Fabrikerbe mit Zukunft

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Themenheft von Hochparterre, April 2017

Fabrikerbe mit Zukunft

Flums und Mels: Zwei ehemalige Spinnereien und Webereien im Sarganserland werden zu Wohnungen und Gewerberäumen umgebaut.

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Fabrikburg vor Bergmassiv: die Textilfabrik Stoffel vor dem Gonzen.

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Umschlagfoto vorne: Fensterreihung und Bergschichtung. Die ‹ Flumserei › vor den Churfirsten. Umschlagfoto hinten: Die Mauern der alten Textilfabrik Stoffel sollen sich bald mit neuem Leben füllen. Editorial

Zweimal gleich und doch ganz anders

Inhalt

4 Die Kronen zweier Dörfer Die Textilfabriken, die über Mels und Flums thronen, haben ihren Ursprung im Kanton Glarus.

10 Mels: Schub fürs Dorfzentrum Ein neues Gemeinde- und Kulturzentrum soll zum Katalysator für die Entwicklung des Dorfkerns werden.

12 Lofts in den Websälen Nach mehr als zwanzig Jahren Leerstand entsteht nach intensiver Planung ‹ Uptown Mels › in der Fabrik hoch über dem Dorf.

18 Flums: kleine Schritte zum Ziel Mitten im Ort steht eine Arbeitersiedlung aus der Zeit um 1900. Ein schwieriges Erbe mit grossem Potenzial.

20 Das Gewerbe ist schon da In der ‹ Flumserei › sind Gewerbe und Dienstleistungen schon eingezogen. Bald werden auch achtzig Wohnungen bereit sein.

26 Lebensraum Sarganserland Die Region zwischen Walensee und Rheintal wird fürs Wohnen immer attraktiver.

30 Karbid, Steinwolle und Flumroc Wer baut, kennt das Isolationsmaterial aus Flums. An die Stelle der Textilfabrik trat aber zuerst ein Karbidwerk.

Die Fabrik ist das grösste Gebäude im Dorf, sie thront über engen Gassen und kleinen Häusern. Textilmaschinen gibt es in den Fabriksälen keine mehr ; die grossen Hallen warten auf neues Leben. Gewohnt soll da in Zukunft werden, das Projekt liegt bereit. Die Fabrik, die hier beschrieben ist, steht in Mels. Sie steht aber auch in Flums, denn die beiden Textilfabriken in den benachbarten Dörfern haben vieles gemeinsam. Aber es gibt auch Unterschiede: Während in Mels der Betrieb vor mehr als zwanzig Jahren stillgelegt wurde und die Gebäude vor sich hin dämmerten, hörten in Flums die Maschinen erst vor knapp zehn Jahren auf zu rattern. Die Gebäude sind deshalb besser im Schuss, und ein Teil davon ist durch ein Gewerbezentrum bereits wiederbelebt und mit der Marke ‹ Flumserei › in der Gegend bekannt. Dafür steht in Mels nicht nur eine Fabrik, die umgenutzt werden will, sondern ein ganzes Ensemble – ‹ Uptown Mels ›, eine kleine Stadt hoch über dem Dorf, mit dem prächtigsten Ausblick weit und breit. Flums oder Mels ? Dieses Heft stellt beide Orte vor. Im Kern stehen dabei die Projekte für den Umbau der Fabrikhallen in Wohnungen, die die Bezeichnung Loft auch wirklich verdienen – in Mels zeichneten Meier Hug Architekten die Pläne, in Flums Moos Giuliani Herrmann Architekten. Ein Beitrag wirft einen Blick in die Geschichte der beiden Fabriken, die ebenfalls oft parallel und manchmal anders verlief. Zwei Porträts stellen die beiden Gemeinden vor, in denen die künftigen Bewohnerinnen und Bewohner von ‹ Uptown Mels › und der ‹ Flumserei › leben werden. Und auch da gibt es Parallelen, wollen doch sowohl Flums als auch Mels ihre potenziell attraktiven, aber etwas verschlafenen Zentren zu neuem Leben erwecken. Um die beiden Gemeinden und die beiden Projekte in ihr Umfeld einzubetten, beleuchtet ein Artikel das wirtschaftliche Umfeld im Sarganserland und richtet dabei den Fokus auf den Wohnungsmarkt. Übrigens: Wer hat gewusst, dass der Ursprung des bekannten Isolationsmaterials Flumroc die Karbidlampen unserer Vorväter waren ? Auch das wird in diesem Heft erklärt. Angesichts der dichten Packung an Informationen, Plänen und Projekten ist es wichtig, dem Auge zwischendurch Erholung zu bieten. Das machen die grossen Bilder, die Jules Spinatsch extra aufgenommen hat.  Werner Huber

