#183: Brenva

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Inhalt

Gletscherforschen im Klimawandel

2025 wurde auf Anregung Tadschikistans von den Vereinten Nationen zum Jahr der Erhaltung der Gletscher ausgerufen. Tadschikistan beherbergt, neben einer Reihe anderer großer Gletscher, mit dem 70 km langen Fedtschenko-Gletscher den längsten der Welt außerhalb der Eischilde auf Grönland und in der Antarktis.1

August 1979, 46°47‘41‘‘N, 10°45‘58‘‘E: Es ist ganz still während der letzten Nachtstunden. Nicht einmal von den Graten über mir oder vom Tal tief unten dringt ein Geräusch hierher. Nur wenn ich von einer Messstelle zur anderen gehe, bricht die von der trockenen Luft raue, fragile Eiskruste unter meinen Bergschuhen mit lautem Knirschen. Schritt für Schritt von Messbehälter zu Messbehälter, rund 15 Minuten lang. Dann sitze ich wieder auf meiner Zargeskiste, beobachte die Eisoberfläche, mache Aufzeichnungen und versuche, in der Stille irgendein Geräusch auszumachen. Vergeblich zuerst, seit sich bald nach Mitternacht der leichte Luft-

zug aus den Hängen über mir gelegt hatte. Zur nächsten vollen Stunde beginne ich, dann im ersten Tageslicht, wieder meine Messrunde. Dann plötzlich erglühen die ersten Gipfel im Sonnenlicht und schnell tastet dieses sich die Hänge herab und bald umfließt mich seine Wärme. Im selben Augenblick beginnt ein Knistern um mich herum, zuerst zaghaft, dann bestimmt, immer lauter und aufgeregter. Eisstückchen brechen an der Gletscheroberfläche und beginnen zu schmelzen. Unvermittelt mischt sich da und dort ein Gurgeln in das Rascheln, wird lauter, bald flächendeckend, nimmt immer öfter einen Schwall fernen Rauschens von den Hängen her auf und steigert sich unmittelbar zu einem großen, das ganze Gletscherbecken einnehmend lauten, schwankenden Rauschen. Eine Unzahl von kleinen Bächen leitet das immer mehr werdende Schmelzwasser über das Eis in die nächste Spalte, in eine Gletschermühle weiter unten und ins Tal. Wieder hat ein schöner Sommertag begonnen. Bald steige ich

Der Gletscherschwund macht für Johannes Schmidl Unsichtbares sichtbar.

Von menschlichen Behausungen im ewigen Eis berichtet Giorgio Azzoni

Franz Jäger erörtert das einstige Leben in der dämonischen Natur von Gletschern.

Stephanie Falkeis berichtet im Interview über ihren Film Elegy for A Glacier

Über das Buch als künstlerisches Medium sprechen Christian Lübbert und Arnold Mario Dall'O

Die SAAVANNEN werden von Texten und Zeichnungen aus dem Gedichtband DunstLicht von Martin Streitberger bevölkert.

Drei Sommerlektüre-Tipps gibt Lydia Zimmer

GALERIE

Gletscher als uralte Zeugen der Naturgeschichte bildet Daniela Brugger im Licht der Gegenwart ab.

BILDSTRECKE

Jessie Pitt malt das Gletschereis im Ötztal.

Brenva

Auf einer Moräne in einem Hochgebirgstal steht eine aufblasbare, 10 Meter lange und 1,5 Meter hohe blaue Wand, umrahmt von steilen Bergspitzen und einigen Schneefeldern. Eine kleine Videodrohne fliegt über die Wand, der Moräne entlang, das Tal hoch. Sie fliegt langsam, sie tut sich schwer, denn die Luft in dieser Höhe ist dünn. Zu hören ist menschlicher Atem, auch dieser ist angestrengt und schwer. Brenva heißt die Skulptur und das dazugehörige Video des Fotographen und Videokünstlers Stefano Cerio, der seit seiner Kindheit das Aostatal kennt. Er hat die blaue Plastikwand mit dem surrenden Luftkompressor dort aufgestellt, wo in seiner Kindheit – als er das erste Mal vor dem Brenva-Gletscher am Mont Blanc stand – der Gletscher endete. Fünfzig Jahre später steht dort die blaue Wand und für etwa zehn Minuten ist im Video die Aufnahme der Drohne zu sehen, wie sie über die von Pionierpflanzen leicht bewachsenen und später kargen Schutthalden fliegt, bis sie endlich zur heutigen Gletscherzunge kommt. Dann endet das Video. Mit Brenva präsentiert Cerio die Leere, welche das „ewig“ genannte Eis hinterlässt, während es vor unseren Augen langsam, aber anscheinend unaufhaltsam dahinschwindet.

Die Vereinten Nationen haben 2025 das Internationale Jahr zur Erhaltung der Gletscher ausgerufen. Dies hat Johannes Schmidl dazu veranlasst, auf die Kulturelemente -Redaktion zuzugehen, mit dem Vorschlag, sich mit den Gletschern als Vermittler zwischen der geologischen Tiefenzeit, die wir sinnlich als Stillstand erfassen, und der Menschenzeit, die sich an Änderungen in Rhythmen innerhalb der eigenen Lebensspanne orientiert, zu beschäftigen. Es geht in dieser Ausgabe der Kulturelemente um das Sichtbarmachen des Klimawandels, um das Gehen, Weitergehen und Vergehen, aber auch um den Versuch, all dies durch Technik, Plastikplanen, Glauben und Aufklärung aufzuhalten.

Hannes Egger

HERAUSGEBER Distel-Vereinigung

ERSCHEINUNGSORT Bozen

PRÄSIDENT Johannes Andresen

VORSTAND Peter Paul Brugger, Martin Hanni, Bernhard Nussbaumer, Reinhold Perkmann, Roger Pycha

KOORDINATION Hannes Egger, Haimo Perkmann

VERANSTALTUNGEN

PRESSERECHTLICH

VERANTWORTLICH Karl Gudauner

FINANZGEBARUNG Christof Brandt

SEKRETARIAT Hannes Egger

– 39100 Bozen, Silbergasse 15 Tel +39 0471 977 468

Fax +39 0471 940 718 info@kulturelemente.org www.kulturelemente.org

GRAFIK & SATZ Barbara Pixner

DRUCK Fotolito Varesco, Auer

LEKTORAT Vera Klauser Soldà

BEZUGSPREISE Inland Euro 3,50, Ausland Euro 4,00

ABONNEMENT Inland Euro 22,00, Ausland Euro 29,00

BANKVERBINDUNGEN Südtiroler Landessparkasse Bozen

IBAN IT30 F060 4511 6010 0000 1521 300 Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Südtiroler Landesregierung, Abteilung Deutsche Kultur

Die kulturelemente sind eingetragen beim Landesgericht Bozen

unter der Nr. 1/81. Alle Rechte sind bei den Autorinnen und Autoren. Nachdruck, auch auszugsweise, ist nur mit Genehmigung der Redaktion und Angabe der Bezugsquelle erlaubt.

zu unserer kleinen Forschungsstation auf, frühstücke mit Friedl, der mich dann bis zum Abend bei der Messstelle unten am Gletscher ablöst.

Wasser kommt – als einziger Stoff – in der Natur in allen drei Aggregatzuständen vor: im festen Zustand als Schnee, Hagel oder Eis; flüssig als Grund- oder Oberflächenwasser und gasförmig als Wasserdampf in der Luft. Praktisch nur in Gletschern existieren sie anhaltend gleichzeitig. Nur wenigen, sehr kalten Gletschern fehlt im Winter das flüssige Wasser.

Das unmittelbare Zusammenspiel der drei Phasen macht aus Schneeflocken körniges Gletschereis, lässt Gletscher so fließen wie sie es tun, macht sie zu saisonalen und langfristigen Wasserspeichern und macht sie zu sensiblen Klimamessgeräten, die wir nur lesen lernen müssen.

Wir waren der Verdunstung von Schnee und Eis auf der Spur. Wollten wissen, wieviel sie zum Masseverlust eines Alpengletschers beiträgt. An Einzeltagen registrierten wir bis zu 2 Millimeter Abtrag, übers Jahr kamen wir auf rund 12 Zentimeter. Es war aber nicht so sehr die Verdunstung von einer mit flüssigem Wasser überzogenen Eisoberfläche, der Abtrag erfolgte vor allem von der gefrorenen, festen Oberfläche als Sublimation. Von der Eisoberfläche austretende Wasserdampfmoleküle entfliehen dabei direkt in die trockene Luft. Wenn die Luft sehr trocken ist, kann auch von einer sehr kalten Eisoberfläche Sublimation erfolgen. Da dieser Vorgang sehr viel Energie verbraucht, kann die Eisoberfläche andererseits auch bei warmer Luft von 10°C gefroren bleiben. Rund achtmal mehr Energie braucht die Sublimation als das Schmelzen, 12 Zentimeter Sublimation im Jahr „verhindern“ das Schmelzen von rund einem Meter Eis.

Gletscher sammeln überall an ihrer Oberfläche lokale Ergebnisse aus Wetter und Witterungen. Schnee bleibt erst einmal liegen, nimmt Energie von der Sonne und aus der Atmosphäre auf, schmilzt und sublimiert. Bleibt ein Teil des Schnees von einem Jahr zum anderen und in der Folge über mehrere Jahre, formt er sich um zu Firn und schließlich zu Gletschereis. Dieses schmiegt sich wie ein plastischer Körper in die Landschaft und rutscht und fließt wie eine sehr zähe Flüssigkeit hangabwärts. Gletscher als Ganzes zeigen uns schließlich das Klima, dessen Schwankungen und nun auch den menschgemachten Wandel in einem neuen Systemzustand. Dies tun sie, indem sie verzögert und gedämpft größer oder eben kleiner werden. Wie ein Thermometer auf eine Temperaturänderung reagiert, reagiert ein

Gletscher auf eine Klimaänderung, indem er die Gesamtheit der Klimagrößen zusammenfasst, denen er über Jahre und Jahrzehnte ausgeliefert ist: Schneefall, Sonnenstrahlung, Infrarotstrahlung aus der Atmosphäre, wärmere oder kältere Luft, trockenere oder feuchtere Luft, Wind und Wolken. Dabei kann er selbst Sonnenstrahlung abweisen, im Infrarot abstrahlen oder Wärme an eine kalte Umgebung abgeben. Dadurch ändert sich die Masse eines Gletschers und in der Folge seine Länge. Kleine und steile Gletscher ändern ihre Länge schneller als große und flache Gletscher. Die ursächlichen Prozesse muss man aufwändig messen, von Punktmessungen extrapolieren. Das gilt für das Verstehen heutiger Vorgänge genauso wie für die Rekonstruktion von Ursachen ehemaliger Gletscherstände.

