme ich trotzdem Nein.“ Es ging damals um die Abstimmung über die Beschaffung neuer Kampfflugzeuge. Ich war erleichtert und dachte: Puh, wenn es nur das ist, dann geht es ja noch.

Die Folgerung Amherds aus dieser Begegnung: „Die Schweiz ist ein Land, in dem die Bevölkerung Anteil nimmt an der Politik und auch direkt mit einer Bundesrätin in Kontakt treten kann – praktisch zu jeder Tagesund Nachtzeit, sogar frisch verschwitzt. Politikerinnen und Politiker sind nicht eine eigene ‚Klasse‘, sondern ein Teil der Bevölkerung. Ein Zug fährt einem Bundesrat mit derselben Pünktlichkeit vor der Nase davon wie jedem anderen Bürger auch.“

Doch da war Viola Amherd fast etwas zu bescheiden. Denn „Anteil an der Politik“ nimmt beispielsweise ganz gewiss auch das italienische Volk. Aber vor allem und abgesehen vom Wahltag fast ausschließlich vor dem Fernseher, als Zuschauer, oder am Radio als Zuhörer, genauso wie es Anteil nimmt am Schicksal der Ferraristi an einem Rennen in Monza oder an der Diva in der Oper auf der Bühne der Mailänder Scala: passiv, zusehend und – zumindest was die Politik betrifft – (vor Graus) sich mehr und mehr abwendend.

In der Schweiz empfinden sich die Bürgerinnen und Bürger nicht als Zuschauer und Zuhörerinnen der Politik. Sie wissen, dass sie selber auf der Bühne stehen. Sie tun mehr als die Wahl der Akteure auf der Bühne. Immer wieder, genauer gesagt, vier Mal jährlich in meist etwa zehn Angelegenheiten nationaler, regionaler und kommunaler Art, besteigen sie selber die Bühne und entscheiden direkt mit. Die Schweizerinnen und Schweizer überlassen die Gestaltung unserer gemein-

samen Existenz nicht einigen wenigen Auserwählten. Sie übernehmen sie selber. Darin liegt der kleine aber schwerwiegende Unterschied. Das macht das Besondere der schweizerischen politischen Ordnung aus. Die Schweizerinnen und Schweizer wagen mehr Demokratie als die meisten anderen Europäer.

Schwerwiegend ist dieser kleine Unterschied deswegen, weil er die Statik der politischen Ordnung, das Wesen der Demokratie, total verändert. Der Schweizer Bürger steht nicht an der Seitenlinie. Er sitzt nicht im Zuschauerraum. Er ist nicht ein Objekt der Politik, sondern ihr Subjekt. Er entscheidet zusammen mit allen anderen Mitbürgerinnen und Mitbürger über die Ausrichtung der Politik ebenso wie über die Geschwindigkeit der Veränderungen. Der Bürger ist das Zentrum. Quelle der Macht ebenso wie deren wichtigster Autor und Adressat.

Demokratietheoretisch bedeutet dies eine vielfach geteilte und fein verteilte Macht. Bürgerinnen und Bürger delegieren anlässlich der Wahl ihres Parlamentes nicht einfach alle ihre Macht an das Parlament und an die durch das Parlament gewählte Regierung. Sie behalten auch nach der Wahl ein Stück der Macht bei sich. So haben sie über jede Veränderung oder Ergänzung der Bundesverfassung das letzte Wort; ohne Zustimmung der Mehrheit der Bürgerinnen lässt sich in der Schweiz die Bundesverfassung nicht verändern. Sie behalten sich auch das Recht vor, über im Parlament verabschiedete Gesetze zu entscheiden; das Parlament weiß also nie, ob es ein von ihm beschlossenes Gesetz nicht doch noch vor dem Volk verteidigen muss; denn es ist nie sicher, dass nicht doch noch ein Teil des Volkes mit einem „Referendum“ nachfragt und über das Gesetz mitentscheiden möchte.

Dieses Damoklesschwert schwebt ständig über dem Bundeshaus. Es schafft eine ganz andere Beziehung der Parlamentarier (und der Bundesräte) zu den Bürgerinnen und Bürgern. Die Politiker wissen, dass sie immer wieder auf die Unterstützung und Zustimmung der Bürgerinnen und Bürger angewiesen sind. Das macht sie viel demütiger, offener und zugänglicher als in jenen Ländern, in denen sie sich erst wieder bei der nächsten Wahl auch wieder an die Bürgerinnen und Bürger wenden müssen.

Die Stärke der Schweizer Bürger gegenüber dem Parlament spiegelt sich auch in der Stärke des Parlamentes gegenüber der Regierung. Und selbst innerhalb der relativ kleinen Regierung – die Schweizer Regierung umfasst seit 1848 jeweils nur sieben Minister – sind die Hierarchien flach. Das heißt, alle Minister sind gleich mächtig. Keiner, auch der jeweils für ein Jahr vom Parlament gewählte „Ministerpräsident“ (in der Schweiz Bundespräsident genannt) nicht, kann einen Kollegen „entlassen“, oder hat wie in Deutschland die „Richtlinien-Kompetenz“ inne, gleichsam das letzte Wort. Das letzte Wort hat in der Schweiz meist „das Volk“, die Bürgerinnen und Bürger.

Zur ausgesprochen geringen Fallhöhe der Macht, zur berühmten mehrfachen – vertikalen wie horizontalen –„Teilung der Macht“, trägt in der Schweiz auch der Bruder der Direkten Demokratie bei, der noch ältere Föderalismus. Die Kantone, die Gliedstaaten der schweizerischen Eidgenossenschaft, haben im Bund eine sehr große Autonomie. Auch sie haben nach wie vor viel Kompetenz bei sich behalten und nicht alle Macht an den Bund delegiert. Das ist historisch bedingt. In der Schweiz gab es im Unterschied zu fast allen europäischen Staaten nie einen nationalen Adel, eine absolutistische Monarchie und somit auch nie eine starke Zentralgewalt. Der Bund wurde „von unten hinauf“ gebaut. Kantone und Bürger waren 1848 die Baumeister des Bundes und blieben die wichtigsten Bauingenieure. „Der Staat“ ist bis heute ein Titel, den die Kantone für sich beanspruchen; die Eidgenossenschaft ist bloß „der Bund“...

Ein berühmter deutsch-amerikanischer Politikwissenschafter vertrat schon vor 50 Jahren die These, wonach einem die Macht das zweifelhafte Privileg verschaffe, nicht mehr lernen zu müssen. In der Schweiz ist die Macht so vielfältig geteilt, dass niemand, kein einzelner Mensch und keine einzige Institution so viel Macht hat, dass sie nicht immer wieder auch lernen muss. Die Macht ist vielmehr so gut verteilt, dass keiner dem anderen etwas befehlen kann; er kann nur versuchen, den anderen zu überzeugen. Das heißt, man muss viel mehr diskutieren, deliberieren, nachdenken, sich um die Verständigung bemühen, offen sein allen anderen gegenüber, immer bereit, sich vom besseren Argument überzeugen zu lassen und zu lernen. Mehr kann man von einer Regierung eigentlich nicht verlangen.

Javier Mileis Aufstieg zur Macht

Javier Mileis Aufstieg zum Präsidenten Argentiniens verlief äußerst rasant. Nachdem er jahrelang als Ökonom gearbeitet und regelmäßig an Fernsehsendungen teilgenommen hatte – in denen er die jeweilige Regierung scharf kritisierte und dabei eine marktwirtschaftliche, libertäre Haltung vertrat – trat Milei im Jahr 2021 offiziell in die Politik ein. Bei den Parlamentswahlen desselben Jahres wurde er in seinem Wahlkreis mit 17,04 % der Stimmen in die Abgeordnetenkammer gewählt – ein überraschendes Ergebnis für einen politischen Außenseiter ohne einschlägige Erfahrungen. In Übereinstimmung mit dem Diskurs, der sein öffentliches Auftreten stets geprägt hatte, präsentierte sich der damals 51-jährige Ökonom mit einer klar gegen das Establishment gerichteten Agenda. So forderte er drastische Kürzungen bei den Staatsausgaben, niedrigere Steuern, die Abschaffung der Zentralbank und die Dollarisierung der argentinischen Wirtschaft zur Bekämpfung der Inflation. Diese systemkritische Rhetorik fand besonders starken Anklang bei der Mittelschicht, die unter den harten Lockdowns während der COVID-19-Pandemie unter Präsident Alberto Fernández – einem Vertreter der peronistischen Mitte-Links-Koalition Unión por la Patria (UP) – gelitten hatte. Der wirtschaftliche Abschwung sowie Skandale rund um das Pandemie-Management beschädigten das Ansehen des Peronismus erheblich und schufen Raum für eine dritte politische Kraft. In diesem Kontext begann Mileis Weg zur Präsidentschaft über La Libertad Avanza (LLA), einer Koalition konservativer und libertärer Parteien, die 2021 nahezu ausschließlich als Vehikel für seine Kandidatur geschlossen wurde.