Impressum Verlag Hochparterre AG  Adressen  Ausstellungsstrasse 25, CH-8005 Zürich, Telefon 044 444 28 88, www.hochparterre.ch, verlag @ hochparterre.ch, redaktion @ hochparterre.ch Verleger und Chefredaktor  Köbi Gantenbein  Verlagsleiterin  Susanne von Arx  Konzept und Redaktion  Werner Huber  Fotografie  Jules Spinatsch, www.jules-spinatsch.ch  Art Direction  Antje Reineck  Layout  Juliane Wollensack  Produktion  René Hornung  Korrektorat  Marion Elmer, Lorena Nipkow  Lithografie  Team media, Gurtnellen  Druck  Somedia Production, Chur Herausgeber  Hochparterre in Zusammenarbeit mit Alte Textilfabrik Stoffel AG, Mels, und Innobas AG, Flums Bestellen  shop.hochparterre.ch, Fr. 15.—, € 10.—

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Die Kronen zweier Dörfer Die Textilfabriken von Mels und Flums stehen an exponierten Lagen über den Orten. Ihre Geschichte beginnt im Kanton Glarus und endet mit dem Umbau zu Loftwohnungen und Gewerberäumen. Text: Köbi Gantenbein

Wie eine Burg steht die Textilfabrik über Mels. Sie war Anfang des 20. Jahrhunderts zusammen mit der Landschaft ein beliebtes Postkartenmotiv.

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Am 18. Januar 1867 lehnt sich der Glarner Textilherr Jakob Schuler zurück, zündet eine Zigarre an und atmet auf. Endlich haben er und der Melser Ortsverwalter den Vertrag über den Bau einer Textilfabrik auf dem Steigsgut unterzeichnen können. Ein langes Hin und Her mit Mittelsmännern war nötig gewesen, bis Schuler Wissen und Kapital aus dem Glarner- ins Sarganserland zügeln konnte, um da die industrielle Expansion fortzusetzen, die zu Hause an Grenzen stiess. Zunächst als Mitarbeiter, später als Associé war er in die Firma seines Schwiegervaters Johannes Heer eingestiegen, die in Glarus eine grosse Druckerei für Türkentücher führte. Nun wollte Schuler in Mels eine Spinnerei und eine Weberei einrichten. Da gab es genügend Wasserkraft für die Maschinen und arme Menschen, die sie als Fabrikler betreiben würden. Die Gemeinde war skeptisch, weil sie dazu Wasserrechte abtreten und Ungewohntes zulassen musste. Die Herren der Eisenhütte von Plons, wo fünfzig Arbeiter das Erz schmolzen, das Eisenbergwerk Gonzen in der Nachbargemeinde Sargans – das grösste Bergwerk der Schweiz –, sie alle wollten keinen Konkurrenten, der die Löhne der schlecht bezahlten Arbeiter in die Höhe treiben würde und erst noch kommodere Arbeit böte als den heissen Hochofen oder den stickigen, dunklen Stollen. Doch der Ortsverwaltungsrat wurde mit Schuler handelseinig. Die Armut war endemisch, etliche Melser wanderten nach Amerika aus. Beunruhigt haben wird den Ortsverwalter auch die Erfahrung mit der Schwerindus­ trie im Dorf. Die Glasfabrik, um 1800 gegründet, hatte vor ein paar Jahren ihre acht Schmelzöfen einstellen müssen. Das Holz aus den Melser Wäldern war zu teuer geworden und Steinkohle wegen der schwierigen Transportwege unbezahlbar. Energiehunger bedrückte auch die Eisenhütte von Plons, die Eisenerz aus den Gonzengruben schmolz – sie gab auf. So entschieden sich die Melser viel später als die Glarner und die Zürcher Oberländer, auf die Textil­ industrie zu setzen. Ermutigend war wohl auch, dass in der Nachbargemeinde Flums seit einem Jahr die Spindeln in der Fabrik am Schilsbach schnurrten. Jakob Schuler hatte mit den Melsern geschickt verhandelt. Gegen die Versicherung, dass seine Firma Joh. Heer & Cie Arbeitsplätze für 150 bis 200 Menschen schaffen werde, stellte ihm die Gemeinde nicht nur die Wasserfassung her, sondern übertrug ihm Land- und Wasserrechte und baute eine Strasse zum 65 000 Quadratmeter grossen Areal, wo die Fabrik entstehen sollte.