Ab 1988: Wir hatten für diese Messungen kleine, in die Gletscheroberfläche eingelassene und mit körnigem Gletschereis gefüllte, doppelwandige Plastiktöpfe über insgesamt fast drei Wochen stündlich gewogen. Zuerst im hohen Einzugsbecken, dann auf der Zunge des Hintereisferner. Ein Kollege hat diese Messgeräte später „poor man’s lysimiter“ genannt. Rund 1.000 solche Kästen würden in ein großes Lysimeter passen. Anstatt großer unterirdischer Waageanlagen verwendeten wir eine kleine Küchenwaage. Die Kleinlysimeter taten uns dann auch phantastische Dienste in großen Höhen auf den Bergen der Erde. Daneben wurden mit einfachen Messgeräten Temperatur, Feuchtigkeit und Wind über der Gletscherfläche gemessen. Mit ersten Infrarotmessgeräten auch die Oberflächentemperatur. Mit den Jahren wurden diese einfachen Messgeräte von immer genaueren und detaillierter aufzeichnenden ersetzt. Die Informationen wurden nicht mehr nur in einer, sondern in zwei und mehr Höhen über dem Eis gemessen. Das erlaubte die vertikalen Austauschvorgänge an Wärme, Feuchte, Strahlung und Impuls genauer zu quantifizieren. Mit diesen Geräten und den kleinen Lysimetertöpfen ist unser kleines Team dann dorthin gegangen, wo es wirklich und während ganzer Jahreszeiten sehr trocken ist. Zuerst in die Cordillera Blanca nach Peru, später auf die Berge Ostafrikas. Wir wollten von den Gletschern mehr über das tropische Klima und seine Veränderungen erfahren. Mehr als nur, dass die Luft wärmer wird.

Außerhalb der beiden Eisschilde Grönlands und der Antarktis bedecken rund 275.000 kleine Gletscher eine Fläche von ca. 700.000 km2 rund zweimal jener von Deutschland. Sie fassen Eis im Ausmaß von rund 158.000 km sind also im Mittel 226 m dick und speichern das Potential, den globalen Meeresspiegel um 0,32 m ansteigen zu lassen.3

Ab 2001: Weltweit informieren tausende Wetter- und Klimamessstationen in sehr kurzen Zeitschritten über die wichtigsten atmosphärischen Kennzahlen knapp über der Erdoberfläche. In den Tropen sind es weniger und mit zunehmender Höhe magert das Messnetz aus. Hätten Klimaforscher ein paar Wünsche frei, dann würde einer wohl der sein, eine Messanordnung von verschiedenen Instrumenten über dem Äquator und ungestört von Hindernissen in die Mitte der Höhe der Atmosphäre zu setzen. Einen rund 6.000 Meter aus

Süden und nach Norden ausgerichtet. Wenn die Sonne im Süden stand, registrierten wir ein Zurückweichen der entsprechenden Eiswand jeweils um rund 60 Zentimeter. Dieselben Vorgänge passierten an den „Nordwänden“, wenn die Sonne im Norden stand. Irgendwann entstanden länglich-schmale, scharfe Eisgebilde wie Schiffe und die waren beim nächsten Besuch umgefallen. Wir mussten also die Vorgänge an den Wänden untersuchen und montierten hochmoderne Geräte mitten in eine Eiswand. Die Ergebnisse waren erstaunlich. Rund 60% der Rückgänge ging auf Kosten der Sublimation, den Rest erledigten Schmelzvorgänge. Die Lufttemperaturen waren immer unter dem Gefrierpunkt, aber bei absoluter Windstille konnte die starke Sonne die Eiswand dennoch zum Schmelzen bringen.

Jessie Pitt: Glacier Series

Die in Melbourne geborene und im Ötztal in Tirol lebende Künstlerin Jessie Pitt, stellt mit ihrer fortlaufenden Serie zu den Gletschern eine Zeit dar, die es nicht mehr gibt. Sie zeigt die Veränderungen, die sich jedes Jahr in den Alpen schneller vollziehen als anderswo. Pitt malt das Gletschereis im Ötztal und dokumentiert damit etwas, was, sobald sie die Arbeit fertig hat, aufgrund des Gletscherschwundes nur noch Erinnerung ist. In der Ausstellung Glaciers and Me sind bis zum 02. November 2025 Daniela Bruggers und ihre Werke im archeoParc Schnalstal zu sehen.

einer Ebene ragenden Mast mit einem Bündel an Klimamesssensoren ganz oben drauf. Ein alleinstehender Berg würde es auch tun. In Ostafrika ragt ein Berg alleine und wenig südlich des Äquators stehend bis in eine Höhe aus der flachen Savanne, wo man am Gipfel ziemlich genau eine Hälfte der Atmosphäre unter und die andere über sich hat. Man ist weit weg von den wechselnden Luftmassen der mittleren und höheren Breiten, die Lufttemperatur ist übers Jahr weitgehend konstant und atmosphärische Schwankungen werden im Jahresverlauf von der sich ändernden Luftfeuchtigkeit bestimmt. Die über dem Äquator, dem Sonnenstand folgend, pendelnde innertropische Konvergenzzone bringt zwei Regen- und zwei Trockenzeiten im Jahr. Man kann den Berg relativ einfach besteigen und ganz oben drauf sitzen unsere Klimasensoren, blockartige Gletscher mit bis zu 40 Meter hohen, fast vertikalen Eiswänden als Begrenzung, auf einem fast ebenen Gipfelplateau. Sie mussten nur mehr geeicht werden. So sind wir mit Sack und Pack auf den Kibo gestiegen, dem jüngsten und höchsten Vulkankegel des Kilimanjaro.

Das Abschmelzen der weltweiten Gletscher hat seit rund 40 Jahren kontinuierlich und in den letzten Jahren drastisch zugenommen. Allein zwischen 2000 und 2023 haben die Gletscher weltweit mehr als 5% ihrer Masse verloren, die Alpengletscher fast 40% und davon ein Viertel allein in den beiden Jahren 2022 und 2023. In den 23 Jahren haben die Gletscher mit fast 2 Zentimetern zum Anstieg des globalen Meeresspiegels beigetragen. Seit 1950 sind es rund 5 Zentimeter.4

Die 2010er Jahre: Am Kilimanjaro stellten wir unsere Instrumente zuerst wie üblich auf die Oberflächen der Gletscher und in die Vorfelder des südlichen und des nördlichen Eisfeldes. Allerdings stellten wir bald fest, dass der seit den ersten Besteigungen des Berges im frühen 20. Jahrhundert dokumentierte, stetig starke Rückgang dieser Gletscher nicht von den Prozessen an der Oberfläche ausging. Es waren die Vorgänge an den vertikalen Wänden und diese waren vorwiegend nach

Vulkandämpfe und die extreme Trockenheit sind der Grund für die senkrechten Ränder des Eises am Gipfelplateau des Kibo und solange die Vorgänge an diesen Wänden das Geschehen dominieren, können die Gletscher nur schrumpfen. Kurzum: die gehören dort nicht hin, sie sind Relikte einer außergewöhnlichen Feuchtphase in der Mitte des 19. Jahrhunderts und ihr Rückgang hat nichts mit dem Klimawandel zu tun. Erst in den allerletzten Jahren hat auch dieser sich dazugesellt. Die Lufttemperatur hat immer öfter Null Grad Celsius überschritten, die Ecken und Kanten sind runder geworden und die Mächtigkeit der Eisklötze nimmt ab. In wenigen Jahren werden sie verschwunden sein.

Das Hydrographische Amt Bozen hat, zusammen mit der Universität Innsbruck, über viele Jahre den Gletscher mit dem wohl schönsten Namen beobachtet: den Weißbrunnferner im benachbarten Ultental. 2018 mussten die Messungen am „versiegenden Weißbrunn“ eingestellt werden. Auch die Jahre vieler anderer kleiner Gletscher in den Alpen – und zunehmend auch der großen – sind gezählt.

Ab 2015: Die Gletscher des Kibo dienen also kaum als Zeugen des menschgemachten Klimawandels. Im Gegenteil, sie sind wahrscheinlich die einzigen weltweit, deren starker Rückgang erst in allerjüngster Zeit auch davon verursacht wird. In unserer großen Neugier über die Prozesse haben wir uns allerdings immer mehr in Details verfangen, haben Daten in sehr hoher zeitlicher und Prozessdetailliertheit als Input für unsere Modelle gesammelt. Dies ging einher mit immer sensibleren Messgeräten und Sensoren, mit denen wir unsere Stationen am Kilimanjaro und in der Cordillera Blanca bestückten. Wenn keine Daten mehr übertragen wurden, mussten wir hinreisen, in möglichst kurzer Zeit lange Anstiege in große Höhen bewältigen und dann, vom Sauerstoffmangel in der Handlungsfähigkeit durchaus eingeschränkt, Instrumente reparieren oder austauschen. Ein nicht mehr rechtfertigbarer Aufwand. Wir beschlossen, mit unseren offenen Fragen zurück in unser „Labor“ zu gehen, den Detailfragen auf unserem „Hausgletscher“, dem Hintereisferner, nachzugehen. In der Zwischenzeit hat sich dort ein Konsortium mehrerer internationaler Forschergruppen aus Glaziolg*innen und Atmosphärenwissenschaftler*innen versammelt, das für den kommenden Sommer die nunmehr dritte große

Messkampagne vorbereitet, von der wir auf den tropischen Gletschern nicht einmal träumen konnten. Gletscher hinken Veränderungen im Klima hinterher. Je nach Größe brauchen sie Jahre, Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte, bis sie mit einem neuen Klima ins Gleichgewicht kommen. Würden wir den Klimawandel heute noch anhalten können, würde über die nächsten Jahrzehnte bis Jahrhunderte dennoch rund die Hälfte der heutigen Eismassen schmelzen, in den Alpen noch in diesem Jahrhundert fast alle. Das Schmelzwasser der Gletscher wird, wie die bereits begonnenen Eisverluste in Grönland und der Antarktis, den globalen Meeresspiegel noch über Jahrhunderte und dann um einige Meter steigen lassen.6 Wenn wir das Klima weiter erwärmen, dann werden weltweit immer weniger Gletscher übrigbleiben. Ein Erhalten von Gletschern auch in großen Höhen und in hohen Breiten ist nur durch ein sehr schnelles Ende des Verbrennens fossiler Brennstoffe möglich.7

Unter allen potentiellen Treibern einer Gletscherveränderung kann nur die ansteigende Lufttemperatur die beobachtete, global homogen beschleunigte Gletscherschmelze verursachen. Um diese Reaktion der Gletscher und den folgenden Anstieg des Meeresspiegels zu erkennen, reicht unser Wissen. Wir müssten nur noch die Größenänderung der Gletscher möglichst weltweit messen. Dabei helfen uns Satelliten.

Wenn wir aber umgekehrt die Gletscher als Indikatoren für z.B. das Verschieben atmosphärischer Zirkulationsmuster, regionaler Feuchteänderungen oder die Änderungen von Art und Häufigkeit der Bewölkung und von Niederschlägen nutzen wollen, dann gibt es noch ziemlich viel zu tun.

1 (https://www.un-glaciers.org/en)

2 (The Randolph Glacier Inventory 6.0 (2022) https://www.glims.org/RGI/rgi60_dl.html; Maussion, F. (2023). The Randolph Glacier Inventory version 7. 10.5281/zenodo.8362857.