Bei der Präsidentschaftswahl 2023 war das peronistische Lager geschwächt, da es die galoppierende Inflation – die bis zu den Vorwahlen im August auf 12,4 % pro Monat gestiegen war – nicht in den Griff bekommen hatte. Auch die traditionelle Mitte-Rechts-Opposition Juntos por el Cambio litt unter internen Streitigkeiten um ihre Präsidentschaftskandidatur sowie unter der belasteten Bilanz ihrer Regierungszeit unter Präsident Macri (2015 – 2019). In dieser Lage gewannen Mileis unkonventionelle, systemkritische Botschaften auf Kosten moderater Ansätze an Zugkraft. Bei den Vorwahlen im August sorgte Milei für eine Überraschung, als er mit 30 % der Stimmen an erster Stelle lag. Zwar lag er in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl im Oktober noch hinter Sergio Massa (UP), konnte sich jedoch in der Stichwahl durchsetzen und gewann im Dezember 2023 die Präsidentschaft. Seine Hauptwählerschaft bestand aus jungen Männern unter 35 Jahren, deren Engagement in sozialen Medien entscheidend dazu beitrug, die finanziellen Vorteile seiner Gegner im Wahlkampf auszugleichen.

Javier Milei im Amt Im ersten Amtsjahr konzentrierte sich die Regierung Milei vorrangig auf die Bekämpfung der galoppierenden Inflation – das drängendste Anliegen der argentinischen Wähler –, auf den Abbau des Haushaltsdefizits sowie auf ein umfassendes Paket wirtschaftlicher und fiskalischer Reformen. Auch wenn Milei einen beträchtlichen Teil seiner marktwirtschaftlichen Agenda umsetzen konnte, wurden einige seiner radikalsten Vorschläge –darunter die Dollarisierung – vorerst auf Eis gelegt.

Im Zentrum von Mileis Wirtschaftsplan steht das Ziel eines ausgeglichenen Staatshaushalts. Zu diesem Zweck wurden Ministerien und staatliche Stellen gestrichen, die Privatisierung öffentlicher Unternehmen vorangetrieben und Subventionen in Schlüsselbereichen wie Transport und Energie abgeschafft. Trotz der politischen Risiken dieser Maßnahmen, die in der ersten Hälfte des Jahres 2024 zu einer wirtschaftlichen Rezession führten, konnte Milei relativ hohe Zustimmungswerte halten. Ein wesentlicher Grund dafür war der stetige Rückgang der Inflation, die bis Ende 2024 auf monatliche Werte sank, wie sie seit 2020 nicht mehr erreicht worden waren.

Mileis bislang größter wirtschaftlicher Erfolg liegt in seiner Fähigkeit, die Inflation unter Kontrolle zu bringen. Auch der argentinische Peso blieb gegenüber dem US-Dollar stabil, und der Risikoindex des Landes ist gesunken. Viele dieser Erfolge wurden jedoch auf Kosten der Mittel- und Unterschicht erzielt – trotz Mileis wiederholter Zusicherungen, dass die Hauptlast der Konsolidierungsmaßnahmen von der sogenannten „politischen Kaste“ getragen werde.

Die argentinische Wirtschaft ist noch weit entfernt von dem, was der Präsident als „argentinisches Wirtschaftswunder“ bezeichnet. Auch wenn einige Indikatoren wie der Konsum Anzeichen einer Erholung zeigen, liegen sie im Jahresvergleich weiterhin unter dem Niveau von 2023. Die Devisenkontrollen bestehen fort, und eine langfristige Wachstumsstrategie über das derzeitige Stabilisierungsprogramm hinaus ist bislang nicht erkennbar – weshalb es noch zu früh ist, um über den Erfolg dieser „Mileinomics“ genannten Wirtschaftspolitk zu urteilen.

In der politischen Arena hat Milei – trotz seiner konfrontativen Rhetorik gegenüber dem traditionellen Politikbetrieb – auch Pragmatismus gezeigt, vor allem weil seine Regierungspartei La Libertad Avanza (LLA) im Kongress doch deutlich in der Minderheit ist. Diese Konstellation zwingt ihn zur Zusammenarbeit mit dialogbereiten Oppositionskräften. In einem politischen System, das noch immer mit dem Aufstieg einer Außenseiterbewegung ringt, konnte Milei innerparteiliche Spannungen in den anderen Lagern geschickt nutzen, um Verhandlungen zu führen und Gesetzesinitiativen voranzubringen. Es gelang ihm des Weiteren, präsidentielle Vetos gegen Gesetze, die seiner wirtschaftspolitischen Agenda zuwiderlaufen, mit kaum nennenswertem Widerstand einzusetzen. Der stärkste Widerstand gegen die neue Regierung kam also nicht vom Parlament, sondern von der Straße: Bürgerinnen und Bürger – darunter auch viele, die Milei unterstützen – gingen auf die Straße, um zentrale rote Linien zu verteidigen, die sie nicht überschritten sehen wollten. Am deutlichsten zeigte sich dies in der massiven Verteidigung der öffentlichen Universitäten, deren Budgetkürzungen zwei große Protestwellen auslösten. Ebenso wie es noch zu früh ist, das wirtschaftspolitische Programm Mileis endgültig zu bewerten, lässt sich auch die Bedeutung seiner Präsidentschaft für die argentinische Demokratie noch nicht abschließend einschätzen. Einerseits hat Milei mehrfach starre Positionen und die aggressive Rhetorik abgelegt, um sich den Spielregeln des Systems anzupassen – etwa durch Verhandlungen mit moderaten Kräften oder durch die Einbindung von Persönlichkeiten anderer politischer Lager in seine Regierung. Andererseits werfen Kritiker ihm illiberale Tendenzen vor, etwa durch wiederholte Konflikte mit der Presse, den häufigen Rückgriff auf

Präsidialdekrete zur Umgehung des Parlaments oder durch seine ablehnende Haltung gegenüber Errungenschaften im Bereich der Menschen- und Minderheitenrechte. In diesem Zusammenhang lässt sich sagen, dass viele überparteiliche Konsense, die seit der Rückkehr zur Demokratie 1983 Bestand hatten, derzeit infrage gestellt oder neu definiert werden – mit bislang ungewissen langfristigen Folgen.