1866 nimmt die Spinnerei Schilsbach – die spätere Spinnerei Spoerry – den Betrieb auf. Noch fehlt der Turm in der Mitte des Fabrikgebäudes. Grafik: Archiv Innobas

Lange Industrietradition Die bis ins 14. Jahrhundert zurückreichende Melser Tradition der Schwerindustrie, die Eisen aus Erz gewann, ging 1867 in eine Industrie über, die aus Baumwolle aus Amerika und dem Nahen Osten mit geringerem Energie- Mels und Flums mit den beiden Fabriken um 1910. Plan: Swisstopo aufwand, aber bedeutend höherem Kapitalbedarf Garne und Gewebe herstellte. Sie wurden für ferne, fremde Märkte hergestellt, nicht mehr wie das Glas oder das Eisen für den regionalen Bedarf. Aus dem regionalen Kreislauf wurde Mels in einen globalen gedrückt. 1875 waren die dafür nötigen Anlagen, Zufahrten und Zuleitungen für die grosse Fabrik fertiggestellt. 20 000 Spindeln in der Spinnerei waren betriebsbereit, zwei Jahre später folgten 140 Webstühle, und bald schon verdoppelte Schuler die Spoerry Flums › heisst die Lesen Anzahl Spindeln und verdreifachte die Webstühle. Geschichte, die Oliver Im Buch ‹ Geschichte der 600 Menschen arbeiteten in den Fabriken. Melserin­Ittensohn 2016 schrieb. Ein Gemeinde Mels › von 1973, nen und Melser, immer mehr auch Mädchen aus Italien, für packendes, informatives, geschrieben von einer Gruppe Lokalhistoriker und apart gestaltetes Buch mit die der Fabrikant am Rand seines Ensembles ein Heim bauvielen Bildern. Lehrer, ist die Entwickte, in dem Menzinger Schwestern die jungen Arbeiterinnen lung des Orts nachzulesen. Beide Bücher sind im Verhüteten. In Mels besassen zur Zeit des Fabrikbaus 621 ­‹­ Pioniergeist – 150 Jahre lag Sarganserländer der 691 Haushaltungen eigenen Grund und Boden – → Unternehmertum Familie Druck in Mels erschienen.

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→ das klingt grossartig. Aber die Grundstücklein waren klein, und die Not, das Land bebauen zu müssen und möglichst viel zur Selbstversorgung aus ihm herauszuholen, war gross. Ein Bewusstsein und eine Not, die bis weit ins 20. Jahrhundert die Menschen und das Dorfbild prägten. Für die Fabrikler entstanden eigenständige Quartiere. Zum Beispiel in Parfanna zwischen dem Oberdorf und dem Hangfuss unter der Fabrik. Die Arbeiterhäuser, einoder zweigeschossig und in Holz konstruiert, stehen regelmässig in drei Reihen. Am Rücken haben sie Schöpfe und Ställe, dazu Gärten. Später kamen bescheidene Einfamilien- und Doppelhäuser dazu, gemauert und verputzt, sodass ein reizendes und auch heute als Wohnort begehrtes Ensemble daraus wuchs. Fabrikpalast, Mädchenheim, Kosthaus, Fabrikantenvilla und Arbeiterquartier – Bauten, die an der Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert zeigten, dass Schulers Spekulation aufgegangen war. Mels war ein Bauern- und Fabriklerdorf geworden.

Der Flugpionier Walter Mittelholzer kurvte in den 1920er-Jahren über Mels und schoss dieses Foto von der Textilfabrik Stoffel. Foto: ETH-Bibliothek, Bildarchiv

Mit der Perspektive nahm es der Zeichner nicht so genau, Hauptsache, alle Gebäude der Stoffel-Fabrik passten aufs Bild. Bild: Archiv Alte Textilfabrik Stoffel

‹ Mels mit Gonzen › steht hinten auf dieser Ansichtskarte, aber zu sehen sind im Vordergrund vor allem die Textilfabrik und die Kosthäuser.