3 Farinotti, D. et al. (2019) A consensus estimate for the ice thickness distribution of all glaciers on Earth. https://doi.org/10.1038/s41561-019-0300-3)

4 The GlaMBIE Team (2025). Community estimate of global glacier mass changes from 2000 to 2023. https://doi.org/10.1038/s41586-024-08545-z

5 Hartl, L. et al. (2025) Recent observations and glacier modeling point towards near-complete glacier loss in western Austria (Ötztal and Stubai mountain range) if 1.5 °C is not met, https://doi.org/10.5194/tc-19-1431-2025

6 (IPCC AR6 WG1 SPM (2021), https://www.ipcc.ch/report/ ar6/wg1/downloads/report/IPCC_AR6_WGI_SPM.pdf)

7 (IPCC AR6 WG1 SPM (2021), https://www.ipcc.ch/report/ ar6/wg1/downloads/report/IPCC_AR6_WGI_SPM.pdf)

Jessie Pitt, Glacier Series

Die Gletscher und das Unsichtbare

Spuren aus Luft

Wenn wir durch die Natur oder über einen Gletscher gehen, stoßen wir atmend immer deutlicher auf unsere eigenen Spuren: Die kühle Luft, die um uns strömt, enthält um ein Drittel mehr an Kohlendioxid (CO₂) als jene, die Napoleon oder Heinrich von Kleist einst einatmeten. Der CO₂-Gehalt der Atmosphäre lag zu ihrer Zeit bei ca. 280 ppm (Molekülen pro Million), heute (2025) sind es ca. 430 ppm. Die Ursache dessen ist bekannt: Ein Drittel des Kohlenstoffs in der heutigen Atmosphäre hat seinen Ursprung in fossilen Energieträgern, die wir Menschen seit 250 Jahren als Kohle, Öl und Erdgas aufsuchen, fördern, um die Welt transportieren, auf diesem Weg mehrfach verändern, in Geld verwandeln – und letztlich verbrennen. Die Pflanzen nehmen Kohlendioxid aus der Luft auf und erschaffen daraus mit Wasser und der Energie der Sonne ihre Körpersubstanz. Auch der Kohlenstoff ihrer Blätter und Früchte ist damit zu einem Drittel fossilen Ursprungs, und damit auch 6 Prozent der Masse von uns Menschen, die wir zu ca. 18 Masseprozenten aus Kohlenstoff bestehen: Ein Drittel des Kohlenstoffs unserer Muskeln, Knochen, unserer Haut und Augen haben wir zuvor selbst aus fossilen Brennstoffen gewonnen und als CO₂ in der Luft abgelagert. Denn wir ernähren uns direkt (über pflanzliche Produkte) und indirekt (über tierische Produkte) von der Photosyntheseleistung der Pflanzen. Nicht nur als atmende, sondern auch als uns ernährende Wesen sind wir innig mit der Luft verbunden, und wir nutzen nicht nur die fossilen Rohstoffe aus der Erdkruste, wir bestehen inzwischen auch zu einem wachsenden Teil aus diesen. Wir tragen das fossile Zeitalter in unseren Körpern. Wie alles Gasförmige erscheint uns das CO₂ in den Lüften als leicht. Die Anmutung des Schweren hingegen begleitet die Massen an materiellen Gütern, die wir weltweit in den letzten Jahrtausenden angehäuft und verbaut haben: Pyramiden, Kathedralen, Wolkenkratzer

und Wohngebäude aus Steinen, Beton, Ziegeln, Holz, Glas und Stahl, Häfen, Brücken, asphaltierte Autobahnkreuzungen, Flughäfen, Kontinente überspannende Eisenbahnnetze, Lokomotiven und Flugzeuge, dazu Millionen Autos und Fahrräder, Panzer und eine Fülle von Gegenständen aus Plastik und Metallen. Doch die Masse all dessen von ca. 1.100 Milliarden Tonnen wird übertroffen von der Masse des von uns in der Atmosphäre deponierten CO₂ von ca. 1.700 Milliarden Tonnen! Wir bauen schwer und sichtbar auf der Erde, doch mehr noch häufen wir eine unsichtbare Bürde aus CO₂ in der Luft an, entstanden durch die Verbrennung von Kohle, Öl und Erdgas. Wir wissen das, und dennoch scheinen wir diese Wirklichkeit nicht als real zu empfinden. Das zusätzliche Kohlendioxid in der Atmosphäre ist nicht nur Nahrung der Pflanzen, es wirkt bekanntermaßen, zusammen mit den anderen treibhausaktiven Molekülen, wie ein Glashaus: Es nimmt einen Teil der Wärme auf, die die Erde ins Weltall abstrahlt, und gibt sie an die Erde zurück. Dieser zusätzliche Strahlungsantrieb radiative forcing strahlt pro Jahr in Form von Wärmestrahlung, verglichen mit vorindustriellen Zeiten, mehr als das 70fache des aktuellen jährlichen Energieverbrauchs der Menschheit auf die Erde zurück. Diese Zahlen und Zusammenhänge sind uns bekannt, und wir folgern daraus: Wir müssen den Kohlenstoff, der noch in der Erdkruste verblieben ist, auch dort belassen. Wir dürfen ihn nicht mehr als Energiequelle nutzen und vor allem nicht mehr nach dem Verbrennen, das uns wärmt, unsere Autos antreibt und unsere Kraftwerke befeuert, als Kohlendioxid in unserer Atemluft deponieren.

Unsichtbare Verführer Wenn etwas sehr langsam vor sich ging oder unsichtbar war, seine Änderung kaum bis zur Schwelle der sinnlichen Alltagserfahrung vordrang und wir scheinbar

keine unmittelbare kausale Macht darauf ausüben konnten, haben wir es traditionell dem Bereich des Transzendenten zugewiesen. Das Langsame und das Unsichtbare fanden sich dort, wo auch Götter, Ahngeister und Aberglauben wohnten, und gemeinsam mit diesen konnten wir ihnen eine Existenz zu- oder absprechen. Darin sind wir auch in einer gottlos gewordenen Welt noch geübt, und manche von uns nehmen dieses Entsorgungsangebot für langsame und unsichtbare Phänomene auch für die Unsichtbarkeit jener Gase gerne an, welche die – unsichtbare – Wärmestrahlung der Erde absorbieren und auf die Erde zurückstrahlen. Wir wissen zwar von diesen Zusammenhängen, weil wir sie messen und berechnen können – aber wir scheinen nicht daran zu glauben. Wir träufeln uns ihre Nichtexistenz wie Gift auf unsere Zungen und gestalten in dem so gewonnenen Rausch unser Leben unbekümmert weiter, bis zur äußersten Bequemlichkeit und zu unbekanntem Luxus.

Man nennt diese gewollte Blindheit mitunter auch „Hausverstand“.

Doch das Schwinden der Gletscher ermöglicht die sinnliche und emotionale Beziehung zur fernen und abstrakten rationalen Erfahrung von CO₂ und Klimaerhitzung. Gletscher reagieren sensibel auf dieses große Spiel aus fossilem Energiesystem und unsichtbarer Wärmestrahlung. Sie sind Vermittler zwischen der geologischen Tiefenzeit und der – verglichen damit – flüchtigen Dauer der menschlichen Lebenszeit.

Aus der Tiefe der Zeit

Das fossile Feuer aus Kohle, Erdöl und Erdgas hat uns ermöglicht, unsere moderne Zivilisation zu errichten, es ist die Grundlage der globalisierten Welt. Über 80 Prozent der weltweit produzierten Energie stammt aus Verbrennungsprozessen. Nahezu alle Gegenstände, die wir benutzen – die Bücher, in denen wir blättern, die Stahlbetonund Ziegelhäuser, in denen wir wohnen, die Fahrzeuge,

mit denen wir uns fortbewegen – stammen aus Materialien, die durch das Feuer gegangen sind. Das fossile Feuer entsteigt als Geist der geöffneten Flasche und gewährt uns ein Hochgefühl von irdischer Allmacht: Kein Ziel ist uns unerreichbar, kein Turm, den wir erbauen möchten, zu hoch – als ob alle Wirkungen aus unserem Willen flössen und eine leichte Bewegung unserer Hand oder unseres Fußes am Gaspedal genügte, um die Welt nach unserem Willen in Gang zu setzen. Mit den fossilen Energieträgern haben wir uns uralte Welten aus der geologischen Vergangenheit erschlossen. Ihre steinernen Landschaften müssen nur geerntet werden. Sie brennen Tag und Nacht, Sommer und Winter, je nach dem Bedarf, den wir vorgeben. Sie führen den Kohlenstoff nicht mehr im Kreis wie das Holzfeuer, sondern verschieben ihn durch die Tiefe der Zeit aus der Vorvergangenheit in die Gegenwart und in eine nahe Zukunft. Wir wissen: dieses Erfolgsspiel existiert nicht ohne ungewollte Folgen. Aber sein Nutzen überwältigt uns.

Zugleich wollen wir uns die Natur mit ihren Seen und Wäldern, den Gletschern und den milden Frühlingsregen bewahren, eine Natur, die uns ernährt, mit Rohstoffen und Material versorgt und uns Schönheit schenkt. Es ist eine Welt, in welche die umgestaltende Technik und die sie antreibende Ökonomie nicht sichtbar und störend eingreifen sollen. Aber wir wissen auch zu schätzen, wie leicht uns Technik und das arbeitsteilige Wirtschaften das Leben gemacht haben. Mit Flugzeug und Auto erreichen wir jene naturnahen Orte, an denen wir uns wohlfühlen.

Das fossile Feuer, das uns ständig unsere Wünsche erfüllt, umgarnt uns mit doppelter Unsichtbarkeit: Es wird – als fossile Energieträger – in unsichtbaren Pipelines zu uns transportiert, es brennt verborgen in einer Fülle von Maschinen, und seine Abgase in Form von CO₂ verschwinden unsichtbar: In unserer Atmosphäre mischen sich jene aus den Kohlekraftwerken mit denen aus Automobilen, Flugzeugen und Gasthermen und

bleiben uns sinnlich verborgen. Sinnlich verborgen bleibt uns auch die Kausalität der Wirkungskette zwischen den Emissionen des Gases aus dem Auspuff und einer Hitzewelle oder Überschwemmung in Pakistan. Wir wissen zwar, dass diese Ereignisse miteinander zu tun haben, es erscheint uns aber nicht augenfällig – wir glauben es nicht. Es gelingt uns offenbar, ein ganzes System aus unserer Wahrnehmung und unserem Bewusstsein so fernzuhalten, wie einst die Sklaven in den Kolonien, die Baumwolle für unsere Anzüge und Zuckerrohr für unseren Nachmittagstee ernten mussten.