Ein Blick in die Zukunft: Wofür steht Milei wirklich? Die von Javier Milei in Argentinien angeführte libertäre Bewegung lässt sich auf den ersten Blick dem globalen Phänomen der „neuen Rechten“ zuordnen – einer Strömung, zu der auch Persönlichkeiten wie Donald Trump in den USA, Jair Bolsonaro in Brasilien, Vox in Spanien oder die AfD in Deutschland zählen. Tatsächlich ist ein wesentlicher Teil von Mileis Außenpolitik von seiner ideologischen Agenda geprägt, die auf die Pflege enger Beziehungen zu diesen Akteuren abzielt. Dabei versucht er, sich als zentrale Stimme innerhalb dieser weltweiten Bewegung zu positionieren – was regelmäßig zu Spannungen mit jenen führt, die Argentiniens traditionelle außenpolitische Ausrichtung verteidigen wollen. Eine genauere Analyse offenbart jedoch wesentliche ideologische Unterschiede zu den neuen Rechten. Dies stellt die gängige Vorstellung, die westliche neue Rechte sei ein homogener Block, in Frage. So vertreten etwa Donald Trump oder Marine Le Pen in Frankreich einen starken politischen und wirtschaftlichen Nationalismus und fordern protektionistische Maßnahmen wie Zölle – Elemente, die in Mileis Vision entweder völlig fehlen oder zumindest keine Rolle spielen. Ganz im Gegenteil: Freihandel zählt zu den Grundpfeilern von Mileis Weltbild, und das Thema Migration – ein zentrales Anliegen vieler konservativer Parteien in Europa und den USA – spielt in der Agenda von La Libertad Avanza (LLA) eine vollkommen untergeordnete Rolle. Wo sich Milei jedoch mit der „neuen Rechten“ überschneidet, ist in seinen politischen Methoden und in der Wahl gemeinsamer Gegner. In Übereinstimmung mit wissenschaftlichen Definitionen populistischer Führungsfiguren – ob rechts- oder linksgerichtet – bedient sich Milei einer ausgeprägten anti-elitären Rhetorik. Er zieht eine scharfe Trennlinie zwischen den „einfachen Bürgern“ und der „politischen Elite“, die er regelmäßig für die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Missstände des Landes verantwortlich macht. Wie viele dieser Akteure setzt auch Milei auf einen stark charismatischen Stil und strebt eine direkte, fast symbiotische Beziehung zu seiner Anhängerschaft an. Seine ausladenden Narrative prägen häufig die öffentliche Debatte, neigen dabei aber zu einer starken Vereinfachung komplexer Sachverhalte.

Ebenso wie die Vertreter der neuen Rechten lehnt Milei zudem die sogenannte „woke Agenda“ und linksgerichtete progressive Strömungen strikt ab. Er sieht in ihnen eine Bedrohung jener traditionellen Werte, die er bewahren will. Über seine unmittelbaren politischen und wirtschaftlichen Ziele hinaus versteht sich Milei daher als Teil eines umfassenderen kulturellen Kampfes gegen eine Entwicklung, die er „Kollektivismus“ nennt. Diese ideologische Haltung verbindet und verbündet ihn mit all jenen politischen Kräften, die diese ablehnende Haltung teilen – selbst wenn sie seine libertären Vorstellungen nicht oder nicht in vollem Umfang unterstützen.

Auch wenn sich dieser Kulturkampf bislang nur begrenzt in konkreten Regierungsmaßnahmen niederschlägt, strebt Milei an, über die nationale Politik hinauszuwirken und sich als globale Figur in diesem weltweiten ideologischen Konflikt zu etablieren.

Kultur und Demokratie im Wandel

Anlässlich der Publikation Kunst im Südtiroler Landtag befragt Haimo Perkmann Kulturlandesrat Philipp Achammer über die Gestaltung der öffentlichen Kunstförderung und den gesellschaftlichen Stellenwert der Kunst im Kontext des heutigen Demokratieverständnisses.

KULTURELEMENTE Kunst im Südtiroler Landtag beleuchtet die Verbindung zwischen Architektur, bildender Kunst und Politik. In Südtirol vergibt die öffentliche Hand regelmäßig Aufträge und kauft Kunstwerke an.

Welche Ziele verfolgt diese Förderung und welchen Stellenwert hat sie für die kulturelle Entwicklung im Land?

PHILIPP ACHAMMER Die direkte öffentliche Förderung zum Erwerb von Kunstwerken verfolgt eine Vielzahl an Zielen, die sowohl kulturelle als auch gesellschaftliche Aspekte umfassen. Im Mittelpunkt steht die Unterstützung lokaler Künstlerinnen und Künstler sowie die Sichtbarmachung ihrer kreativen Ausdrucksformen.

Durch gezielte Aufträge und Ankäufe stärkt die öffentliche Hand die regionale Kunstszene und fördert das künstlerische Schaffen nachhaltig. Zudem machen öffentliche Kunstprojekte Kunst für ein breiteres Publikum zugänglich, sensibilisieren für kulturelle Themen und laden die Menschen ein, sich mit aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen auseinanderzusetzen.

Insgesamt spielt die öffentliche Förderung von Kunstwerken in Südtirol eine entscheidende Rolle für die kulturelle Entwicklung des Landes, da sie nicht nur zur Vielfalt und Dynamik der Kulturszene beiträgt, sondern auch soziale, wirtschaftliche und identitätsstiftende Funktionen erfüllt.

Das Verhältnis von Kunstförderung und Politik ist seit jeher ein zentrales Thema in demokratischen Gesellschaften. In Südtirol ist ein Großteil der Kunstschaffenden in Verbänden organisiert und seit den wilden 1960er- und -70er-Jahren eher handzahm.

Nach welchen Kriterien wird ein künstlerischer Beitrag als förderungswürdig betrachtet?

Laut den geltenden Richtlinien des Landes zur Förderung von Kunstschaffenden spielt die künstlerische Qualität bzw. die Aussagekraft des geplanten künstlerischen Projekts eine zentrale Rolle. Darüber hinaus wird die Laufbahn des/der Künstlers/in berücksichtigt sowie seine/ihre Fähigkeit, die eigene künstlerische Intention verständlich und überzeugend zu formulieren.

Die mit der Bewertung eines Förderantrags betrauten Expertinnen und Experten in den Fachkommissionen überlegen gut, welche Bedeutung ein eingereichtes Vorhaben für die Entwicklung des Kunstschaffenden haben kann und wie sich sein Werk in der Kunstszene des Landes positioniert. Dabei sind wir uns bewusst, dass erfolgreiche künstlerische Nachwuchsförderung auch mit einer gewissen Risikobereitschaft einhergeht. Jungen Kunstschaffenden wird daher mit Wohlwollen begegnet.

Ein Bereich, der in Zukunft gestärkt werden soll, betrifft Kunstprojekte am Bau. Hier stellt die Landesregierung ab 2025 ein jährliches Budget in Höhe von 500.000 Euro für die Realisierung von Kunstprojekten an öffentlichen Gebäuden zur Verfügung. Im Rahmen der entsprechenden Wettbewerbe können sich Kunstschaffende mit der jeweiligen Gestaltungsaufgabe auseinandersetzen und ein Feingefühl für die spezifischen Örtlichkeiten entwickeln.

Die vielbeschworene Krise der Demokratie ist zwar ein immer wiederkehrendes Gespenst, doch heute scheint sich tatsächlich etwas Grundlegendes zu verändern. In Übersee und auch hier, besonders in Italien, scheint der Kulturbegriff gerade neu verhandelt zu werden. Ist Europa in Umbruch? Spüren Sie in Südtirol diesen Stimmungswandel?

In Südtirol ist ein spürbarer Wandel in der Wahrnehmung von Kultur und Demokratie zu beobachten. Wie in vielen anderen Regionen und Ländern wird auch hier zunehmend über die Rolle der Kultur in unserer Gesellschaft und ihren Einfluss auf demokratische Prozesse diskutiert.

Kultur ist weit mehr als ein bloßes ästhetisches Element; sie ist ein integraler Bestandteil des Wirtschaftskreislaufs und ein bedeutender Motor für Innovation. Sie spiegelt die Vielfalt und Widersprüchlichkeit unserer Gesellschaft wider und hat das Potenzial, sowohl das Individuum als auch die Gemeinschaft weiterzuentwickeln – eine Notwendigkeit, die in der heutigen Zeit dringlicher denn je erscheint. Mein persönliches Engagement in diesem Bereich zielt darauf ab, deutlich zu machen, dass Kunst und Kultur auch ernsthafte Berufsperspektiven bieten können.