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Frühe Globalisierung In der Industrie setzen sich die Unternehmer durch, die einen möglichst grossen Teil der Profitkette kontrollieren und über das dafür nötige Kapital verfügen können. 1920 übernahm der St. Galler Handelsunternehmer Beat Stoffel die Fabrik auf dem Gsteig von der Glarner Familie und fügte sie in sein Schweizer Textilimperium ein, zu dem Fabriken in Schmerikon, Eschenbach, Neuhaus, später in Elgg, Netstal, Lichtensteig und Herisau gehörten. Stoffel und seine Nachfolger organisierten ihre Fabriken vertikal mit zentraler Führung, unterschiedlichen Fertigungen und eigenem, weltweitem Handel. In Mels fügte er seinem Terrain die Färberei des Konzerns zu, baute das Kraftwerk ebenso aus, wie er laufend die Maschinen auf neuem Stand hielt. In der besten Zeit arbeiteten 700 Menschen für ihn. Statt gesponnenen Halbzeugs gingen nun Markenartikel von Mels in die Welt hinaus: ‹ Stoffeltüechli › waren der Renner, ‹ Stoffels Aquaperl › hiess der Stoff für Regenmäntel, aus ‹ Stoffels Splendesto › wurden die ersten bügelfreien Hemden genäht. Bald schon kam der nächste Schub der Globalisierung. Auf dem nach dem Zweiten Weltkrieg entfesselten weltweiten Markt der Fabrikation und des Vertriebs von Texti­ lien mit zu vielen Angeboten hatte den längsten Schnauf, wer über viel Wissen und noch mehr Kapital verfügte, die Produktion zu verbessern. Beat Stoffels Nachkommen holten den amerikanischen Textilriesen Burlington Inc. ins Boot. Aus dem Minderheits- wurde bald der Mehrheitsaktionär. In den 1960er-Jahren investierte der Trust noch. Franz Hidber, der Chronist der Melser Wirtschaftsgeschichte, war zuversichtlich: « Neustes wissenschaftliches Wissen findet in Mels seinen Niederschlag. » Doch den Amerikanern brachte der Melser Niederschlag zu wenig Ernte. Sie verscherbelten ihren Besitz weiter. 1995 brannte es verheerend auf dem Gsteig, das Geschäft wurde eingestellt, die Leute entlassen, die Liegenschaften des Ensembles verwaisten. Sie ruhen seit nun zwanzig Jahren. Nun werden sie für ‹ Uptown Mels › eingerichtet. Flums – gleich und anders « In der Geschichte der Spinnerei Spoerry in Flums ragt besonders das Jahr 2001 heraus: Es wurde die grösste Jahresmenge von rund 2515 Tonnen Baumwollgarn produziert, umgerechnet auf eine Tagesproduktion ergibt das 780 000 Kilometer Garn. Das entspricht mehr als der Strecke von der Erde zum Mond und zurück. In der Weiterverarbeitung als feinste Bettwäsche ergibt diese Menge genug Gewebe für acht Fussballfelder. » So steht es in der Firmengeschichte der Spoerrys zu lesen. →

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Der Sulzer-Dieselgenerator ist der Blickfang im Kraftwerk und wird es auch im künftigen Restaurant sein.

Im ehemaligen Turbinenraum des Melser Fabrikkraftwerks wird ein Restaurant eingerichtet. Themenheft von Hochparterre, April 2017 —  Fabrikerbe mit Zukunft — Die Kronen zweier Dörfer

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Maschinen aus unterschiedlichen Epochen geben sich ein Stelldichein.

Bis vor knapp zehn Jahren liefen in den Sälen der Spinnerei Spoerry noch die Textilmaschinen.