Energiewende – die störende Sichtbarkeit Erneuerbare Energiequellen zu verwenden ist chronologisch eine Rückkehr in die Zeit vor der industriellen Revolution, als die Menschheit energetisch fast ausschließlich die verschiedenen Formen der Bioenergie –und damit der Sonnenenergie – nutzte. Es ist eine Rückkehr, allerdings mit Hochtechnologie und einer quantitativen Steigerung mindestens um einen Faktor zehn. Die erneuerbaren Energiequellen Wasser, Wind, Sonne, Geothermie und Bioenergie lassen sich – im Gegensatz zum fossilen System – kaum monopolisieren, sie sind nicht oligarchenfähig. Sie sind überall auf der Erde vorhanden und versprechen nicht Macht und Reichtum für wenige. Die Sonne scheint und die Winde wehen für die Gerechten und die Ungerechten. Wer sie nutzt, erntet Früchte, die allen gehören, von den Energieströmen der Sonne und der Erde, die niemandem gehören. Der Preis für die Energiewende sind weithin sichtbare technische Eingriffe in unsere Welt. Sie ernten die in ihrer Menge überwältigend großen, aber auf die ganze Welt ziemlich gleichmäßig und – verglichen mit Kohle, Öl, Erdgas und Uran – dünn verteilten Energieströme der Sonne. Und das sichtbare Windrad stört, es stört wie die großflächige Solaranlage, wie gefällte Bäume im Wald, ein aufgestauter Fluss. Man weiß wohl: Es ist vernünftig, Anlagen aufzustellen, Bioenergie zu nutzen, doch erhebt man dennoch Einspruch dagegen.

Widerstand gegen die Energiewende kommt mitunter auch von Seiten derer, die sich in ihrem Selbstverständnis der Erhaltung der Natur verbunden fühlen. Und er kommt – weniger überraschend, viel subtiler und umso mächtiger – von jenen durchsetzungsfähigen Profiteuren der fossilen Bestände von Kohle, Öl und Erdgas, denen ihre Geschäftsmodelle und ihre Gewinne (nicht Umsätze!) von ca. 3 Mrd. US$ pro Tag (!) wegen der Energiewende zu schwinden drohen. Wir wissen: Wenn wir mit dem Verbrennen fossiler Energieträger nicht aufhören, werden Menschen in vielen Teilen der Welt in einer Zukunft, mit der wir über unsere Kinder noch verbunden sein könnten, nicht mehr leben können. Eine um wenige Grade wärmere Welt ist nicht nur eine ohne Gletscher. Sie wäre eine außerhalb der Erfahrungen der Menschheitsgeschichte, eine voller Schrecken für jene Menschen, die sie erleben müssen. Gewiss wird es Orte geben, an denen man auch in diesem Extremfall im Jahr 2200 noch gut leben können wird. Die Existenz solcher zukünftigen Inseln des Entkommens lockt und verführt dazu, uns heute nicht einzuschränken, sondern uns im Gegenteil durch ausreichenden Reichtum darauf vorzubereiten, uns rechtzeitig an einen dieser Orte abzusetzen und ihn mit wenigen anderen zu exklusiven Festungen auszubauen. Dies wäre eine Utopie des Ortes. Alle Vorschläge, die Klimaerhitzung nicht zu bekämpfen, sondern sich ihr anzupassen, kokettieren mit dieser Idee. Jenen, die heute schon Milliardenvermögen ihr Eigen nennen, steht sie offen. Wir können das große Unheil immer noch abwenden. Wir müssen dazu das tun, von dem wir wissen, dass es notwendig und richtig ist. Doch das Richtige kann sich mitunter falsch anfühlen.

Der seltsame Widerspruch zwischen den Möglichkeiten, die wir haben, und den Taten, die wir dennoch viel zu zögerlich setzen, ist eines der großen Rätsel unserer Zeit – ein Rätsel, das wir uns im Wesentlichen selbst sind.

Jessie Pitt, Glacier Series
Jessie Pitt, Glacier Series

Auf dem Gletscher.

Leben in unwirtlichen

Gegenden

Mit der Entdeckung der Alpen an der Schwelle zur Moderne im 19. Jahrhundert endete die Unantastbarkeit von Gipfeln und Gletschern. Forscher*innen, Alpinist*innen und Geograf*innen kartierten mit ihren Besteigungen eine bis dahin unbekannte Geografie, während Maler*innen und Schriftsteller*innen dem unzugänglichen Gebirge eine poetische Gestalt als Ort des Erhabenen verliehen. Die romantischen Vorstellungen der hochalpinen Landschaft als unberührte, unbewohnbare Natur, begannen mit der Entstehung der ersten touristischen Bergstationen zu verblassen; dies setzte sich mit dem Ausbau der Alpenfront im Ersten Weltkrieg fort. Damals wurden die Bedingungen für eine dauerhafte menschliche Präsenz selbst in großer Höhe und auf Gletschern geschaffen – insbesondere auf dem Adamello und der Marmolada –, wo sich zu Kriegszeiten ein tragisches Kapitel menschlicher Entbehrung abspielte.

Heute vor allem von wissenschaftlicher und symbolischer Bedeutung, war der lebensfeindliche Gletscher für die Soldaten eine militärische und ökologische Grenze – an der Schwelle des menschlich Ertragbaren. Für beide Seiten, das italienische Heer und die k.u.k.Armee, waren der Hauptfeind nicht der Gegner, sondern das Klima und das Gelände: Kälte und Schneestürme verstärkten die Unwirtlichkeit, die ein Überleben über drei lange Winter hinweg nur durch enorme logistische Anstrengungen sowie große Anpassungsund Leidensfähigkeit möglich machten. In Anbetracht der Tatsache, dass die Winter 1916 und 1917 zu den schneereichsten des Jahrhunderts gehörten, starben in den Einsatzgebieten der Dolomiten, der Ortler-Cevedale-Gruppe und des Adamello-Presanella-Massivs zwei Drittel der Soldaten am Tod durch Erfrieren, Lawinen, Stürze, Krankheiten und Erschöpfung. Der unerbittliche Winter traf sowohl die Alpini als auch die Kaiserjäger, wie Oberst Ildebrando Flores berichtet: „Anfangs lebten die im Gletschergebiet stationierten Truppen in Schneelöchern; das Leben dieser Soldaten, ohnehin von vielen Entbehrungen geprägt, wurde durch die Witterung äußerst hart. In den Monaten Juli und August (1915) sank die Temperatur nachts nicht selten auf -25 °C, heftige Schneefälle und Stürme, die die Luft trübten, dauerten tagelang an. Bei einer Ernährung, die den Anforderungen der Hochgebirgslage nicht entsprach, bei den plötzlichen Temperaturschwankungen und dem Mangel an geeigneter Kleidung gegen die extreme Kälte wurden die körperlichen Kräfte von Offizieren und Soldaten auf eine harte Probe gestellt.“

Anders als die technische Ausrüstung waren die militärischen Einrichtungen in großer Höhe – Wege, Steige, Lagerplätze, Unterstände, Baracken – improvisiert und mit einfachen Mitteln errichtet. Der tragische Bruch zwischen traditionellen Lebensformen und moderner Technik wurde sichtbar. Unvorbereitet auf die Bedingungen in extremer Höhe, mussten sich die Alpini im

ersten Kriegswinter auf ihre Erfahrung als Bergbewohner verlassen. Auch später schufen sie oft spontan und mit handwerklichem Geschick Notunterkünfte und kompensierten damit die unzureichende militärische Ausrüstung.

Das Leben, mithin die Unterkünfte an der Alpenfront, unterschieden sich nach Lage, Gestalt und Bauweise. Die Unterstände der Ausgucke waren provisorische Schutzbauten aus Planen und alten Zelten oder natürliche Felsnischen an exponierten Graten, die nur von gebirgserfahrenen Soldaten erreicht werden konnten. Strategisch wichtige Stellungen befanden sich in schwer zugänglichem Gelände und wurden dauerhaft besetzt. Dabei wurden die kleinen Baracken handwerklich geschickt und standortangepasst errichtet – mit Holzpfosten als Fundament, Steinplattformen und Verankerungen mit Draht und Seilen an den Felsen. Die Holzbauten lehnten sich meist an Felswände und ragten teilweise über Abgründe hinaus. Sie hatten ein einfaches Pultdach in Richtung Tal, um Schnee und Lawinen möglichst wenig Widerstand zu bieten. Aus Tarnungsgründen waren sie unbeheizt und oft schlecht isoliert – bestenfalls mit Papier, Karton oder alten Zeltplanen.

Um strategisch wichtige Verbindungen, Unterstände oder Verstecke zu schaffen, gruben sowohl Italiener als auch Österreicher Tunnel in Eis und Schnee – die besten natürlichen Isolatoren, die im Inneren Temperaturen um den Gefrierpunkt ermöglichten, während es draußen oft um viele Grad kälter war. Besonders bedeutsam war unter diesen die sogenannte Galleria azzurra auf dem Adamello, ein 5,2 Kilometer langer Eistunnel mit einer Höhe von 2 Metern und einer Breite von 2,5 Metern. Er verband die italienischen Stellungen am Garibaldi-Pass mit denen am Lobbia-Pass im Zentrum des Gletschers. Der Bau dauerte sechs Monate und erforderte technische Raffinesse, etwa Belüftungsschächte, kleine Brücken über Gletscherspalten und eine Beleuchtung mit Lampen, die von zwei Generatoren gespeist wurden.

Auf eine Idee des Ingenieurs Leopold Handl hin, realisierten die Österreicher zwischen Sommer 1916 und Frühjahr 1917 auf der Marmolada ein Projekt von enormer strategischer Bedeutung. Um die Kammstellungen zu versorgen und sichere Unterkünfte zu schaffen, gruben sie Stollen und Räume ins Eis, mit einer Gesamtlänge von zwölf Kilometern und einem Höhenunterschied von tausend Metern. Diese Eisstadt bestand aus Tunneln, unterbrochen von Höhlen, die als Schlafräume, Speisesäle, Lazarette und Lager dienten. Sie wurde experimentell errichtet, unter Verwendung von Sprengstoff und unter der Voraussetzung, dass das Wintereis stabil und kompakt wie Stein war – die Arbeiten erforderten große Sorgfalt und forderten Menschenleben. Dennoch war das System hygienisch problematisch (Belüftung, Heizung) und im Sommer gefährlich, da das Eis instabil wurde. Gunther Langes

schrieb dazu: „Täglich konnten wir uns ein besseres Bild vom gewaltigen Kampf zwischen Druck und Reibung in den abschüssigen Eismassen machen. Im Winter war die Eistemperatur relativ hoch und stabil –um drei bis fünf Grad wärmer als draußen. Im Sommer hingegen sank die Temperatur auf null Grad – ein Leben im Eis war also weder hygienisch noch angenehm.“

Die ersten Außenposten nach der Einnahme eines strategischen Punktes bestanden aus kleinen Zelten zum Schutz vor Wind und Schnee und wurden später durch winzige, zeltartige Baracken ersetzt. Diese sogenannte Raffa bestand aus Sperrholzplatten, war mit Teerpappe bedeckt und wurde als Sommerbehausung für drei Männer in ca. 2.500 m Höhe konzipiert – kam aber auch in noch extremeren Höhenlagen zum Einsatz.