Daher war es mir besonders wichtig, einige Initiativen ins Leben zu rufen. Dazu zählt unter anderem die Einführung einer Zusatzrente für Kunstschaffende, um eine bessere finanzielle Absicherung im Alter sicherzustellen sowie der Fairness/Fair-Pay-Prozess, der zu einer gerechteren Entlohnung im Kulturbereich führen soll. Ich bin fest davon überzeugt, dass Kunst und Kultur in einer demokratischen Gesellschaft nicht nur wichtige Impulsgeber sind, sondern auch als Seismografen fungieren, die auf die Gesellschaft und damit auch auf die Kulturpolitik einwirken. In Südtirol zeigt sich ein wachsendes Bewusstsein für die komplexen Zusammenhänge zwischen Kultur, Identität und Demokratie. Diese Entwicklungen erfordern einen offenen Dialog sowie innovative Ansätze, um den Herausforderungen gerecht zu werden und eine inklusive kulturelle Landschaft zu fördern.

In einem Interview mit einem Südtiroler Online-Portal sagten Sie vor rund zehn Jahren, als Sie neu im Amt waren, dass wir Ihres Erachtens „zwar eine Wohlstandsregion sind, aber vergessen haben, die moralisch-geistige Entwicklung frei zu fördern und zuzulassen“. Stimmen Sie dieser Aussage heute, zehn Jahre später, immer noch zu?

Mein Credo ist seit jeher, dass der Dialog mit unseren Stakeholdern von zentraler Bedeutung ist. Der Austausch von Ideen, das Ansprechen von Herausforderungen und das gemeinsame Entwickeln von Lösungen sind essenziell, um eine Kulturpolitik zu gestalten, die eine demokratische und geistig-moralische Entwicklung fördert. Es ist wichtig, neue, junge Initiativen zu unterstützen, die Raum greifen und wertvolle Impulse setzen. In einer pluralen Gesellschaft, die sich im ständigen Wandel befindet, stellt sich die Frage: Was erwartet sie von der Kultur? Ich bin fest davon überzeugt, dass eine kontinuierliche Reflexion und Gesprächsbereitschaft zwischen Politik und Gesellschaft unerlässlich sind. Wir müssen weiterhin auf ein zukunftsorientiertes und diskussionsfreudiges politisches Modell hinarbeiten, das primär auf Auseinandersetzung und Dialog basiert. Nur so kann unsere Gesellschaft in ihrer Vielfalt gedeihen und wachsen.

Indra Moroder’s research delves into the intersections of motor control, cognition and painting, with a focus on ambidexterity. Through a praxis that challenges the dominance of a single hand, she examinses the physical and neurological implications of working with both hands simultaneously.

Training herself, initially as a right-handed painter, to create with her left hand, she has confronted the tension between skill and unlearning, discomfort and fluency. Over time, the act of handedness becomes secondary, allowing intuition to take over. In an era increasingly shaped by artificial intelligence and machine-assisted labour, Moroder’s work considers what it means to create with multiple hands and expanded cognitive processes.

Indra Moroder erforscht die Überschneidungen zwischen motorischer Kontrolle, Kognition und Malerei, wobei sie sich auf die Zweihändigkeit konzentriert. Durch eine Praxis, die die Dominanz einer einzigen Hand in Frage stellt, untersucht sie die physischen und neurologischen Auswirkungen des gleichzeitigen Arbeitens mit beiden Händen.

Indem sie als Rechtshänderin begann, mit der linken Hand zu malen, hat sie sich mit der Spannung zwischen Können und Verlernen, Unbehagen und Geläufigkeit auseinandergesetzt. Mit der Zeit wird der Akt der dominierenden Hand zweitrangig und die Intuition übernimmt die Führung. In einer Zeit, die zunehmend von künstlicher Intelligenz und maschineller Arbeit geprägt ist, beschäftigt sich Moroder mit der Frage, was es bedeutet, mit mehreren Händen und erweiterten kognitiven Prozessen zu arbeiten.

Indra Moroder, Cosmic Tree, 2025

„Painting with both hands, using both sides of the brain brings out new lines, the other lines. The unconventional ones, off the grid.“

„Mit zwei Händen zu malen, beide Gehirnhälften zu benutzen, bringt neue, d.h. die anderen Linien hervor. Es sind die unkonventionellen Linien, die außerhalb des Rasters liegen.“

Alexander Langer hat im Periodikum Letture trentine e altoatesine (1982) die provokante Frage gestellt, wer denn eigentlich der „nationale Held Tirols“ sei. „Die Mehrheit der Befragten“, so Langer, würde ohne zu Zögern auf Andreas Hofer verweisen, den – wie Langer pointiert ausführte – „Anführer des in gewisser Weise Vendée-gleichen Aufstands, der das Tiroler Volk in der napoleonischen Zeit gegen die französisch-bayerischen Heere führte, welche mit ihren Bajonetten die Segnungen der Französischen Revolution und der bürgerlichen Aufklärung brachten.“

Laut Langer gebe es jedoch „in der Tiroler Geschichte eine weitere Gestalt, die in ganz anderer Weise durch europäisches Format und politisch-soziale Bedeutung hervorsticht“: Michael Gaismair, der Bauernführer und „intellektuelle Revolutionär“, der sich in seiner heute berühmten Landesordnung ein von den Prinzipien der Gleichheit und Mitbestimmung getragenes Land erträumte. In der Tat ist er einer der faszinierendsten Figuren der Tiroler Geschichte – und zugleich eine der am meisten vergessenen. Während Hofer als Symbol des Tiroler Widerstandes im nationalistischen 19. Jahrhundert zum Helden Deutsch-Tirols hochstilisiert wurde, verblieb Gaismairs Erbe lange im erinnerungskulturellen Schatten. Erst durch die grundlegenden Arbeiten des tschechoslowakischen Historikers Josef Macek (19221991) Mitte der 1960er-Jahre, der trotz des Eisernen Vorhangs umfangreiche Archivstudien in Österreich, Südtirol und im Trentino unternahm, begann eine Wiederentdeckung seiner Person und seines Wirkens. In Folge gründeten sich zwischen den späten 1970er- und den frühen 1990er-Jahren in allen drei Landesteilen Michael-Gaismair-Gesellschaften. Die Vereinigungen in Nord- und Südtirol, die sich als kritische Gegenstimme zum konservativen Mainstream positionierten, setzen sich mit Themen wie Demokratie, sozialer Gerechtigkeit und Erinnerungskultur auseinander. Besonders betonten sie den offenen, linken und sozialdemokratischen Charakter eines „anderen Tirols“ in Vergangenheit und Gegenwart – eine Lesart, die, zumal in den 1980er-Jahren, alles andere als selbstverständlich war. In diesen wenigen Zeilen klingt schon an, was das Spannende an der Figur Gaismairs ist: seine Rezeptionsgeschichte, also das, was die Nachgeborenen aus ihm gemacht, wie sie ihn für ihre Bedürfnisse interpretiert haben. Zu dieser Frage kommen wir noch später.

Michael Gaismair –ein zeitgemäßer „Held“ Tirols?

Wer war nun Michael Gaismair? Um seine Biografie zu verstehen, lohnt es sich, die Zeitläufte näher zu betrachten, in denen er gelebt hat. Diese waren von tiefgreifenden Umbrüchen geprägt. Die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts war eine Epoche des Übergangs zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit: Neue Ideen, insbesondere durch Renaissance und Reformation, kamen auf, gleichzeitig bestanden viele „mittelalterliche“ Strukturen wie agrarische Subsistenzwirtschaft, feudale und hierarchische Gesellschaftsformen (Ständestaat) fort. Das Konzept „Alteuropas“ (nach Dietrich Gernhard und Peter Blickle) beschreibt diese Kontinuitäten, die sich ungefähr vom Hochmittelalter bis zu den Umwälzungen der Französischen Revolution (1789) und der Industrialisierung erstreckten. Dem „Neuen“ um 1500 wohnte gleichwohl Sprengkraft inne: Der Protestantismus verlangte nach einer Auflösung kirchlicher Machtverhältnisse, der Buchdruck sorgte für die rasche Verbreitung neuer Sozialvorstellungen und Nachrichten, die Schriftlichkeit nahm in allen Bereich rasant zu, sodass Martin Luther aufstöhnte, es „werden noch alle menschen drucker werden“. Gesellschaftliche Krisen verdichteten sich um 1525: Maximilian I. (14591519), der als Kaiser einen expansiven Politikstil pflegte (sichtbar im Ausbau Innsbrucks zur prächtigen Residenzstadt) und territoriale und militärische Ambitionen hegte, hinterließ seinem Enkel Ferdinand I. (15031564) ein finanziell schwer belastetes Land. Ferdinand versuchte daher in Tirol, die hohen Schulden durch umfassende finanzpolitische Maßnahmen abzutragen, was jedoch in der einfachen Bevölkerung für großen Unmut sorgte.

