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Der Weg zur neuen St. Galler Notruf- und Einsatzzentrale
from Blaulicht 4/2025
by IV Group
Nach 26 Jahren heisst es: «Tschüss, Calatrava-Muschel!»
Seit 1999 war die Notrufzentrale der St. Galler Kantonspolizei in der vom spanischen Stararchitekten Santiago Calatrava entworfenen «Muschel» beim Klosterhof untergebracht. Nun übersiedelte sie –provisorisch – ins Einkaufszentrum Lerchenfeld.

Ein Vierteljahrhundert plus ein Jahr lang herrschte in der «Calatrava-Muschel» am Ende einer historischen Anlage mit Kloster (heute Regierungsgebäude) und Kathedrale, die zum Weltkulturerbe gehört, rege Betriebsamkeit. Unter dem elliptisch auskragenden Dach des Gebäudes, bestückt mit sieben Zentimeter dicken und bis zu zwei Tonnen schweren Panzerglas-Elementen, die mit hydraulisch gesteuerten Lamellen beschattet werden können, befand sich von Mai 1999 bis Mai 2025 die Kantonale Notrufzentrale (KNZ) St. Gallen.
In dem grossen Raum unter der Glashaube wurden alle über die Notrufnummern 117 (Polizei), 118 (Feuerwehr), 144 (Sanität) und 112 (europäische Notrufnummer) abgesetzten Notrufe aus dem gesamten Kanton St. Gallen (mit Ausnahme der Notrufnummer 117 der Stadt St. Gallen) sowie auch die 144er-Notrufe für die Kantone Appenzell Ausserrhoden, Appenzell Innerrhoden und Glarus entgegengenommen und verarbeitet. Damit dies immer reibungslos und schnell funktionierte, gab es in den 26 Betriebsjahren manche Verbesserung und technologische Neuerung.
Die beiden grössten Projekte umfassten die rund 16 Millionen Franken teure Installation des bisherigen Einsatzleitsystems (2008/2009) sowie die Installation eines hochmodernen Notrufortungssystems anno 2023. Letztere wurde dank Inkrafttreten von Art. 29a der Verordnung über Fernmeldedienste (FDV) vom 1. Juli 2022 erst möglich – und fand zu einem Zeitpunkt statt, als längst klar war, dass die Tage der Kantonalen Notrufzentrale St. Gallen im CalatravaGebäude bald gezählt sein werden. Denn bereits ab 2019 liefen die Planungen für eine ganz neue Kantonale Notrufund Einsatzzentrale (NEZ), welche wiederum allen vier Partnerkantonen dienen soll.

Wegzug aus der Calatrava-Muschel
Die Gründe für den geplanten Wegzug aus der CalatravaMuschel waren vielfältig. Einerseits war das technische Einsatzleitsystem veraltet. Zweitens fehlte es an Platz für das Mehr an Mitarbeitenden und Technologie, die nötig sind, um die stetig wachsende Flut von Notrufen auch in Zukunft effizient und sicher bearbeiten zu können. Drittens gab es immer wieder Kritik an den baulichen Gegebenheiten. Moniert wurden unter anderem das schlechte Raumklima (unangenehme Gerüche, Durchzug, zu geringe Frischluftzufuhr), die mangelhafte Akustik (zu laute Arbeitsumgebung) sowie die Tatsache, dass der Pavillon, der mit einer Garagenzufahrt kombiniert ist, nicht direkt von der Strasse her betreten werden kann. Vielmehr erfolgt der Zugang seit jeher über das historische Gebäude Klosterhof 12 nebenan.
All dies führte dazu, dass anno 2019 darüber nachgedacht wurde, an einem neuen Ort eine zukunftsfähige Kantonale NEZ zu errichten. Dabei lag der Fokus zunächst auf dem geplanten Sicherheits- und Verwaltungszentrum, das im Westen der Gallusstadt errichtet werden soll. In dieser sollen dereinst die aktuell auf rund 25 über die Stadt St. Gallen verstreuten Standorte der Kantonspolizei, der Staatsanwaltschaft, der Untersuchungsgefängnisse und der Kantonalen Notrufzentrale zusammengeführt werden.
