LEITERPRINZIP, KOMMERZ UND MASTERPLAN: DIE NÄCHSTE ETAPPE IST GESCHAFFT
Im Mai 2009 nahmen die Stimmberechtigten den Kredit deutlich an und delegierten damit die Kompetenz für die einzelnen Bausteine an den Grossen Gemeinderat. Neben den Projekten des Rahmenkredits gibt es weitere Vorhaben, die separat oder durch Dritte finanziert werden, etwa die Archhöfe oder das Kesselhaus jenseits der Gleise. Das erste Projekt, das die Stadt aus dem Rahmenkredit finanzierte, war unspektakulär: das Verkehrskonzept Neuwiesen. Die Aufweitung der Kreuzungen Neuwiesen- / Schützenstras se und Neuwiesen- / Wülflingerstrasse, zusätzliche Ab biegespuren, die Signalisierung von Einbahnstrassen und Tempo-30-Zonen schufen die Voraussetzungen dafür, die Rudolfstrasse für den Durchgangsverkehr zu sperren. Dies wiederum war die Bedingung, um anschliessend das Gross projekt Gleisquerung Stadtmitte zu realisieren. Asymmetrisch auf einem Bein: der Pilz
Mit einem Paukenschlag machte das zweite Pro jekt des Rahmenkredits auf sich aufmerksam, und zwar noch bevor dieser bewilligt war. Ende 2008 wurde das Ergebnis des Projektwettbewerbs für den Umbau des Bahnhofplatzes Süd zwischen Altstadt und Coop City – für die Winterthurer der Bahnhofplatz schlechthin – vorgestellt. Auf Rang 1 setz te die Jury den Entwurf von Stutz Bolt Partner Architekten: ein grosses, asymmetrisch von einer einzigen Stütze auskra gendes Dach, den Pilz. Diese Geste spielte den bisher von kleinmassstäblichen Konstruktionen überstellten Platz frei und schuf eine grosse Fläche. Diese ist nach wie vor vom Betrieb der Stadtbusse dominiert, doch im Prinzip können sich die Fussgänger darauf frei bewegen. Seine architek tonische Kraft entfaltet der Pilz vor allem beim Blick vom Bahnhof oder von der Zürcherstrasse Richtung Altstadt, zu der das markante Bauwerk respektvoll Distanz wahrt. So ist die Idee des freien Platzes mit einem einzigen Element gut spürbar. Blickt man hingegen in die andere Richtung gegen das blechverkleidete Coop-City-Warenhaus, vereinigen sich die beiden metallenen Bauwerke zu einem einzigen. Da durch verliert der freistehende Pilz an Kraft, und das Wa renhaus wird aus dem Stadtraum ausgeblendet.
Veloquerung. Wenn 2018 die Baumaschinen auffahren, läu ten sie in Winterthur ein neues Bahnhofszeitalter ein. Die bestehende, rund 120-jährige Unterführung wird nämlich nicht nur erweitert, sondern neu gebaut. Sie wird viel brei ter und höher als die alte und mit Läden ausgestattet. Lifte führen aus dem Untergrund auf die Perrons; doch auf Roll treppen müssen die Winterthurer verzichten, dafür sind die Perrons zu schmal. Parallel zur Personenunterführung und vielfach mit ihr verbunden, entsteht auch die lang ersehn te Veloquerung. Insgesamt entsteht unter den Gleisen ein grosszügiger Raum, in dem sich Passanten und Passagiere gut orientieren können. 