Bauern, einfache Bürger, Bergarbeiter und andere mehr waren bereits durch verschiedene wirtschaftliche und soziale Faktoren belastet. Zu nennen sind Inflation durch Geldentwertung (verringerter Silbergehalt von Münzen), hohes Bevölkerungswachstum seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, während landwirtschaftliche Ressourcen durch ungünstige Witterungsbedingungen („Kleine Eiszeit“) begrenzt blieben, sowie Naturkatastrophen. Wohl gab es in Tirol, im Gegensatz zu anderen Gebieten des Heiligen Römischen Reiches, keine Leibeigenschaft, dafür aber andere Abstufungen „unfreier Arbeit“: hoher Abgabendruck an Adel und Kirche und ungünstige Leih- und Pachtformen für die

ländliche Bevölkerung. Hinzu kam der Verlust gemeinschaftlicher Nutzflächen – sowie des Rechts auf Jagd und Fischerei – in der Gemeinde (Allmenden) zugunsten des Adels. Viele Menschen fühlten sich von politischen Entscheidungen ausgeschlossen. Der Trend in der sich ausformenden Bürokratie, das Gewohnheitsrecht durch das „römische Recht“ (Reichsrecht) zu ersetzen, trug zu einem Gefühl der Heteronomie, der Fremdbestimmung in der einfachen Bevölkerung bei, da die Selbstverwaltung auf Gemeindeebene immer weiter zurückgedrängt wurde. In der Forschung wird dieser Ausbau des frühneuzeitlichen Staates mit dem Begriff der „Territorialisierung“ beschrieben. Diese und ähnliche Gründe können wir für die sogenannte „Bauernkrieg“-Bewegung ausmachen, die an verschiedenen Orten des Reichsgebiets ausbrach. „Bauernkrieg“ (übrigens ein propagandistischer Kampfbegriff der Obrigkeit auf Flugblättern, die Aufständischen bezeichneten sich selbst lieber neutral als „Landschaft“, also als Kollektiv) war nicht nur ein Aufstand der Bauern, sondern eine breit getragene Protestbewegung verschiedener gesellschaftlicher Schichten. Der Historiker Peter Blickle spricht daher lieber von der „Revolte des gemeinen Mannes“. In Süddeutschland entwickelten sich große Bauernrotten, die sich teilweise sogar militärisch mit den Fürstenheeren auseinandersetzten (und anfangs Erfolg hatten). In Tirol brach der Widerstand zeitlich versetzt aus, blieb weniger kriegerisch, aber nicht weniger radikal in seinen Forderungen. Zurück zur Biografie unseres Protagonisten: Michael Gaismair wurde um 1490 in Tschöfs bei Sterzing geboren. Sein Vater war nicht nur gutgestellter Bauer und Inhaber des Sterzinger Bürgerrechts, sondern auch Besitzer von Grubenanteilen (Kuxen) und damit wirtschaftlich besser gestellt als viele seiner Zeitgenossen. Gaismair erhielt eine solide Bildung, besuchte sehr wahrscheinlich die Lateinschule des Deutschen Ordens und stand in Diensten von einflussreichen Persönlichkeiten wie dem Landeshauptmann Leonhard von Völs und dem Brixner Fürstbischof Sebastian Sprenz. Diese Karrierestuften brachte ihn in Kontakt mit zentralen Verwaltungsprozessen in Tirol und gewährte ihm vertiefte Einblicke in die Politik der Fürsten, des Adels und der Kirche. Er kannte also, so vermutet die historische Forschung, die kritisierten Missstände aus erster Hand und hatte gleichsam das bürokratisch-praktische Wis-

Maria Delago, Weinlese, ca. 1955 PUBLIZIERT IN Kunst im Südtiroler Landtag 2024
Indra Moroder, Two Suns, 2024

sen, ihrer auf konzeptionellem Wege zu begegnen. Als „Eingeweihter“ bewirkte er übrigens (um etwas vorzugreifen), dass die Aufständischen nicht nur die Häuser der Adeligen, Domherren und Pröpste plünderten (deren Geld er für seine Kriegskasse benötigte), sondern auch deren Archive zerstörten, in denen die Abgabenverpflichtungen der bäuerlichen Untertanen verzeichnet waren. Ein entscheidender Wendepunkt in seinem Leben waren die Brixner Ereignisse rund um die Befreiung des zum Tode verurteilten Aufständischen Peter Paßler am 9. Mai 1525. Nach dieser Aktion wurde Gaismair zum Anführer der Tiroler Aufständischen gewählt und stellte am 14. Mai 1525 in Neustift ein erstes umfassendes Reformprogramm vor. Dieses sah tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen vor: Die weltliche Macht der Kirche sollte abgeschafft, Klöster aufgelöst und deren Besitz an die Allgemeinheit übertragen werden. Bauern sollten von Abgaben befreit, Pfarrer von ihren Gemeinden gewählt und politische Macht auf drei Säulen verteilt werden: den Landesfürsten, bäuerliche Gerichte und freie Städte. Die Rolle des Adels war auf militärische Funktionen zu beschränken. Zentral war zudem die Kontrolle der Wirtschaftsressourcen durch die Landesverwaltung, um eine Verpfändung von Bergoder Zollregalen an frühkapitalistische ausländische Handelsgesellschaften wie die Baumgartner, Höchstetter oder Fugger zu verhindern.

Vom 30. Mai bis 8. Juni 1525 wurden auf einem TeilLandtag in Meran die sogenannten 64 Meraner Artikel beschlossen, die später in die 96 Innsbrucker Artikel einflossen. Deren Vorschläge waren gemäßigter als das Neustifter Programm und orientierten sich an den 12 Memminger Artikeln: Diese waren Forderungen von Bauernvertretern an die süddeutsche Obrigkeit, die weniger „utopistisch“ gestaltet waren, sondern sich darauf beschränkten, die offenen Missstände im Ständeverhältnis aufzuzeigen. Ein Herrschaftsumsturz war ihnen fremd. Entsprechend forderten die Meraner Artikel umfassende Reformen, aber keine radikale Umgestaltung der Gesellschaft. Erzherzog Ferdinand, der sich ohne militärische Unterstützung zunächst gezwungen sah, die Forderungen anzuhören, spielte auf Zeit und verhinderte ihre Umsetzung, indem er die verschiedenen Stände (reichere gegen ärmere Bürger) geschickt gegeneinander ausspielte. Auf Einladung des Erzherzogs reiste Gaismair zu Ver-