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→ Gleich und doch anders als in Mels ? Gleich: Aus beiden Fabrikgeschichten wuchs ein eindrückliches Ensemble mit der einer Kathedrale ähnlichen Fabrik als Krone des Dorfes, mit Kost- und Mädchenhäusern, mit Arbeitersiedlungen und Fabrikantenvillen, mit gefassten Bächen und Kraftwerken. Gleich: Beide Textilfabriken gibt es nicht mehr. Gleich: Aus beiden Geschichten wuchsen Familien, die das Leben und die Gesellschaft in Dorf und Region beherrschten. Und entscheidend anders: Das Melser Regime wechselte schon vor hundert Jahren nach St. Gallen, dann nach Amerika, um danach im international herumwirbelnden Kapital zu verschwinden. Die Flumser Fabrikantenfamilie Spoerry aber blieb im Dorf. Die Nachkommen der Pioniere schafften als Unternehmer die Transformation der Textilindustrie. Fünfer und Weggli Begonnen hat die Flumser Industrialisierung mit einem Inserat in der NZZ von 1850: « Die Ortsgemeinde Flums-Dorf sucht Fabrikanten, welche in Flums ihre Geschäftstätigkeit aufnehmen wollen. » Zehn Jahre später erst kann die Gemeinde Flums mit den Brüdern Heinrich Flums und der Palast: eine Gesamtansicht des Dorfes mit der Spinnerei am Rand und Johannes Spörri aus Oberurnen und ihren Kompag- und den Flumserbergen als Hintergrund. Foto: Archiv Innobas nons den Vertrag für die Spinnerei Schilsbach abschlies­ sen. Auch sie stiessen mit ihrer Textilproduktion im Glarnerland an Grenzen. Der Gemeinde Flums muss das Wasser am Hals gestanden haben, denn sie gab viel her: die umfassende Wassernutzung ohne Zinsen und Abgaben, Steine und Sand, um die Fabrik zu bauen, nur ein Spritzenhäuschen auf dem Areal der künftigen Fabrik hatten die Bauherren auf ihre Kosten zu versetzen, und sie mussten versprechen, binnen 18 Monaten 100 bis 140 Arbeitsplätze zu schaffen. Ab 1866 surrten 35 000 Spindeln, bald waren es 75 000 – auch wenn Spörris in Flums verglichen mit den Glarner, den Zürcher Oberländer oder gar den italienischen oder englischen Fabriken spät eingestiegen waren, ging das Risiko auf. Die Arbeiter waren billig und die Transportwege dank der neuen Eisenbahn gut, die politische Stimmung für tatkräftige Kapitalisten in der jungen Eidgenossenschaft war ausgezeichnet. 1893 entsteht in der Mitte Ende der 1880er-Jahre surrten schon 100 000 Spindes Spinnereigebäudes deln, und es wurde kontinuierlich investiert: elektrischer in Flums der runde Turm als Fluchtweg im Brandfall. Antrieb, Ringspinnmaschinen, Marketing und Produktentwicklung. Sozial waren die Fabrikherren Spoerry – das ö hatte mittlerweise zu oe und das i zum y gewechselt – fortschrittlich. Sie bauten eine Arbeitersiedlung im Neudorf, richteten schon 1890 eine Pensions- und bald darauf eine Krankenkasse ein und zahlten den Arbeitern, die zum Militär mussten, Lohnausfall. Über das ganze 20. Jahrhundert ging es auf und nieder mit den Gespinsten aus Flums – es ist eindrücklich, wie im Unterschied zu andern Textildynastien die Spoerrys und Angeheiratete über ein Jahrhundert mit vertikaler Integration der gesamten Profitkette von der Baumwolle bis zum Handel, mit technischen Erfindungen für Apparate und Maschinen, mit Produktentwicklungen und Aufbau von Markenartikeln am Ball blieben. 2009 war dennoch fertig Garnspinnen in Flums. Die letzten 140 Mitarbeiter – mittlerweile viele Fremdarbeiter – verloren ihre Stelle, die Maschinen wurden abgebaut. Das Wissen um die Spinnerei auf dem höchsten Niveau und der Handel wurden in eine Gesellschaft – die Spoerry 1866 – ausgelagert, und die Immobilien und das Elektrizitätswerk in eine andere Gesellschaft – die Innobas – versorgt. 2014 schliesslich ging das Elektrizitätswerk an die St. Gallisch-Appenzellischen Kraftwerke über. Die InnoIn grossen Sälen standen die meterlangen automatischen Spinnmaschinen ( Selfaktoren ). So entstanden feine Baumwollgarne. bas verwaltet und entwickelt die Brache der Textilien – in der Flumserei wird bis heute weiterhin gearbeitet und bald auch gewohnt.