Allerdings zeigte sich schon 2019: Bis der Neubau auf dem Armstrong-Areal realisiert und in Betrieb genommen werden kann, werden wir wohl das Jahr 2033 schreiben. Voraussichtlich erst im laufenden Jahr 2025 wird der Kantonsrat das Projekt beraten. Stimmt dieser den Plänen zu, muss das Projekt noch dem Stimmvolk vorgelegt werden.
Rund 43 Millionen Franken für eine Zwischenlösung
So lange freilich konnte man mit der Erneuerung der NEZ nicht zuwarten – weshalb die Kantons- und auch die Stadtregierung St. Gallen im Oktober 2019 das Projekt «Übergangslösung Notruf- und Einsatzzentrale (ÜL-NEZ)» beschlossen. Mit eingebunden waren die angrenzenden Kantone Glarus sowie beide Appenzells, die wie bisher schon auch an die neue KNZ angebunden werden sollten.
Bei der Suche nach dem Standort für die Übergangslösung taxierten die Verantwortlichen das Ober- und Attikageschoss des Einkaufzentrums «Lerchenfeld» als «sehr gut geeignet». Dieses sollte langfristig angemietet und entsprechend umgebaut werden. Für die nötigen Investitionen beschloss der Kantonsrat St. Gallen einen Sonderkredit in Höhe von rund 38,6 Millionen Franken. Den Rest der Gesamtkosten von 43,3 Millionen für Konzept, Realisierung, Rechenzentrum, Ausstattung und Einführung der Übergangslösung teilten sich die Stadt St. Gallen sowie die Kantone Appenzell Ausserrhoden und Innerrhoden, die der neuen NEZ auf Mandatsbasis angeschlossen sind.
Offizielle Einweihung am 30. Juni 2025
Bereits am 12. Mai 2025 nahm die neue NEZ im Lerchenfeld ihren Betrieb auf. Die offizielle Einweihung indes erfolgte erst am 30. Juni. Ein Augenschein zeigt: Die neuen Räumlichkeiten sind mit rund 1’200 qm Bürofläche nahezu doppelt so gross wie in der Calatrava-Muschel. Damit ist reichlich Raum für das rund 50 Personen zählende Team der NEZ vorhanden. Dieses besteht aktuell aus 15 Fachkräften der Rettung St. Gallen, 24 Disponenten (einschliesslich Schichtführer der Kantonspolizei St. Gallen), vier Führungs- und Assistenzkräften, fünf Springern für flexible Einsätze sowie je vier Spezialisten für die Bereiche «Verkehrslenkung» und «Prozesse, Daten und Qualität».
Auf dem aktuellen Stand der Entwicklung präsentiert sich zudem die Technik der NEZ. Diese ist dank 571 Solarmodulen (254 kWp Leistung) sowie Notstromdieselaggregat vollständig energieautonom – zugunsten jederzeitiger Verfügbarkeit der Systeme. Ebenfalls mit Blick auf die Resilienz wurde die Server-Infrastruktur der NEZ in zwei redundante Rechenzentren in Gais AR und Gossau SG ausgelagert. Anders als bisher werden dabei die benötigten Rechenzentrums- und Connectivity-Dienstleistungen nicht mehr selbst erbracht, sondern – nach einer Ausschreibung – von der Rechenzentrum Ostschweiz AG (RZO) bezogen. Letztere ist im Besitz der St. Gallisch-Appenzellischen Kraftwerke (SAK) sowie der St. Galler Stadtwerke.
Bei der IT wagte man keine Experimente, vertraut auf renommierte Schweizer Anbieter. So liefert Spezialistin Hexagon mit «OnCall» die neue Software des Einsatzleitsystems. Alle Komponenten für die Sprachkommunikation, zu der neben der Telefonie auch Funklösungen zählen, wurden durch die Zürcher Super Computing Systems AG realisiert. Und die Basler Ethelred AG steuert mit der «E3»Applikation ein zeitgemässes Tool für Dienstplanung und Administration bei.