handlungen nach Innsbruck, wurde dort verhaftet, konnte jedoch fliehen. Er fand in Graubünden und Zürich Zuflucht, wo er sich den Ideen des Reformators Ulrich Zwingli annäherte. In den Salzburger Bauernkriegen war er noch federführend beteiligt, bis diese, wie auch die Tiroler Aufstände, grausam niedergeschlagen wurden. Später trat er als militärischer Führer in die Dienste Venedigs, das damals gegen Habsburg im Krieg stand. 1526 verfasste er seine berühmte (zweite) Landesordnung, ein revolutionäres Konzept auf der Grundlage der Neustifter Ideen mit einer neuen Gesellschaftsordnung. Diese war weit radikaler als frühere Forderungen. Gaismairs Landesordnung verband realpolitische Erwägungen mit utopischen Ideen und zeigte sein tiefes Verständnis für territoriale Verwaltungsprozesse. Der Entwurf sah eine umfassende Entmachtung von Kirche und Adel, eine gerechte Verteilung von Ressourcen und eine weitgehende wirtschaftliche Autarkie Tirols vor. Er wurde jedoch nie zu seinen Lebzeiten veröffentlicht oder gedruckt, auch nicht als Propagandainstrument gegen die Habsburger. Ein Umstand, der verwundert, wenn man an die massenhafte Verbreitung der Memminger Artikel (Auflage bis zu 25.000 im Reich – ein gewaltiger „Bestseller“ ihrer Zeit) oder an die voll ausgebildete Druckereilandschaft Venedigs denkt. Als Edition publiziert wurde die Gaismair'sche Landesordnung zum ersten Mal 1932 in einem Schlern-Artikel des österreichisch-britischen Historikers Albert Hollaender (1908-1989). Gaismairs Leben endete gewaltsam: Am 15. April 1532 wurde er auf seinem Landsitz in Padua von gedungenen Killern ermordet. Seine Frau Magdalena Ganner verkaufte das Haus und zog mit ihren vier Kindern in die Schweiz. Ob sein Tod auf die Anweisung Ferdinands zurückzuführen war oder andere politische Interessen eine Rolle spielten, bleibt bis heute unklar. Gaismairs Rezeption blieb über Jahrhunderte ambivalent. Gleich nach der Niederschlagung der Revolte einer damnatio memoriae unterworfen und im Grunde nur wenigen Eliten Tirols bekannt, entdeckte ihn das 19. Jahrhundert im großen Stil wieder: Namentlich Friedrich Engels erklärte Gaismair zum revolutionären Vorkämpfer der Freiheit der Bauern und Arbeiter (die „frühbürgerliche Revolution“). Der Schriftsteller Josef Wenter, der während der NS-Zeit sehr erfolgreich war, versuchte aus dem Tschöfser eine völkische Helden-

figur zu machen, wie überhaupt der Nationalsozialismus aus Gaismair eine antisemitisch-antiklerikale Galionsfigur zu konstruieren versucht hat. Die konservative Tiroler Geschichtsschreibung hat Gaismair lange Zeit marginalisiert, und erst das letzte Drittel des 20. Jahrhundert würdigte, wie eingangs erwähnt, seine Rolle als Sozialvisionär. Freilich kann er nur aus seiner Zeit heraus verstanden werden, die aus der Perspektive der historischen Anthropologie wie ein fremdes Land erscheinen muss. Gaismair agierte im Rahmen einer Ständegesellschaft, seine Vorstellungen von „Freiheit“, „Gerechtigkeit“ und „Gleichheit“ waren biblisch und reformatorisch grundiert und noch fern von den Idealen der Aufklärung und der französischen Revolution, die uns Heutigen viel näher ist. Vielleicht unterrichten uns diese so unterschiedlichen Sehepunkte auf Gaismair über unseren eigenen Umgang mit Geschichte. Eine Beschäftigung mit Gaismair, seinem Programm und seiner Zeit lohnt sich jedenfalls – wir können viel über Strukturen und Bedingungen sozialer Ungleichheit und Machtmissbrauch lernen, damals wie auch heute.

Es war Anfang Dezember 1995, als ich am Bahnhof Utrecht Centraal ankam. Das Thermometer zeigte tief in den Minusbereich, es wehte ein eisiger Küstenwind bis ins Landesinnere herein, die Grachten waren zugefroren, und die Menschen hasteten von den Zügen in Autos oder Geschäfte und Häuser.

Mir machte das alles nichts aus, ich war zwanzig Jahre alt und hatte das Gefühl, endlich in Freiheit angekommen zu sein. Das war die neue Welt, in der ich bleiben würde. Die kleinen Häuser, die fremde Sprache auf den Anzeigentafeln und ihr Klang in meinen Ohren, die kurzen schnellen Züge, die freundlichen, ruhigen Menschen. Dieses Utrecht legte sofort einen Glitzer über mich.

Bart hatte mir detaillierte Anweisungen gegeben, wie ich zu seinem Haus in der Lanslaan gelangen würde. Dieses Haus war kein gewöhnliches Haus, sondern ein besetztes Schulgebäude in einem Randbezirk der Stadt, zwischen großen Alleen und grauen Wohnhochhäusern der Siebzigerjahre, in einer kleinen, verschlafenen Siedlung aus einstöckigen Reihenhäusern. Dort stand dieses Lförmige Schulgebäude, ohne Stockwerke, nur zwei lange Gänge, aus denen die Klassenräume abzweigten.

»Hi« sagte Bart und schüttelte mir die Hand. Er zeigte mir das Gästezimmer, das war ein unbeheizter und fensterloser Raum, der früher vermutlich eine Abstellkammer gewesen war. Das Zimmer war trotzdem geräumig und auch hell, da es zum Gang hin zwei große Fenster und an der Decke ein Oberlicht besaß. Nur konnte ich nicht nach draußen schauen, das war weniger romantisch. Vormittags lag ich oft im Schlafsack, las Bücher, ich hatte ständig eine gefrorene Nase. Und es liefen den ganzen Tag Menschen an den Fenstern vorbei. Ein Stück weiter den Gang hoch gab es nämlich ein Atelier und ein Musikzimmer. Deswegen hängte ich irgendwann zwei große Schals auf.

In der Woche vor Weihnachten gingen wir Schlittschuhlaufen. Das Eis auf den Grachten war mittlerweile dick genug, um die halbe Stadt auf sich zu tragen. Auf der Oude Gracht konnte man sich an den Kaimauern ausruhen und einen Glühwein trinken. Über Nacht schmissen die Leute Kühlschränke von den Brücken auf das Eis. Die Eisschicht war aber zu dick, um unter dem

Aufprall der Kühlschränke nachzugeben. Überall in der Stadt lagen die Kühlschränke unter den Brücken. Ich weiß nicht, was es damit auf sich hatte.

An den Weihnachtstagen saß ich mit einigen fremden Leuten im Wohnzimmer dieses Schulgebäudes und wir wärmten uns an einem Gasofen, der für die Größe der Küche ziemlich unter dimensioniert war. Aber es war nicht die Schuld des Ofens, es war die Schuld des Raumes, Räume, die für Schulklassen entworfen sind, sind riesig, niederländische Haushaltsgasöfen können solche Räume nicht beheizen, zudem waren diese meterhohen Fenster nur einlagig verglast. Das verstand ich nicht, die Niederlande liegen schließlich nicht in Südeuropa, die Kinder mussten doch frieren. Mir war jedenfalls nicht warm.

Ehrlich gesagt, war das eine deprimierende Zeit. Ich fühlte mich einsam. Bart war ein sehr ernsthafter politischer Aktivist, der nur wenig Freude aus menschlicher Interaktion zog. Ich hatte ihn und seine damalige Freundin Saskia im vorangegangenen Sommer auf einem Festival in Rovereto kennengelernt. In meinem Freundeskreis hatten die Leute gerade das Abitur abgeschlossen, sie hatten sich für die Unis in Wien oder Bologna eingeschrieben, manche gingen nach Mailand oder nach München. Ich hingegen hatte nur eine abgebrochene Druckerlehre in der Tasche. Die Aussicht darauf, meinen Freunden in ihr Studentenleben nach Wien zu folgen, betrübte mich, für sie war es ein Aufbruch in ein neues Abenteuer, für mich war dieses Leben als Student in einer überteuerten WG in dieser Stadt der schlechtgelaunten Menschen aber eine grauenvolle Vorstellung. Und dennoch zog ich nach Wien.

Bart wusste von alledem nichts, weil wir uns aber gut verstanden, hatte er mir seine Adresse gegeben. Ich solle ihn doch mal besuchen kommen, sie hatten in ihrer besetzten Schule ein Gästezimmer, es stünde mir offen. Die Adresse eines besetzten Hauses in Utrecht, Niederlande. Das hatten die anderen nicht.