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Mels: Schub fürs Dorfzentrum Das Gemeinde- und Kulturzentrum soll zum Katalysator für die Entwicklung werden. Ein Baumemorandum dient als Leitfaden für die Veränderungen im Dorfkern. Text: Christian Wagner und Sandra Bühler, HTW Chur

rung zum Tagesthema. Eine grosse Bürgerinformation in einer Halle der alten Textilfabrik Stoffel mit ‹ Marktständen ›, Fragebogen und Workshops sensibilisierte die Bevölkerung. Die Schaffung einer Ortsbildkommission, der In Mels ist es so wie an vielen Orten: Der Kern ist baulich Überbauungsplan Dorfkern Ost und eine Farbidentitätszwar weitgehend intakt, doch ziehen die Einkaufszentren analyse sind Instrumente, die den Charakter des Dorfes am Dorfrand die Kaufkraft ab. Gleichzeitig besteht die Ge- ebenso stärken sollen wie der Vortritt für Fussgänger im fahr, dass die alten Gebäude und Gärten unter der Prämis- Kern, das Parkplatzkonzept und ein neuer Fussgängerweg. se der Verdichtung anonymen Neubauten weichen. Das will die Gemeinde Mels verhindern: Sie will die bestehenBaumemorandum als Orientierungshilfe den Funktionen stärken und neue Aktivitäten im Zentrum Ein wichtiges und neuartiges Planungsinstrument ist entwickeln, damit der Dorfkern mit dem Marktplatz seine das ‹ Baumemoran­dum ›. Es sind nicht allein die wichtigen Funktion als Zentrum bewahren kann. Die Zeichen dafür denkmalgeschützten Einzel­ob­jekte wie Kirche, Kapelle stehen gut, sind doch im historischen Zentrum in den und Rathaus, die ein Dorfbild entscheidend mitbestimnächsten Jahren mehr bauliche Veränderungen geplant men, sondern vor allem die Erscheinungsmerkmale der als insgesamt in den vergangenen Jahrzehnten. So be- Regelbauten. Damit befasste sich das Institut für Bauen gann Ende 2016 der Abbruch der Liegenschaft Platz 9, die im alpinen Raum ( IBAR ) der Hochschule für Technik und einem Neubau weichen wird, und auch das charakteristi- Wirtschaft ( HTW ), Chur. Unter der Leitung von Christian sche Dreigiebelhaus hinter dem Dorfbrunnen wird saniert. Wagner hat es für die Gemeinde dieses Planungsinstrument entwickelt, das als Orientierungshilfe für Bauherren, ‹ Pinot Noir ›, ein Meilenstein Planer und Behörden dient. Erfasst der Denkmalschutz Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung ist das vor allem einzelne Objekte, lenkt das ‹ Baumemorandum Gemeinde- und Kulturzentrum am Dorfplatz. ‹ Pinot Noir › Dorfkern Mels › den Blick auf die Gesamtwirkung und die heisst das Projekt, in das die Melserinnen und Melser typologischen Eigenheiten. Neubauten im Kern sollen grosse Hoffnungen für die Entwicklung ihres Dorfes sich an historischen Merkmalen und Gestaltungsprinsetzen. Unter diesem Kennwort reichte das Büro Raum- zipien wie Arkaden im Erdgeschoss, dem Strassenraumfindung Architekten aus Rapperswil seinen Entwurf ein profil, Rhythmus und Grösse von Fenstern, Symmetrien und gewann damit 2013 den Projektwettbewerb. Anstelle in der Fassadengestaltung, Materialien, Farben und andedes alten ‹ Löwen › entsteht ein Saal mit 400 Bankett- oder rem orientieren können. Dabei muss man nicht auf eine 780 Konzertplätzen, davor bieten der Marktplatz, der Fest- eigenständige, zeitgemässe Architektur verzichten. Das platz und der Traubenplatz offenen Raum für Anlässe. Ein Baumemorandum ist ein Gestaltungsinstrument, dessen Erweiterungsbau neben dem Rathaus bringt der Gemein- Zielvorgaben als Orientierung für Eigentümer, Investodeverwaltung den benötigten Platz. Alle diese Neubau- ren und Planer dienen, und es erleichtert der Behörde die ten fügen sich sorgfältig in die Umgebung ein. Gerade in Prüfung der Baueingaben. Das Arbeitsinstrument kann Zeiten der globalisierten Architektur und der monotonen mithelfen, eine spezifische Form von ‹ Melser AuthentiziVerstädterungsprozesse werden die historisch gewach- tät › zu schaffen. Neues lässt sich so unter der ‹ Wahrung senen, mit lokalen Baustoffen und örtlichen Bauweisen des Gesichts › und ohne sichtbare Narben in die Dorferrichteten Gebäude immer wichtiger für die Identität ei- struktur einfügen. nes Orts. Das ist in Mels besonders ausgeprägt, wie ein Spaziergang durch das Dorf oder die Lektüre des InvenDorfentwicklung – auch aus Kinderaugen tars schützenswerter Ortsbilder der Schweiz ( Isos ) zeigt: In Mels waren auch die Ideen der Kinder gefragt. Zu« D en historischen Mittelpunkt, den Ortskern, kennzeich- sammen mit der Gemeinde und der Schule entwickelte net ein klar fassbares Netz von Haupt- und Nebengassen die HTW im Rahmen der Bürgerinformation den Wettbeund – als Krönung – der im Sarganserland einmalige, werb ‹ mein Dorfplatz im Jahr 2040 – wie ich mir das Mellängsrechteckige Dorfplatz », heisst es da. ser Dorfzentrum zu meinem 40. Geburtstag wünsche ›. Wie können angesichts der zahlreichen Projekte die- Vom Kindergarten bis zu den Sekundarklassen setzten se ortstypischen Merkmale erhalten bleiben ? In der Pra- rund 800 Kinder und Jugendliche ihre Ideen in ein aus xis ist der Ermessensspielraum so gross, dass er die ge- einem Faltbogen gebautes Dorfmodell und illustrierten baute Kultur im Siedlungskern gefährden kann. Und oft auf einem Plakat ihre Vorschläge. Anlässlich der grossen empfinden die Bauherrschaften eine je nach konkreter Bürgerinformation jurierten Kinder, Jugendliche und Situation unterschiedliche Auslegung als Willkür. Das Pro- Erwachsene die Beiträge. Am Ende hatten nicht nur die jekt für das Gemeinde- und Kulturzentrum und die ande- Kinder einen Beitrag zur Dorfentwicklung aus ihrer Opren bevorstehenden Veränderungen im Dorfkern machten tik geleistet. Der Wettbewerb sensibilisierte auch die Erdiese Fragen im Melser Gemeinderat und in der Bevölke- wachsenen: Architektur wurde zum Dorfthema.