Hauptunterkunft der Truppen waren die Baracken, zunächst in einfacher Bauweise errichtet, später durch vorgefertigte Modelle ergänzt. Besonders der Typ Damioli, aus Holz und Metall, ließ sich in wenigen Stunden aufbauen. Sein halbrundes Dach war aerodynamisch und gut geeignet für steile Hänge. Durch Aneinanderfügen des Grundmoduls entstanden größere Gemeinschaftsbaracken für Unterkunft, Dienste und Krankenstationen, die kleine – vor feindlichem Beschuss geschützte – Militärsiedlungen in den Basiscamps bildeten. Ausgestattet mit einfachen Stockbetten und wenigen Regalen, hatten sie nur kleine Fenster und wurden mit Holz- oder Petroleumöfen beheizt.

Die Erfahrungswerte aus diesen elementaren Behausungen auf Graten, Hängen, Kammlinien und Pässen führten zum Prototyp des alpinen Biwaks – im kollektiven Vorstellungsbild der Bergsteiger ein Symbol des heroischen, klassischen Alpinismus. Vom Damioli-Modell abgeleitet, wurde nach dem Krieg vor allem der Typ Apollonio verbreitet – als Notunterkünfte bei Wetterumschwüngen, Übergängen oder Klettertouren. Eine besondere Geschichte spielt hierbei eine veraltete Unterkunft nahe des Gipfels von Lagoscuro im Adamello, oberhalb des Kessels von Ponte di Legno. Dort begann der Alpinist Giovanni Faustinelli in den 1950er Jahren mit der Instandsetzung von Wegen und Steigen und errichtete vor allem aus Trümmern der Umgebung eine Holzhütte als Biwak, die er über weite Teile des Jahres bewohnte. Heute ist diese Hütte, die Capanna Lagoscuro, Zielpunkt des gesicherten Sentiero dei fiori [Blumenpfad] – ein Ort des Innehaltens und Erinnerns auf 3.160 Metern Höhe. Das Biwak, einst Notquartier und Schutzraum in extremer Höhe, ist heute zur stillen Wache der Berge geworden – ein Ort, an dem sich das ursprüngliche Verhältnis zwischen Mensch und Natur wieder einstellt, an dem man sich selbst zurücknimmt und eine tiefe Verbundenheit mit der unergründlichen Weite spürt.

Übersetzt von Haimo Perkmann

Giorgio Azzoni

0,32m Daniela Brugger

Wenn alle Gletscher der Erde – ausgenommen die Eisschilde von Grönland und der Antarktis – schmelzen, würde der Meeresspiegel um etwa 0,32 Meter ansteigen. Die Fotos zeigen das Abschmelzen der Gipfel und dokumentieren den fortschreitenden Rückzug der Gletscher als Hinweis auf ihren schlechten Zustand. Aufgewachsen in Schnals, in unmittelbarer Nähe zu den Gletschern, war ihr Anblick für Daniela Brugger stets selbstverständlicher Teil ihres Horizonts – stille, mächtige Begleiter ihrer Kindheit. Heute jedoch erlebt sie, wie diese uralten Zeugen unserer Naturgeschichte im Licht der Gegenwart verschwinden. Ihr Abschmelzen ist nicht nur der Verlust faszinierender Landschaften, sondern auch ein beredtes Zeichen der Klimakrise und ein leiser Abschied von Erinnerung, Geschichte und Zukunft.

Die Fotografie wird für Brugger zur Sprache dieses Verlustes: Sie macht die fragile Schönheit und die Verletzlichkeit der Gletscher sichtbar, lässt die Veränderungen spürbar werden und lädt dazu ein, emotional wie auch rational über unseren Umgang mit der Natur nachzudenken. In jedem Bild entsteht ein stiller Raum, in dem die Zeit und ihr Verschwinden erfahrbar werden. Daniela Brugger wurde 1967 geboren und hat ihre Ausbildung in angewandter und künstlerischer Fotografie an der Prager Fotoschule Österreich mit einem Diplom abgeschlossen. Heute lebt und arbeitet sie in Karthaus im Schnalstal, wo sie ihre Fotowerkstatt im ehemaligen Kartäuserkloster Allerengelberg eingerichtet hat.

Klimaerwärmung und Gletscherschwund sind allgemein in Wissenschaft und Medien in Diskussion. In einigen Jahrzehnten sollen unsere Berge vom Weiß der Gletscher befreit sein. Daran schließt sich die Frage an, wann diese Gletscher entstanden und gewachsen sind? Es hilft uns ein Blick in die Periode der Kleinen Eiszeit die unterschiedlich zwischen 1300 und 1850 datiert wird und durch eine Gletscherhochstandsphase ab 1550 gekennzeichnet ist. Den Begriff Kleine Eiszeit prägte der amerikanische Glaziologe Francois Matthes (1875-1949). Den Zeitraum vom 13. bis zum 19. Jahrhundert nannte er im Gegensatz zur großen Eiszeit „the little ice age“. In dieser Periode kam es in den Alpen, Nordamerika und Skandinavien zu den Gletschervorstößen.1 Wir verstehen unter Kleiner Eiszeit die Zeit der Gletscherhochstände ab 1550. Es herrschte keine durchgehende Abkühlung, jedoch eine vorherrschende Tendenz. Neben vielen kalten und feuchten Jahren gab es auch normale Wetterperioden, aber eine Häufung klimatischer Extremereignisse mit langen Schneeperioden und nassen Sommern. Im Jahresdurchschnitt war eine Abkühlung von 1,5 bis 2 Grad Celsius auf der gesamten nördlichen Hemisphäre festzustellen.3 Die Kaltphase führte in den Alpen zu einer enormen Zunahme des Eisvolumens der Gletscher. Die Zunahme des Volumens förderte die Vorstöße der Gletscher in den Lebensraum der Bergbewohner. Unser Augenmerk gilt in diesem Zusammenhang den Ötztaler Alpen, wo die Vorstöße des Gurgler und des Vernagtferners die unmittelbare Umgebung der Orte Gurgl und Vent gefährdet und zerstört haben.

Bergbewohner in einer dämonischen Natur Wie konnte das Leben in einer unwirtlichen, hochalpinen Natur möglich sein, mit welchen Strategien sollte es gelingen, mit den Unbilden der Natur zu leben? Grundlegend war die damals in Wissenschaft und Theologie herrschende Auffassung einer von Dämonen durchwirkten Natur. Katastrophen wurden ebenso wie Krankheiten und Seuchen dem dämonischen Wirken zugeschrieben. Damit erhielten diese Unbilden ebenso wie Unfälle und Tod einen „als real betrachteten Verursacher“. Damit konnte man sich außerhalb physikalischer Gesetzmäßigkeiten wirkende Phänomene erklären und Strategien dagegen entwickeln. Schutz fand man in einer christlichen Lebensführung, in zahlreichen Sakramentalien, in geweihten Gegenständen, Kreuzzeichen und speziellen Gebeten und Ritualen.4 Dazu verstärkte eine Straftheologie die dämonisch geglaubte Umwelt: Das Böse, wie Katastrophen usw., war Aus-

Der Vernagtferner –der „Schrecken des Ötzthals“

Gletschervorstöße in den Ötztaler Alpen

druck einer Strafe Gottes für das sündhafte Verhalten der Menschen. Um Gott zu versöhnen sollten Bußhandlungen, wie Bittgänge, Wallfahrten und Gelöbnisse Hilfe bringen.

Gletscherdämonologie Für die Bergbewohner verkörperten die Gletscher das Dämonische. Nicht umsonst war für Robert Srbik der Vernagtferner der „Dämon des Ötztales“.5 Dieser Dämon erhielt für die Bewohner*innen die anthromorphe Form eines Drachens, der als Ausdruck des Bösen galt. Emil Adolf Roßmäßler sprach daher das „dämonische Leben“ an, „welches diese im ewigen Wandel begriffenen Riesenmassen beseelt“.6 „Die Gletscher schritten über die Gränzen, und wucherten sehr verderblich aus ihren Schlupfwinkeln hervor“, so verlieh Peter Joseph Ruppen den Gletschern tierischen Charakter.7 Die Bewohner des Rofentales „beobachteten das geheimnisvolle Treiben dieser Eisberge“.

Sagen über das Entstehen der Gletscher Die Gletschervorstöße müssen einschneidende Erlebnisse für die Bewohner*innen gewesen sein. Joseph Walcher hielt fest, dass der Eissee im hinteren Rofental einen „großen Theil jener weitschichtigen Viehweiden“ eingenommen hat, die ehemals das ganze Tal ausgefüllt hatten. Die Menschen suchten nach Erklärungen, zumal es noch keine wissenschaftlichen Theorien gab. Sie fanden sie in straftheologischen Zusammenhängen und kleideten sie in Sagen. Derartige Deutungen finden wir unter den Begriffen „übergossene Alm“, „verfluchte Alm“, „Blümlisalp“. Als „Blümlisalpsagen“ bilden sie einen eigenen Erzähltypus. So erstreckte sich unter dem Gurgler Gletscher einst eine fruchtbare Gegend mit einer wohlhabenden Stadt „Tanneneh“. Die Leute waren reich, aßen mit silbernen Löffeln aus goldenen Tellern. Sie waren allerdings hartherzig und geizig. Als sie einen Bettler aus der Stadt trieben, war eine Stimme zu hören: „Tenneneh, Tanneneh, s’macht an Schnee und apert nimmermeh.“ Der Schneefall hörte tatsächlich nicht mehr auf, bis die Stadt mit den hartherzigen Bürgern tief unter einem Gletscher begraben war.9 Kern der Frevelsagen ist immer die Verletzung von allgemein gültigen Werten, wie Eigentum, Achtung gegenüber Eltern oder Armen usw. Die Strafen kommen von Gott oder von den Verwünschungen der Betroffenen. Ein menschlich-unmenschliches Verhalten führt den Untergang herbei, der Mensch ist immer in Gefahr zum Unmenschen zu werden und zerstört sich und die Umwelt.

Straftheologische Deutungen Neben den mit christlichem Gedankengut angereicherten Sagen sahen die Bergbewohner*innen in den dramatischen Naturereignissen das strafende Wirken Gottes für das sündhafte Verhalten der Menschen. In den Chroniken nehmen Schreiber immer wieder darauf Bezug, beschrieben Bußhandlungen, um den Zorn Gottes zu besänftigen. Einprägsam in diesem Zusammenhang ist das „Fischbachgelöbnis“, das die Dorfgemeinschaft von Längenfeld im Jahre 1702 abgelegt hat, um Überschwemmungen zu verhindern. Man hat gemeinschaftliches Fehlverhalten für die Strafe Gottes ausgemacht und für alle Zeiten Bußakte, wie Wallfahrten usw. versprochen, damit Gott weiterhin davon ablasse, Überschwemmungen zu schicken. Das Gelöbnis wird immer noch – der Zeit angepasst – vollzogen.