Nun war ich keineswegs in der Annahme nach Utrecht gereist, dass Bart mein Freund werden würde, ich war schlichtweg froh, einen Anlaufpunkt zu haben, eine Perspektive zu haben, das war alles, was ich brauchte. Dass Bart und ich aber nach dem sehr netten Abend

auf dem Festival in Rovereto überhaupt nicht mehr anknüpfen konnten, erstaunte mich dennoch. Auch die anderen Bewohner zeigten wenig Interesse. Ich war ja noch sehr jung, die Bewohner waren sicherlich 25 Jahre alt und darüber. Bart hätte ich auf 30 geschätzt. Sie hatten alle ihr Leben, ihr Studium, ihren Freundeskreis, ihre Meetings. Für sie war ich einfach der soundsovielte fremde Gast aus irgendeinem europäischen Land, der sein Glück suchte.

Dienstags und freitags war das ACU in der Voorstraat geöffnet. Dort konnte ich bis tief in die Nacht sitzen und es störte niemanden, wenn ich nur ein einziges Bier trank. Ich hatte eine Million Lire von meiner Druckerlehre übrig. Das war etwas mehr als ein Lehrlingsgehalt. Wenn ich sparsam damit umging, konnte ich sicherlich drei Monate davon leben. Das ACU befand sich ein ganzes Stück weiter stadteinwärts, für mich war das ACU aber ein wichtiger Bezugspunkt. Dort gab es neben billigem Bier auch die Besetzersprechstunde, dort würde ich andere Hausbesetzer treffen und solche, die auf Wohnungs suche waren, also jene Leute, mit denen ich mich zusammen schließen wollte.

Eines Tages kamen Greetje und Maarten auf mich zu. Greetje war eine kleine Frau in meinem Alter. Sie hatte rote Backen und ihr blondes Haar zu einem langen Zopf gebunden. Sie hätte einem deutschen Heimatfilm entsprungen sein können. Dazu trug sie eine Jogginghose mit schweren Springerstiefeln und einen schäbigen Pullover. Maarten hingegen war zwei Meter groß, sehr schlaksig und mehr der Hippietyp. Er hatte lange Haare und trug eine Kette aus Leder, an der ein großes, rundes Symbol, das einer Sonne ähnelte, hing.

»Hey« wurde ich unvermittelt auf Englisch angesprochen »Du bist der Typ aus Italien? Du suchst jemanden zum Besetzen, haben wir gehört«.

»Ja.«

»Lass uns ein Bier trinken«, sagte Maarten.

»Mein Niederländisch ist aber schlecht. Mein Englisch auch, um ehrlich zu sein.«

»Das wissen wir schon.«

Markus Pfeifer
Markus Pfeifer Springweg brennt
142 Seiten, edition schelf, 2025

Simon Steinhauser: Der Mut, Neuland zu betreten

Per n valguni iel mé n sas - datrai aut, datrai bas, suvёnz sёnza n pёil, bel las. cuca da viere ora y se mpёnsa: Pu eh, a ti cialé iel bel assé, da duman, da sёira, muda for culёur, ma scané su sun tl sas frёid o monce jì ora sun ёur, no, plu gёn me n stei te mi stua bona ciauda sun fёur.

Ëi ne ie nia boni de capì coche cёrc fej a jì, unfat te ciuna sajon, su per tl toch de puron, rischian datrai nce de tumé ju, per pona, do vester ruvei su sun piza y avёi cialà ju, inò bel plan scané ju.

ne ie nia boni de capì che per cёrc ie crёp scialdi deplu che mé n sas, ie n pez dla natura, udù cun autri uedli, na marueia che fej ueia de la scuvrì, y nscì ne se tёmi nia de ti jì permez per pudёi la viver da daujin. ne se tёm nia dala ria luna dla natura, da levines, da tampestes, dal frёit, ne se tёm nia dala fadia, dala sёit, se mpunta de rué sun piza azetan uni pericul, savan de pudёi nce jì ncontra ala mort.

Ti feji pa nscì nia n tort a chёi che aspieta sun ёi?

O iel pa propi la tёma dal murì che ti dà drёt respet per crià?

Ie pa se rёnder cont che dut possa da n mumёnt a auter avёi na fin per ёi de utl per valuté defin uni var?

Ëi ti va for plu daujin al crёp, povester per capì defin, ciuna che ie si drёta belёza, chёla che ne ie nia da udёi me nscì, ala prima udleda, ёi uel savёi de ciche ie fat, crёp, ёi uel ti cialé ti uedli, ëi uel tuché, rujené limpea, tufé, scuté su ciche à da ti cunté per pona se cumpurté aldò y respeté.

Coche l’eguia, che julan ncantёur da na piza a l’autra se god duta la belёza dl crià, se god ёi la lidёza dl vester al’ auta, n pesc cun se nstёsc trajan sot flá, cuntёnc de chёl che tla vita ai fà, sun piza se sёnt ёi mo plu daujin ai siei de familia, aman cun duta si forzes, se rendan cont dla fertuna che i à de pudёi viver sun chёsc mont.

Per ёi ie l crёp la majera font de respet y amor, da sciazé sciche or.

A pensé che per n valguni ie y resta crёpes, datrai auc, datrai basc, suvënz sënza n pëil, biei lasc, nia auter che n mudl de sasc.

Irene Moroder, nuvëmber 2017 Deutsche Übersetzung Berg

Für die einen ein simpler Stein, für die anderen weit mehr: Sie besteigen den Berg, riechen daran, sprechen mit ihm, berühren ihn, hören zu, was er ihnen zu sagen hat, lieben und respektieren ihn. Sie nehmen Gefahren auf sich, rechnen mit Durst, Kälte, Schmerz, sogar mit dem Tod: Tun sie damit denen, die zu Hause in Sorge auf sie warten, nicht unrecht?

Irene Moroder wurde 1976 in Bozen geboren und lebt in St. Ulrich in Gröden. Die dreifache Mutter ist Grundschullehrerin, Kinderbuchautorin und Poetry-Slammerin. Sie schreibt auf Deutsch, Italienisch und Ladinisch.

y canche tumove

per fonz me auzovel su me cunselan, me drucan. Uni sёira me ciantovel dant la ciantia dla bona nuet cialan dì per dì de culmì uet, chёl uet che da for, da canche son nasciuda sёnte te mé, n’agitazion che me fej pensé do uni menut da ulache ie ruve, ie ue capì, dut ie asniblà, ie ue capì chiche ie son, ёnghe sce l’aurità me fajerà mel.

Tu che te ies ruvà da nzaul caprò. Tu che te me fejes di y nuet pensé do. Tu che te ne ses nia da me dì coche te es inuem, judeme a capì.

Va bёn, Perla, sёn che te ies granda assé uei tla cunté, la storia de ti vita, ёnghe sce sé che ne sarà nia saurì per te l’azeté. Perla, rai dl surёdl, chёl che tu tlames pere te à dan vint ani rubà, te à tёut sotora a ti genitores, a ti oma che te purtova tl grёm, te ies unida al mond te na prejon, te n ciulé scur defin che fej mprescion, ti oma punduda sun na brёia dura sciche peton, tacheda jù cun ciadёines che ti drucova ite la vёines ti tulan demez l flà, de si persona la denità, doi ёufemes dassova ti judé, ma sёnza ti dì na parola y sёnza ti cialé ti uedli, ti oma te à parturì nscì, svaian ora si anima, ne savan nia sce l fova nuet o dì, y do che la te ova scincà la lum dl mond y tu cun duta ti forzes oves svaià, te à chёl che tu tlames pere purtà demez da ti oma che bel achiet à metù man de bradlé sentian n dulёur massa grant da pudёi supurté. Chёl che tu tlames pere à sciche ufizier dla marina fat scumparì milesc y milesc de persones, les smacan ju tl mer, ulache nce mi corp ie suplì. Coche nce chёl de ti oma che ti mus ne á mei pudù udёi, ma sёn che cёle te ti uedli, medemi ai siei, me vёn da pensé che si anima à bel da giut lascià mer y vif sёn te té.

Perla, mi pitla muta, ce bel che fos’a stat a pudёi fé cun tè vic y ac, dajёsse dut per pudёi vester stat chёl che te à nsenià a fé lac. Mi pitla muta, n’ёila ies urmei deventeda y sёn che te cunёsces ti ravises, va inant, mo plu da snait, per ti streda. Ti oma y ie te stajeron daujin y chёsc iede, sce ti cuer ulrà, nchin a la fin.

