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Karpfenträume (Romanauszug) Kapitel 1: Schiffe Endlich angekommen, dachte ich, als das abrupte Ausbleiben dröhnenden Motorenlärms mich hochfahren ließ, und tatsächlich tauchten die beiden Männer, die meine Mutter angeheuert hatte, nur Momente später auf. Es dauerte eine Weile, bis sich meine Augen an das Tageslicht gewöhnten, hatte ich doch die letzten Stunden in völliger Dunkelheit damit zugebracht, über irgendwas zu sinnieren, was mir halt gerade so angemessen erschien eben, im Angesicht meines bevorstehenden Umzugs. Wir waren lange unterwegs gewesen. Der Radiolärm unterbrach meine düsteren Gedanken längst nicht mehr, und wie wir so durch die Lande schepperten, ich noch immer meinen Rucksack in den Händen haltend, drängte sich mir immer stärker ein Gefühl von Verlorenheit auf. Ich hatte die gesamte Fahrt im hinteren Teil des Möbelwagens verbracht, dessen absurde Größe meiner tragischen Situation eine gewisse Komik verlieh. Dennoch war ich derart in Gedanken versunken, dass es eine Weile dauerte, bis mir klarwurde, dass es die Sonne war, die mich durch die jetzt geöffnete Heckklappe anstrahlte. Sowie meine Augen sich nicht mehr blenden ließen, sah ich zu den Männern hoch. Beide waren sie bärtig und beeindruckend muskulös. Ich dachte wehmütig an den leeren Luftraum, der meine eigenen Oberarme umgab und trauerte der einst von mir erträumten Karriere als olympisches Multitalent nach. Jedoch musste ich eingestehen, dass das tägliche Schleppen diverser Möbelstücke ein wohl weit effektiveres Training war als mein Falten und Werfen von Papierfliegern in den Nachbargarten. Ich schluckte die Bitte hinunter, mich auf dem Bett sitzen zu lassen, während die Männer es in die Wohnung transportierten, die ich bis jetzt nicht einmal von außen gesehen hatte. Überhaupt war alles recht schnell gegangen, mit dem Umzug. Mutter hatte wohl Geld gewonnen, eine beträchtliche Summe, das Haus verkauft, und sich für die nächsten zehn Jahre auf einem Kreuzfahrtschiff eingemietet, etwas was sie, so schrieb sie auf einen Notizzettel, den sie an mein Fahrrad klebte, schon ewig hätte tun sollen. In die Ecke war ein Schiff gemalt, und ein Nachbar informierte mich über die Tatsache, dass ich innerhalb von zwei Tagen aus dem komplett geräumten Haus verschwunden sein müsse.