Die Vorstöße des Vernagtferners Im Hinterland von Vent nahm der Vernagtferner drastisch an Länge und Volumen zu, dehnte sich Richtung Rofental zur Zwerchwand hin aus und riegelte das Tal mit einem Eiswall ab, der das Wasser aus dem übrigen Gletscher aufstaute. Der Druck der Wassermassen sprengte die Eisbarriere und überschwemmte mit Zerstörungen das Ötztal. Die erste dokumentierte Vorstoßperiode kann in die Zeit von 1599 bis 1601 datiert werden. Im Jahre 1599 erfolgte der erste bekannte Vorstoß des Vernagtferners, das zu einem See aufgestaute Wasser brach im Folgejahr aus und verursachte große Schäden an Brücken, Straßen, Feldern und Gebäuden. Im Folgejahr dauerte das Anwachsen des Gletschers weiter an, der aufgestaute See erreichte eine Länge von 1200 m, eine Breite von 330 m und eine Tiefe von 110 m. Über eine an der Zwerchwand gebildeten Kerbe konnte sich der See in der Folge entleeren, sodass er im Sommer 1601 dem Verschwinden nahe war. Dieser neuerliche Anstau des Eissees alarmierte die öffentliche Verwaltung. Die Regierung entsandte Hofbeamte, um zu erkunden, wie die Gefahr eines Seeausbruches zu verhindern sei. Im schriftlichen Bericht konnte kein anderer Weg gefunden werden, den drohenden Ausbruch abzuwehren als „gegen Gott ein christliches gebett und procession fürzunehmen“. Die Regierung forderte die Behörden der Gerichtsorte im Juli 1601 auf, Bittgänge und Andachten anzuordnen.10

Die Vorstoßperiode 1676–1683

In dieser Periode kam es mehrmals zu einem Anstau des Eissees und zu wiederholten Ausbrüchen. Der schlimmste Seeausbruch, den das Ötztal je erlebt hat,

erfolgte am 16. Juli 1678. Auch jener am 14. Juni 1680 war wiederum verheerend. Als im Jahre 1681 das Wasser staute, hackten zwölf Männer aus Längenfeld einen Abflussgraben in das Eis, der sich vertiefte und eine schadlose Entleerung des Sees nach sich zog. Dies wiederholte sich in den Folgejahren, ab 1683 blieb man ohne Sorgen.11 Die Gewässer nach dem Seeausbruch zerstörten Brücken, Straßen, überschwemmten und rissen Felder fort. Die Menschen mussten sich auf die Dächer ihrer Häuser retten. Teilweise wurden auch Ställe, Städel und Behausungen zerstört.12 Mit Zustimmung des Bischofs von Brixen feierten drei Priester am Gletscher heilige Messen, an denen Prozessionen aus Sölden und Längenfeld teilnahmen. Die Geistlichen verblieben mehrere Wochen in Vent und lasen dort täglich die Messen, um die Gefahr abzuwenden.

Die Vorstoßperioden 1771 bis 1780 und 1845 bis 1850 Während der Vorstoßperiode 1771 bis 1780 dehnte sich der Gletscher mehrfach bis zur Talsohle aus, das aufgestaute Wasser konnte jedoch immer ohne Schäden zu hinterlassen abrinnen. Ab 1840 nahmen das Volumen des Gletschers und die Geschwindigkeit des Vorstoßes in das Rofental ständig zu. Den Eisdamm verglich Michael Stotter mit den Ruinen einer durch Erdbeben zerstörten Stadt.13 Der Ausbruch des Eissees im Jahre 1845 verursachte die üblichen Schäden. In den Folgejahren wuchs der Eiskörper im Rofental weiterhin an. Der Ausbruch im Juni 1848 war jedoch „viel jammervoller und zerstörender“ als jener im Jahre 1845. Die dramatischen Ereignisse, die Todesangst der Bewohner, ihr Schreien und Jammern alles verloren zu haben, schrieb Ignaz Regensburger, Priester in Huben, nieder.14 Die Seeausbrüche konnten nicht verhindert werden, zur Abdeckung der Schäden initiierte die kaiserliche Regierung im Jahre 1845 eine allgemeine Sammlung in ganz Österreich, nach 1848 wurde eine solche für Tirol und Vorarlberg bewilligt.

Anwachsen des Gurgler Gletschers – Anstau des Gurgler Eissees in den Jahren 1716–1724, 1771, 1834 und 1867 Zum Unterschied zum Vernagtferner bestand der Gurgler Ferner aus kompaktem Eis. Das Wasser musste daher unter dem Gletscher einen Abfluss finden oder über das Eis ablaufen. Daher blieben jene schweren Schäden aus, wie sie der Vernagteissee verursacht hat. Mehrmals entsandte die Regierung Kommissionen zum Ferner, doch konnten keine Lösungen gefunden werden, um Seeausbrüche zu verhindern. Die Bewohner hingegen hielten an ihren Ritualen fest, Prozessionen zum Gletscher und Messfeiern an Ort und Stelle sollten eine Abwendung der befürchteten Schäden bewirken. Der Kurat von Sölden hat das angestaute Wasser „benediciert“ und „hochgeweichte sachen zur verhinderung des höchst besorglichen ybls hineingeworfen“.15

Zusammenschau

Der Lebensraum der Bergbewohner*innen ist zwar nicht mehr durch Gletschervorstöße gefährdet, der Katalog der Gefahren erhielt jedoch eine Erweiterung. Das Abschmelzen der Gletscher und das Auftauen des Permafrostes erzeugen neue Gefahrenquellen, wie Felsstürze oder Gletscherseen. Nach wie vor begleiten Lawinen- und Murenabgänge das Leben in den alpinen Hochtälern. Nicht auszuschließen, dass auch technische Einrichtungen, wie geplante Stauseen Ängste schüren. Trotz des technischen Fortschrittes dauert die Sorge um den natürlichen Lebensraum an.

1 Behringer, Wolfgang: Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, 4. Auflage, München, 2009.

2 Behringer, 2009, S. 120.

3 Glaser, Rüdiger: Kleine Eiszeit, in: Jaeger, Friedrich (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 6, Stuttgart, Weimar, 2007, 767-771, hier S. 768.

4 Daxelmüller, Christoph: Dämon, Kulturhistorisch, in: LThK, Bd. 3, Freiburg 1995, S. 4.

5 Srbik, Robert, von: Die Gletscher des Ventertales, in: Deutscher Alpenverein, Zweig Mark Brandenburg /Hg.): Das Ventertal, München 1939, 37-55, hier S. 39

6 Roßmäßler, Emil Adolf: Die Geschichte der Erde. Eine Darstellung für gebildete Leser und Leserinnen, Preslau, 1863, S.63.

7 Ruppen, Peter Joseph (Hg.): Die Chronik des Thales Saas, für die Thalbewohner, Sitten 1851, S. 43

8 Stotter, Michael: Die Gletscher des Vernagtthales in Tirol und ihre Geschichte, Innsbruck, 1846, S. 29.

9 Falkner, Christian: Sagen aus dem Ötztal, in: Ötztaler Buch, Schlern-Schriften, Nr. 229, Innsbruck 1963, S 114-177, hier S. 129.

10 Richter, Eduard: Urkunden über die Ausbrüche des Vernagt- und Gurgler Gletschers im 17. und 18. Jahrhundert, in: Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde, Bd. 6, Stuttgart 1892, S. 345-440, hier S. 362.

11 Finsterwalder, Sebastian: Der Vernagtferner. Seine Geschichte und seine Vermessung in den Jahren 1888 und 1889, Graz 1897, S. 8.

12 Richter, 1892, S. 378f.

13 Stotter, 1846, S. 38.

14 Zusammenfassung siehe Jäger, Franz: Gletscher und Glaube. Katastrophenbewältigung in den Ötztaler Alpen einst und heute, Innsbruck 2019, S. 105.

15 Richter, 1892, S. 417f.

Elegy for A Glacier

Die Filmemacherin mit Tiroler Wurzeln Stephanie Falkeis wird von Hannes Egger zu ihrem Gletscherfilm befragt.

HANNES EGGER Ihr Kurzfilm Elegy for A Glacier wurde in den Rocky Mountains gedreht, spielte in den letzten Jahren auf vielen europäischen und internationalen Festivals und gewann u.a. den Jurypreis von Cinema Next in Innsbruck. Wovon handelt der Film?

STEPHANIE FALKEIS Der Film handelt von einer jungen Gletscherforscherin, die in ihr entlegenes Heimatdorf berufen wird, um ein Gutachten über den nahegelegenen Gletscher zu erstellen. Die touristische Erschließung des Berges wird als letzte Chance propagiert, den Ort vor dem wirtschaftlichen Untergang zu bewahren. Ihre wissenschaftliche Unabhängigkeit gerät nun von mehreren Seiten unter Druck, als sie auch von ihrer charismatisch-manipulativen Mutter herausgefordert wird. Als Anführerin der aktivistischen Gegenbewegung vor Ort will ihre Mutter die Zerstörung des Gletschers um jeden Preis verhindern und greift zu immer radikaleren Mitteln. Im Brennpunkt widersprüchlicher Interessen stehend muss die Gletscherforscherin ihre tiefsten Überzeugungen hinterfragen und sich der Entfremdung von ihren Wurzeln neu stellen.

Was interessiert Sie an Gletschern?

Ich habe in meiner Kindheit und Jugend viel Zeit auf Gletschern in den Tiroler Bergen verbracht – lebte dann aber viele Jahre an Orten, wo es keine Gletscher gibt. Das überwältigende Gefühl der Ohnmacht, mit dem ich mich nach vielen Jahren im Ausland bei einem Besuch des Gletschers meiner Kindheit konfrontiert fand, gab dann den Anstoß für den Film. Der Gletscher war in meiner Abwesenheit bis zur Unkenntlichkeit geschrumpft, die Gletscherzunge weit zurückgewichen. Dieses prekäre Bild entwickelte eine melancholischpoetische Sogkraft, die mich bis in meine Träume verfolgte. Mir wurde bewusst, dass ich Zeugin des Verschwindens dieses Jahrtausende alten Gletschers noch zu meinen Lebzeiten werden würde.

Ich finde Gletscher aber auch wegen ihrer emotionalen Symbolkraft spannend. Unter Filmemachern wurde lange die Meinung vertreten, dass der Klimawandel schwer zu dramatisieren ist, da er so schleichend voranschreitet. Ich frage mich, ob das jemals gestimmt hat, aber anhand von Gletschern kann man den Klimawandel auf jeden Fall visuell nachzeichnen. Ich habe manchmal das Gefühl, ich kann mich an den Fuß eines Gletschers setzen und ihm mit freiem Auge beim Schmelzen zusehen.

Aber auch auf wissenschaftlicher Ebene sind Gletscher unglaublich spannend und wichtig. Aufgrund ihres immensen Alters haben sie die Zustände unserer Atmosphäre zu verschiedenen Epochen konserviert, was sich mit Bohrkernen untersuchen lässt und Aufschlüsse über vergangene Zeitalter liefern kann. Oft ist es

jedoch zu spät: Und wenn der Gletscher geschmolzen ist, ist das Wissen verloren. CO2 das durch das Abschmelzen freigesetzt wird, trägt dann zusätzlich zur globalen Erwärmung bei, was die Gletscher wiederum noch schneller schmelzen lässt.

Beim Athena Film Festival in New York wurde nicht nur Ihr Film gezeigt. Dort haben Sie auch zum Thema „Rewriting the Future: Women Filmmakers on Climate Storytelling“ gesprochen. Kann mit Filmen die Zukunft umgeschrieben werden?