10 : 8 Architekten, die schon für die Gestaltung des Ende 2016 eröffneten Bahnhofs Oerlikon verantwortlich waren, haben die Personenunterführung Nord als Neubau aus einem Guss entworfen. Im Gegensatz dazu ist die mehrfach erweiterte und umgebaute Unterfüh rung Süd ein Flickwerk, dessen Mängel nach dem Neubau im Norden wohl noch stärker zu Tage treten werden. Gemäss einem Konzept des Planungsbüros Metron baut die Stadt die Veloinfrastruktur am Bahnhof weiter aus: Unter der Rudolfstrasse entsteht ein langgestrecktes Veloparking mit direktem Anschluss an die Unterführung, in einer zwei ten Etappe soll es sogar bis zur Unterführung Süd verlän gert werden. Die Strasse selbst wird nach einem Projekt von Manoa Landschaftsarchitekten und Pool Architekten als Raum für Fussgänger und Velofahrerinnen neu gestal tet. Wie haben sich doch die Zeiten geändert! Vor bald vier zig Jahren hatte das Auto Priorität und erhielt ein grosses Parkhaus über den Gleisen. Heute baut man für die Velos Abstellplätze im Untergrund. Was wird morgen sein? Neue Weichen, längere Perrons
Breit und hoch: die Unterführung Nord
Auch diesmal werden Umleitungen, Lärm und Dreck die Bauarbeiten begleiten, denn der Bahnbetrieb muss immer gewährleistet sein. Doch bis diese Arbeiten beginnen, läuft bereits eine andere Baustelle auf Hochtou ren – vor den Augen der Öffentlichkeit und dennoch von ihr weitgehend unbemerkt. Für rund 140 Millionen Franken bauen die SBB nämlich die Gleis- und Perronanlagen des Bahnhofs Winterthur um. Mit der Zukünftigen Entwicklung Bahninfrastruktur (ZEB) und der vierten Teilergänzung der Zürcher S-Bahn werden ab dem Fahrplanwechsel von Ende 2018 statt der heute 934 Züge täglich 1137 Züge den Bahn hof frequentieren. Um das zu bewältigen, bauen die SBB am Südkopf des Bahnhofs zusätzliche und schnellere Weichen verbindungen ein, verbreitern die Endbereiche der Perrons 1, 2, 6/7 und 8/9 und verlängern sie teilweise. Diese Arbeiten sind für das Publikum unspektakulär. Ein paar neue Glei se? Einige neue Weichen? Das sieht der Laie kaum. Für die Fachleute hingegen ist das mit viel Aufwand verbunden, denn jedem Gleis folgen in luftiger Höhe die Fahrleitung und im Boden zahlreiche Kabelkanäle.
Das wichtigste Projekt, das im Rahmen des Mas terplans Stadtraum Bahnhof realisiert wurde, ist die im Sep tember 2016 fertiggestellte Gleisquerung Stadtmitte (Seite 43). Von der Bedeutung eines weiteren Grossprojekts, des sen Realisierung unmittelbar bevorsteht, machen sich die Winterthurerinnen und Winterthurer zurzeit noch kaum eine Vorstellung: die Personenunterführung Nord und die
Wenn im Jahr 2022 alle laufenden Projekte abgeschlossen sind, hat Winterthur einen Bahnhof, der den betrieblichen Anforderungen auf absehbare Zeit genügt. In einem Zeit raum von rund 25 Jahren hat der Bahnhof sein Gesicht wie der einmal verändert. Die Konstante ist das Aufnahmege bäude, das seit 1895 äusserlich weitgehend unverändert an seinem Platz steht und an diesem Ort Identität stiftet.
Das grosse Dach ist ein Kind seiner Zeit, machten doch da mals gleich mehrere Städte mit Dächern über ihren Bahn hofplätzen von sich reden. In erster Linie war das Bern mit dem 2008 fertiggestellten Baldachin. Das Bauwerk war dort zwar heftig umstritten, doch als Zonierer für die geomet risch schwierige, vom Verkehr umbrandete Fläche spielt es bis heute eine wichtige Rolle. In Winterthur ist das Dach vor allem ein starkes Zeichen. Bloss, wofür? Die Jury des Wett bewerbs für den Umbau des Bahnhofplatzes in Lausanne hat 2016 jedenfalls aufs Gegenteil gesetzt: auf die Kraft des vorhandenen, leer geräumten Stadtraums.
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