Kantonsübergreifende Kooperation
Die Zuständigkeiten im Kooperationsprojekt der Kantone St. Gallen, Appenzell Innerrhoden, Appenzell Ausserrhoden und Glarus sowie der Stadt St. Gallen sind in der neuen NEZ wie folgt verteilt:
Alle Notrufe aus dem Kanton St. Gallen werden über die NEZ abgewickelt. Einzig Notrufe auf die Nummer 117 innerhalb der Stadt St. Gallen werden auch künftig durch die eigene ELZ der Stadtpolizei bearbeitet. Diese dient zugleich als Rückfallebene für die neue NEZ.
Sämtliche Notrufe aus dem Kanton Appenzell Innerrhoden werden ebenfalls in der NEZ angenommen und bearbeitet. Diese übernimmt zudem die Koordination für die Patrouillen der Kantonspolizei Appenzell Innerrhoden.
Aus dem Kanton Appenzell Ausserrhoden werden wie bisher schon lediglich Notrufe über die Nummer 144 in der NEZ bearbeitet. Für alle anderen Notrufnummern betreibt der Kanton weiterhin seine eigene ELZ in Herisau. Für diese wird die Hard- und Software allerdings am Standort der NEZ zur Verfügung gestellt.
Auch im Kanton Glarus werden Notrufe über die Nummern 112, 117 und 118 ebenfalls in einer eigenen ELZ bearbeitet, während Sanitätsnotrufe über die NEZ angenommen und disponiert werden.
Mehr als nur Notrufe
Nicht nur aufgrund dieser kantonsübergreifenden Dispositionsdienste ist die neue NEZ St. Gallen weit mehr als nur eine reine «Annahme- und Verteilstelle für Notrufe». Vielmehr erfüllt sie gleich drei Aufgaben: Sie ist Kantonale Notrufzentrale, Dispositionszentrale und «normale» Telefonzentrale zugleich. Denn zusätzlich zu rund 140’000 Notrufen gehen in der NEZ jedes Jahr auch gut 270’000 andere Anrufe ein, welche Aufträge auslösen, an interne Stellen weitergeleitet werden müssen oder bei denen die NEZ selbst als Auskunftsstelle dient. Entsprechend kommt der korrekten Disposition der Tausenden von Anrufen, die die NEZ täglich erreichen, grosse Bedeutung zu.
2024 nahm die NEZ im Calatrava-Gebäude mehr als 415’500 Telefonate entgegen. In 143’500 Fällen – oder gut 390 pro Tag – handelte es sich um Notrufe. 63’000 davon gingen via Polizeinotruf 117 ein, 31’000 über die internationale Notrufnummer 112, 40’400 entfielen auf den Sanitätsnotruf 144 und 9’100 auf den Feuerwehrnotruf 118. Neben 3’500 Aufgeboten von Feuerwehren bearbeitete die NEZ vergangenes Jahr rund 106’000 Notfälle, was rund 290 Einsätzen täglich entspricht.
Angesichts der demografischen und gesellschaftlichen Entwicklung sowie einer stetig steigenden Bevölkerung wird die NEZ mit den Jahren stetig stärker ausgelastet werden. Von daher ist es vielleicht ganz gut, dass bereits heute feststeht, dass der nächste grosse Entwicklungsschritt für Anfang der 2030er-Jahre bereits vorgezeichnet ist.
«Hintergrund»
Die Kosten im Detail
Die Gesamtkosten für die Realisierung der neuen NEZ St. Gallen belaufen sich auf 39 Millionen Franken. Davon entfallen 24 Millionen auf die Gebäudekosten (inkl. Umbau), 14 Millionen auf das Einsatzleitsystem und 1 Million auf die Rechenzentren. Die Betriebskosten werden mit 8,5 Millionen Franken jährlich kalkuliert: 7,5 Millionen davon für das Einsatzleitsystem und je 500’000 Franken für die Miete und den Betrieb der Rechenzentren.