Um dieser Frage in ihrer Komplexität gerecht zu werden müsste man sehr weit ausholen und könnte ein langes Essay schreiben. Da ist man schnell bei sehr tiefgreifenden Kernfragen wie: Was können Geschichten bewirken? Was ist die Aufgabe von Kunst?

Ich versuche es einmal möglichst kurz und prägnant: Ich denke nicht, dass Filme die Zukunft umschreiben können – das kann nur das Publikum.

Wenn man als Filmemacherin an Kino mit dem Anspruch herangeht, eine message zu verbreiten, beziehungsweise einen didaktischen oder sogar dogmatischen Zugang hat, wird der Film mit großer Wahrscheinlichkeit furchtbar – und berührt das Publikum nicht. Für mich funktioniert Erzählkino über Empathie – indem es komplexe (Emotions-)Räume, Zustände und Realitäten erfahrbar oder überhaupt erst sichtbar macht. Darin liegt ein großes Potential.

Ich finde jedoch nicht, dass es ist die Aufgabe des Kinos ist, Handlungsanleitungen zu liefern. In einer kapitalistischen Konsumgesellschaft endet dieser Versuch schnell in einer symbolischen Ersatzhandlung. Es gibt immer wieder Appelle an Hollywood, sich der Klimakrise (anders) zu widmen, und anstatt dystopischer Katastrophenfilme solle es positivere bzw. lösungsorientierte Szenarien für die Zukunft aufzeigen. Da höre ich dann oft diese Hoffnung auf ein Überwinden des Gefühls der Ohnmacht bzw. der kollektiven Schuld heraus. Ich finde, man muss aber erst einmal diesen komplexen Zustand thematisieren, darstellen, erfahrbar machen, erforschen – dort setzt auch meine Arbeit an. Ich denke viel über Climate Grief nach, wie man damit umgeht, wieviel schon verloren ist, um dann aus diesem Zustand der Überwältigung herauszukommen und wieder handlungsfähig zu werden. Ich glaube, dass wir als Menschheit größtenteils noch in der Denial-Phase feststecken.

Sie arbeiten nun auch an der Langversion als Kinofilm. Was hat sich im Vergleich zum Kurzfilm weiterentwickelt, wo stehen Sie mit dem Projekt?

Schon während der Recherchen habe ich gemerkt, dass ich mit einem Kurzfilm nicht alles erzählen kann, dass ich da noch viel weiter in die Tiefe gehen möchte und vor allem den sozio-politischen Kontext weiter erforschen will. Und dass die (fiktionalen) Figuren noch viel mehr zu erzählen haben. Somit habe ich schon früh parallel zum Kurzfilm begonnen, ein Langfilmdrehbuch zu entwickeln. Der Langfilm gibt mir mehr Zeit und Raum für ein Thema, das während der Recherche immer stärker hervorgetreten ist: das dem Menschen scheinbar ureigene Verlangen, die Natur zu zähmen beziehungsweise zu unterwerfen. Vor allem in einem zeitgenössischen Kontext wird hier oft mit einem profitabel machen der Wildnis argumentiert, was letztlich meist in ihrer Zerstörung endet. Die Jahre in Amerika haben mich da stark geprägt und mein kritisches Auge für kapitalistische Wachstumsmythen und deren ideologische Verankerung geschärft. Ich kehre für dieses Projekt – ähnlich wie meine Protagonistin – mit ambivalenten Gefühlen zu meinen Wurzeln zurück. Derzeit arbeite ich an der finalen Fassung des Langfilmdrehbuchs.

Wie wichtig ist für Sie bei der Entwicklung eines Films der Austausch mit Expert*innen, in diesem Fall mit Klimaforscher*innen?

Der Austausch mit Wissenschafter*innen, insbesondere mit Gletscherforscher*innen, Geophysiker*innen und Klimaforscher*innen, ist ein zentraler Aspekt meiner Arbeit während der Entwicklung des Drehbuchs, aber auch später bei der Umsetzung vor Ort. Ich hatte das große Glück, für meinen Kurzfilm eine Förderung der Alfred Sloan Foundation zu erhalten, eine der größten Wissenschaftsstiftungen weltweit. Neben reinen Forschungsprojekten werden auch Filme, die wissenschaftliche Fragestellungen thematisieren, gefördert. Im Zuge dessen habe ich viele Stunden mit Wissenschafter*innen vom Lamont Doherty Earth Observatory an der Columbia University verbracht und viel gelernt. Die Zusammenarbeit war sehr inspirierend, und ich setze diese für den Langfilm nun fort, beziehungsweise ziehe noch weitere Expert*innen hinzu. Für den Kurzfilm konnten wir mit Original-Equipment von UNAVCO arbeiten, was mir im Hinblick auf Authentizität sehr wichtig war. Ich sehe es als großes Privileg, als Filmemacherin in Welten eintauchen zu können, die ich sonst nicht erforschen und erfahren könnte. Man bekommt die Chance, viele Leben zu leben.

Jessie Pitt, Glacier Series

Das Buch als künstlerisches Medium

Der Künstler Arnold Mario Dall’O spricht mit dem Kurator Christian Lübbert über seine künstlerische Praxis und das Buch als künstlerisches Medium.

Schon vor über 10 Jahren war Christian Lübbert an der Organisation einer Ausstellung zum Buch als eigenständiges, künstlerisches Medium beteiligt. Über 65 Bücher kamen aus zahlreichen Einreichungen aus ganz Deutschland in die Auswahl und wurden mit einer Reihe von Vorträgen zum Thema gezeigt. Seither begleitet ihn ein besonderes Interesse für den Bereich. Im Gespräch mit dem Künstler Arnold Mario Dall’O spricht er über die Rolle des Buches in seiner Kunst. Gemeinsam reflektierten sie über seine Arbeit Handatlas, darüber, wie das Buch entstanden ist und erlauben einen ersten Einblick in seine aktuelle Recherche.

CHRISTIAN LÜBBERT Wie kam es zu der Arbeit an deinem eigenen Handatlas?

ARNOLD MARIO DALL'O Ich liebe Flohmärkte. Den Stieler-Hand-Atlas kaufte ich aus einer Laune heraus.

Es ist ein schön gestaltetes Buch, die doppelseitigen Länderstiche meisterlich ausgeführt, edel gebunden, jedoch Massenware, denn meine Ausgabe von 1906 ist im Hochdruckverfahren in großer Auflage gedruckt. Wie Vieles, was ich auf dem Flohmarkt kaufe, legte ich auch dieses Buch ab und vergaß es vorerst. Dann kam die Pandemie.

Der Stillstand der Welt weckte in mir den Wunsch aufzuräumen: das Archiv, das Atelier und schließlich auch die Bibliothek. Und so fand ich den Atlas wieder.

Jeder Atlas folgt einem Ordnungssystem und Plan: die Anzahl der Karten, die Auswahl der Details, das Reduktionsverhältnis und welcher Ordnung die Karten folgen. Die Welt reduziert in grafischen Linien und Farben. Eine gegliederte Welt, kompakt und übersichtlich. Ähnlich einem Blick aus dem Weltall, der Kontinente zeigt, Meere und Wolken, jedoch menschenleer. Ein abstraktes Spiegelbild der Pandemie.

Die Orte auf den Karten weckten Erinnerungen an Ereignisse oder Reisen. Zu diesen hundert Fenstern zur Welt wollte ich Geschichten erzählen, als müsste ich mir und den Leser*innen die grafischen Linien, die Orte und Farben in Worte übersetzen.

Wenn ein Atlas die Welt zeigt, wie würde ich diese in Worte fassen, wie diese mir zu erklären versuchen. Daraus entstanden hundert Texte zu hundert Karten.

In den einleitenden Worten zum Buch sprichst du über die Linolschnitte, mit denen du die historischen Karten versehen hast, als eine Art zweite Haut Kannst du auf diese Idee und deine Arbeit mit dem Stieler-Hand-Atlas näher eingehen?

Der Stieler-Atlas zeigt die Welt von 1906. Die Ländergrenzen, die Gewichtung der Abbildungen und Themen spiegeln das Erscheinungsjahr. Sollte ich diese korrigieren, auslöschen und aktualisieren? Und welche Welt hätte ich stattdessen zeigen sollen, mit welchen Grenzen und Ländernamen? Gedruckte Atlanten sind nie aktuell, denn Ländergrenzen verschieben sich oder werden zu offenen Grenzen. Es entstehen neue Grenzen, Städte werden umbenannt. Es gibt keine natürlichen Grenzen; alle sind von Menschenhand gemacht. Deshalb ist jeder kartografische Atlas nur eine Momentaufnahme der jeweiligen Zeit. Aus diesem Grund sollte die ursprüngliche Haut des Stieler-Atlas erhalten bleiben und durchscheinen. Besonders in einer Zeit wo viele meinen, man müsste Wörter verbieten oder Denkmäler zerstören, glaube ich umso mehr an das Weiterschreiben und nicht Auslöschen, an das Weiterbauen und nicht Abreißen.

Welche Rolle hat deine eigene Bibliothek, deine Leidenschaft für Bücher und Ordnungssysteme bei der Umsetzung gespielt?

Bevor ich die Akademie besuchte, erlernte ich den Beruf des Bleischriftsetzers — ein Berufsbild aus einer anderen Welt. Bleilettern haben Volumen, Gewicht, Haptik, einen Geruch und jede Schriftgröße hat eine Bezeichnung. Sie unterliegen einer Ordnung im Setzkasten und bilden, in der richtigen Anordnung gereiht, Sätze. Daher meine Leidenschaft für Bücher. Meine bescheidene Bibliothek hingegen ist Synonym einer Welt, die ich zu verstehen, zu ordnen versuche und die doch nie ein zufriedenstellendes Gesamtbild ergibt. Aus diesem Grunde ordne ich meine Bibliothek immer wieder neu, ordne die Bücher nach Themen oder Farben, nach Größe oder Erscheinungsjahr und jeder Versuch endet unbefriedigend.

Was hat dich dazu bewegt, statt Leinwand und Ölfarben das Medium des Buchs als künstlerisches Material zu verwenden?

In meiner künstlerischen Praxis habe ich immer wieder Bücher als Medium verwendet. Das Weiterschreiben oder Weiterzeichnen ist wie Weiterbauen, Aus- und Umbauen, der Versuch, Bestehendes neu zu ordnen oder anders nochmals zu erzählen.

Für die Arbeit am Hand-Atlas wählte ich die Technik des Linolschnittes als eine handwerkliche, fast alter-

tümliche Technik, die sich mit den historischen Karten verbindet. Durch diese zweite Schicht scheint das Original durch, wobei es unwesentlich ist, was vorher oder nachher war.

Das auf dem Flohmarkt gekaufte Buch war Impulsgeber für die Arbeit. Die fertige Arbeit sollte wiederum ein gedrucktes Buch sein. So schloss sich der Kreis.

Worum geht es bei deiner aktuellen Recherche? Lässt sich auch hier eine Verbindung zu deinem künstlerischen Schaffen schlagen?