Irene Moroder, lugio 2017 Test ispirà al liber “Perla” de Carolina De Robertis (Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, Juli 2014)

Deutsche Übersetzung Der, den du Vater nennst Das Gedicht thematisiert das Schicksal der in Argentinien erschwundenen Desaparecidos und ist inspiriert vom Roman „Perla“ von Carolina De

Herzlich willkommen in der SAAVanne. Kein immergrüner Regenwald, dessen Luftfeuchtigkeit Ihnen den Atem raubt. Keine Wüste, deren sengende Hitze Sie um den Verstand bringt. Lassen Sie den Blick in aller Ruhe schweifen –wenn Sie ganz genau hinschauen, können Sie sehen, was für feine Gräser, Sträucher und Bäume da wachsen…

Das Interview von Judith Waldmann mit dem Künstler, ehemaligen Kurator und ehemaligen Landwirt Simon Steinhauser über Kunst und die Freiheit, sich selbst immer wieder neu zu erfinden, ist auf Salto.bz nachzulesen. SAAVanne Die Rubrik der Südtiroler Autorinnen- und Autorenvereinigung

Robertis (Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main, Juli 2014).
Autoportrait, 2007 FOTO Tiberio Sorvillo smoked banana, 2023 FOTO Tiberio Sorvillo

Hans Haackes Institutionskritik und die ästhetische Marktgläubigkeit

Mit Blick auf die politischen Verwerfungen, die sich in den letzten Monaten ereignet haben und weiter scheinbar täglich ereignen, wurde, sicher so ungeplant aber nichtsdestoweniger gerade zur rechten Zeit, am 8. November 2024 in der Frankfurter Schirn eine sehenswerte Retrospektive Hans Haackes eröffnet, die inzwischen ins Wiener Belvedere weiter gezogen ist und dort bis zum 8. Juni zu sehen sein wird.

Hans Haacke ist seit seinem künstlerischen Start Anfang der 60er Jahre ganz eindeutig ein Künstler, der nicht in l’art pour l’art Traumwelten flüchtet, sondern sich einmischt und dabei, ähnlich wie Pierre Bourdieu, mit dem er zu dessen Lebzeiten in engem Austausch stand, die Orte, an denen Kunst in Erscheinung tritt und höhere Weihen erfährt, immer wieder in Frage stellt. Mit großer Konsequenz hat er dabei die Bedingungen erforscht, unter denen Kunst im sogenannten kapitalistischen Westen Sichtbarkeit erlangt. Dabei wurde deutlich, wie eng die tonangebenden privaten, aber auch öffentlichen Institutionen mit dem nationalen und internationalen Großkapital verknüpft sind. Etwas pointiert könnte man sagen: Das Kunstfeld ist in seiner Unreguliertheit ein Testfeld für gesamtgesellschaftliche neoliberale Weichenstellungen.

Der maximal geschwächte Staat (s. das unerbittliche Pochen der deutschen Konservativen und Liberalen auf die Schuldenbremse, das inzwischen Geschichte ist und offensichtlich nur ein Wahltrick war, um wieder an die Macht zu gelangen) soll der segensreichen, unsichtbaren Hand des Marktes, gemäß dem neuen Grundsatz, dass, wer kein Publikum hat, auch kein Talent besitzt, die Kunstbewertung überlassen. Haacke war schon in den 70er Jahren massiven Ausgrenzungsbemühungen seitens etablierter institutioneller Kräfte ausgesetzt. So hat z.B. Thomas Messer der Leiter des Guggenheim Museums in NewYork, eine geplante Ausstellung mit Haacke 1971 wegen der Arbeit Shapolsky et al. Manhattan Real Estate Holdings, A Real Time Social System, as of May 1, 1971, die sich mit Immobilienbesitz und -spekulationen beschäftigt, kurzfristig abgesagt. Trotz all dieser Schwierigkeiten ist er seither seiner Haltung

konsequent treu geblieben und hat, wie bereits ausgeführt, immer wieder politische Fragen in das Zentrum seiner künstlerischen Interventionen gestellt.

Die Retrospektive in der Schirn bzw. dem Belvedere zeigt in ihrer historisch aufgebauten Werk(Installations) schau überzeugend, wie Haacke seit seinem Kunststudium in Kassel Ende der fünfziger Jahre zu dem Institutionskritiker wurde, nachdem inzwischen eine ganze Kunstrichtung benannt ist.

Ein gutes und gerade wieder sehr brisantes Beispiel dafür ist die Arbeit DER BEVÖLKERUNG im nördlichen Lichthof des deutschen Reichstagsgebäudes aus dem Jahr 2000, die mit Texten, Fotos und Videos in der Ausstellung präsentiert wird. Die 1,20 Meter hohen Leuchtbuchstaben sind in der Längsachse des Hofes angeordnet und vom Plenarsaal des Bundestags aus von Westen nach Osten zu lesen. Sie beziehen sich auf die im Giebel des Reichstagsgebäudes außen angebrachte Inschrift DEM DEUTSCHEN VOLKE.

Wesentlicher Teil von Haackes Konzept ist, dass die Abgeordneten des Bundestags (aktuell 630) nach ihrer Wahl jeweils aufgerufen sind, einen Zentner Erde aus ihrem Wahlkreis in den Lichthof zu bringen. Diese Erde wird um die Buchstaben herum in einem umfassenden Holztrog ausgebracht. Die in den Gaben enthaltenen Samen können sich anschließend frei von pflegenden gärtnerischen Eingriffen entfalten. Der Wachstumsprozess und der dem Rhythmus der Legislaturperioden angepasste Austausch von Erde dauert, so Haackes Konzept, solange demokratisch gewählte Volksvertreter im Reichstagsgebäude zusammentreten. Parallel zum großen Hochbeet verweisen Texttafeln auf die beteiligten Politiker und deren Wahlkreise, sodass über die Jahre auch ein Informationsfeld darüber entsteht, wer wann für welche Partei im deutschen Bundestag welchen Wahlkreis vertreten hat.

Statt eines Rosengartens im Sinne Adenauers, wo die Heckenschere herrschte, sehen Abgeordnete wie Besucher des deutschen Bundestags, also an prominen-

Autor*innen

Roland Benedikter Co-Leiter des Center for Advanced Studies Eurac Research sowie UNESCO Chair for Anticipation & Transformation, Bozen

Juan Cruz Díaz Managing Director der Cefeidas Group und Berater für Americas Society/Council of the Americas (AS/COA), Buenos Aires

Andreas Gross Politikwissenschaftler, Historiker und Urheber zahlreicher eidgenössischer Volksinitiativen, St. Ursanne

Indra Moroder Künstlerin, St. Ulrich/London

Irene Moroder Autorin, Gröden

Santiago Ott Leitender Risiko-Analyst für Politik und Strategieberater der Cefeidas Group, Buenos Aires

Haimo Perkmann Kulturjournalist, Meran

Josef Prackwieser Vorsitzender der Michael-Gaismair-Gesellschaft und Historiker am Center for Autonomy Experience Eurac Research, Bozen

Markus Pfeifer Freischaffender Autor, Berlin/Deutschnofen

Thomas Sterna Künstler, Aschaffenburg/Meran

Simon Steinhauser Künstler, ehemaliger Kurator, ehemaliger Landwirt, Wien/Ritten

Judith Waldmann

Kuratorin für moderne und zeitgenössische Kunst, Museum Schloss Moyland, Kevelaer

ter Stelle, eine wild wuchernde „Unkrautplantage“, die ein traditioneller Bauer wahrscheinlich bevorzugt mit Glyphosat behandeln würde. In den engen Grenzen des Hochbeets appelliert dieses Wildwuchs-Ready-Made mit hoher Symbolkraft jetzt einmal mehr an uns alle, grundsätzlich neu und kritisch über das aktuell zentrale Thema Migration nachzudenken. (Für Friedrich Merz und seine Gang dürfte die Arbeit, wenn sie die Installation denn überhaupt zur Kenntnis nehmen, darum ein permanent nervendes Ärgernis darstellen.)

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