Der Hand-Atlas war wider Erwarten ein Erfolg. Die zweite Auflage ist verkauft, die limitierte Sonderausgabe bei der Büchergilde Gutenberg Frankfurt erfreut sich großer Nachfrage. Ich schreibe einfach gerne, wobei ich mich keineswegs als Schriftsteller bezeichnen würde. Neben der Malerei recherchiere ich derzeit zum Thema Mord. Es klingt paradox, doch Morde erscheinen mir das direkte Spiegelbild der Befindlichkeit der Menschheit zu sein. Es sind Geschichten voller Grausamkeit, Verachtung, Gier und Dummheit. Und wären die Geschichten nicht so traurig, könnte man darüber lachen. Wie die Geschichte des hochgelobten Schriftstellers William S. Burroughs, der im Drogenrausch die abstruse Idee entwickelt und sich in einen Wilhelm Tell verwandelt. Er bringt seine Frau und Muse dazu, zwar nicht einen Apfel, aber ein Glas auf das Haupt zu geben. Er zielt und die Kugel trifft. Seine geliebte Muse ist getroffen, sie ist tot. Es ist ein neuerlicher Versuch, mir die Welt zu erklären, ein Umweg geradeaus zu weiteren Fragen.

Was hast du für die Zukunft geplant?

Als Student von Emilio Vedova lernte ich den Beruf des Künstlers als Arbeit wahrzunehmen: aufzustehen, ins Atelier zu gehen, zu arbeiten.

DunstLicht

Texte und Zeichnungen Martin Streitberger

tief

frühlingsluft wirrt ätherische gefühle ich spaziere gerade darin und denke über was warmes das ich dann vergesse abgelöst von bunten wiesen rehe äsen darin und ich gehe mit ihnen in die dämmerung hinaus denn da kommt bereits die begleitung / ich sehe zutiefst in ihr steckt der reiche grund nun hier zu liegen

andare

aufs meer zu fahren pottwale zu sehen gleicht brot kaufen zu gehen und ein sonderbares volk voll mit geheimnissen zu finden die über die theke fließen und die auf keinen fall preiszugeben sind anders als beim volk im boot hier am meer haben es einige wale eilig und gleiten schnell davon für etwas oder um zu verschwinden dann gibt es jene die zur arbeit müssen und gleich in die tiefe schwimmen am schluss wenn es sich keiner erwartet finden sich die pottwale in der gruppe ein um zu sozialisieren ich weiß nicht was sie quatschen aber sie werfen den kopf aus dem wasser oder springen sogar um uns im boot auszuspionieren? sie hegen ein wahres geheimnis das sie mit uns nie teilen und mir scheint die pottwale verhalten sich wie die seelen von uns allen und der erde die geheimnisse hüten die nie zu erfahren sind dann wenn gestorben wird bleibt es wichtig neugierig zu sein bis zum ende wer kann

4)

die kolonien auf dem mars werden die menschheit retten so wählen wir ihre finanzprodukte und düngen mit unseren fäkalien die karotten und viele fallen darauf rein / so als ob die erde ein einweg wäre und wir als menschheit unbedingt dabei überleben wollen / überleben sollten / wer weiß wann ein meteorit den schädel zerbröselt oder ein megavulkan in unseren gedanken explodiert? in der zwischenzeit sollten wir aber eines überlegen / das hieße die ..... jeden tag zu beschreiben / denn so viel (liebe) es auch je auf der welt in den blicken jedes paares gegeben hat und (sie) jede mauer überwucherte / beständiger als tempel war / so gelangen doch immer wieder kriege in jenen blick so als wäre (sie) nicht genug gewesen / oder aus trotz zur abweisung dazu! das leben (der .....) zu genießen ohne den morgen / vielleicht stärkt uns dies besser gegen den morgen! aber wenn die erde untergeht / so gehen auch wir unter!

wir ziehen doch der künstlichen intelligenz nicht den stecker das treiben

Aus dem Gedichtband

Martin Streitberger, DunstLicht Bellings Books Verlag, 2024

die portugiesische galeere wartet geduldig im meer den faulen vom paradies bleibt das amen der kirche

die netze voller fische hingegen füllen tätige körbe

keine knöpfe warten um gedrückt zu werden keine worte des kaisers befehlen nur das meisterliche warten in der meditation der glatte wal unter der glatten see die leere vor dem sein alle warten das gebet des langsamen sterbens taucht auf auch die erde wartet wie der große kontrast am weiten meer die klare linie zwischen erde und himmel verzaubert wie am anfang der regen der wasser zum ozean flutete und manchmal feuchte dunstschwaden zu licht

als ungreifbares licht im übergang des kontrasts

Herzlich willkommen in der SAAVanne. Kein immergrüner Regenwald, dessen Luftfeuchtigkeit Ihnen den Atem raubt. Keine Wüste, deren sengende Hitze Sie um den Verstand bringt. Lassen Sie den Blick in aller Ruhe schweifen –wenn Sie ganz genau hinschauen, können Sie sehen, was für feine Gräser, Sträucher und Bäume da wachsen…

Arnold Mario Dall’O Mein Handatlas

Vielfalt zwischen den Buchdeckeln: Sommerlektüre 2025

Der Sommer ist da – und mit ihm die Lust, in andere Welten abzutauchen. Ob Sonne, Schatten oder Sommerregen: Mit dem richtigen Buch wird jeder Moment zu einem kleinen Abenteuer. Zwei aktuelle Romane schenken uns bewegende, sprachstarke Einblicke ins Heute, erzählen von Nähe, Verlust und dem Ringen um Wahrheit. Sie bieten frisches und tiefgründiges Lesevergnügen, egal ob auf Balkonien oder am Strand. Und wer literarische Nostalgie liebt, entdeckt mit Margery Allingham eine Krimiautorin wieder, die bereits vor fast 100 Jahren mit britischem Charme und raffinierter Spannung begeisterte.

Eine Tasse Kaffee und ein Moment der Unachtsamkeit – plötzlich steht alles auf dem Spiel. Was als kleiner Moment der Unachtsamkeit beginnt, wird zu einem moralischen Albtraum: In Ungebetene Gäste erzählt Ayelet Gundar-Goshen mit großer psychologischer Finesse von der israelischen Mutter Naomi, die ihren Sohn zwei Minuten im Wohnzimmer alleinlässt. Auf dem angrenzenden Balkon arbeitete am Vormittag ein arabischer Handwerker. Als kurz darauf ein Teenager auf der Straße von einem fallenden Hammer tödlich verletzt wird, fällt der Verdacht auf den Arbeiter – doch Naomi schweigt. Statt die Wahrheit zu sagen, verstrickt sie sich in eine Spirale aus Schuld, Angst und Verdrängung.

Dieser Roman ist ein literarischer Sog: sprachlich präzise, atmosphärisch dicht, inhaltlich hochaktuell. Ayelet Gundar-Goshen gelingt ein spannungsgeladenes Psychodrama über Vorurteile, Machtverhältnisse und das gefährliche Gewicht des Schweigens – intensiv, beklemmend und aufwühlend bis zur letzten Seite. Großartige Literatur über kleine Feigheiten, die große Folgen haben! Dem steht das folgende Buch nicht nach. Es ist ebenfalls keine leichte Thematik, aber eine absolut lohnende Lektüre: Ocean Vuong, Sunday-Times-Bestsellerautor und vielfach ausgezeichneter Lyriker, legt mit Der Kaiser der Freude einen zutiefst berührenden, sprachlich außergewöhnlichen Roman vor. Hai, queerer Sohn

einer vietnamesischen Mutter, lebt in East Gladness, einem trostlosen Ort in New England. Schmerzmittel und Suizidgedanken bestimmen seinen Alltag – bis er auf Grazina trifft, eine exzentrische, ältere Frau aus Litauen. Zwischen ihnen entsteht eine zarte, unerwartete Freundschaft. Mit leiser Poesie, scharfem Blick und viel Mitgefühl erzählt Vuong von Einsamkeit, Trauma, Hoffnung und der Kraft menschlicher Nähe. Ein sprachlich großartiger, atmosphärisch starker Roman über das Überleben an den Rändern der Gesellschaft – düster, leuchtend und schonungslos schön. Die Bücher des amerikanischen Schriftstellers Ocean Vuong und der israelischen Autorin Ayelet Gundar-Goshen sind erst seit wenigen Wochen im Buchhandel. Eine Wiederentdeckung dagegen ist dieser Krimi: Ein sagenumwobener Kelch, ein düsterer Familiensitz, eine verschworene Diebesbande – in Campion. Tödliches Erbe beweist Margery Allingham einmal mehr, warum sie zu den großen Autorinnen des Goldenen Zeitalters des Kriminalromans zählt. Der charmant-verschrobene Detektiv Albert Campion wird in das verschlafene Örtchen Suffolk gerufen, wo das Erbe der altehrwürdigen Familie Gyrth bedroht ist. Als der junge Erbe Percival nach einer Entführung nur knapp mit dem Leben davonkommt, beginnt eine Ermittlungsreise voller Geheimnisse, Spannung und unerwarteter Wendungen. Allingham verbindet klassische Krimielemente mit subtilem Witz, feinem Stilgefühl und einem Faible für exzentrische Charaktere. Ein intelligenter, atmosphärisch dichter Krimi im alten Stil – perfekt für Fans von Dorothy L. Sayers, Agatha Christie und alle, die in diesem Sommer Lust auf einen cleveren Fall mit britischem Flair haben. Drei Bücher, drei Welten – und doch eint sie die Kraft des Erzählens. Mal poetisch und aufwühlend, mal psychologisch dicht und moralisch herausfordernd, mal klassisch und mit britischem Augenzwinkern: Diese Sommerlektüren öffnen Türen zu anderen Leben und Zeiten. Zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Sprachkunst und Spannung laden sie ein, innezuhalten und sich treiben zu lassen.

Ayelet Gundar-Goshen

Ungebetene Gäste, 320 Seiten. Juni 2025.

Ocean Vuong

Der Kaiser der Freude, 528 Seiten. Mai 2025.

Margery Allingham

Campion. Tödliches Erbe, 272 Seiten. Neuauflage Februar 2025.

Autor*innen

Giorgio Azzoni Kritiker, Kurator und Dozent für Geschichte der zeitgenössischen Architektur und Geschichte der modernen Kunst, Sellero

Daniela Brugger Fotografin, Karthaus

Arnold Mario Dall’O Künstler, Meran

Hannes Egger Künstler, Autor, Dozent UniBZ, Lana

Stephanie Falkeis Filmemacherin und Autorin mit Tiroler Wurzeln, international

Franz Jäger Jurist in Pension, Volkskundler, Mutters

Georg Kaser Univ. Prof. i.R., Vizepräsident des Österreichischen Wissenschaftsfonds FWF, Innsbruck/Wien/Karthaus

Christian Lübbert Kurator, Wien

Haimo Perkmann Kulturjournalist, Meran

Jessie Pitt Künstlerin und Skiführerin, Melbourne/Längenfeld

Johannes Schmidl Energieexperte, Physiker und Autor, Lienz/Wien

Martin Streitberger Biologe, Dokumentarfilmer und Schriftsteller, Bozen

Lydia Zimmer Literaturvermittlerin und Literaturexpertin, Basel

Lydia Zimmer

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