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Das Gemeinde- und Kulturzentrum soll den Kern von Mels stärken – architektonisch und gesellschaftlich. Illustration: Raumfindung Architekten

Ortsplan von Mels: Rot eingezeichnet sind die kürzlich realisierten und geplanten Bauvorhaben. Im Ortskern das Gemeinde- und Kulturzentrum 1, am Rand die alte Textilfabrik Stoffel 2. Plan ( Ausschnitt ): HTW Chur

Im Baumemorandum sind die historischen Merkmale und die Gestaltungsprinzipien festgehalten. Plan ( Ausschnitt ): HTW Chur

Eine Farbanalyse zeigt die Eigenheiten der Melser Bebauung und dient als Leitfaden für Bauprojekte.

Das Dreigiebelhaus wird saniert und mit einem Café belebt. Foto: Gemeinde Mels Themenheft von Hochparterre, April 2017 —  Fabrikerbe mit Zukunft — Mels: Schub fürs Dorfzentrum

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Lofts in den Websälen Nach mehr als zwanzig Jahren Leerstand beginnen bei der Fabrik hoch über Mels demnächst die Bauarbeiten. Am Ende eines langen Wegs steht ein ausgereiftes Projekt. Text: Werner Huber

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Was wird heute nicht alles als Loftwohnung verkauft ! Kaum sind die Räume etwas höher, der Beton sichtbar und der Stahl rostig, sprechen die Promotoren von einer Loftwohnung – auch wenn ihr ‹ Produkt › nichts mit der ursprünglichen Bedeutung von Loft als umgenutzten Lager- oder Industrieraum zu tun hat. Beim Projekt ‹ Uptown Mels › ist das anders: Hier steht nicht nur Loft drauf, sondern es ist auch Loft drin. Der ganz grosse Traum von der Wohnung so gross wie ein ganzes Fabrikgeschoss wird hier zwar auch nicht geträumt. Bei 1500 Quadratmetern wäre das wohl auch des Guten zu viel. Doch wer sich für eine Wohnung entscheidet, muss sich das Fabrikfeeling nicht zusammendekorieren, es gehört zur DNA des Projekts. 18 bis 28 Meter tief sind die Wohnungen von Fassade zu Fassade, 3,7 Meter hoch sind die Räume, erhellt von hohen Fabrikfenstern. Auch die Gusseisenstützen sind inbegriffen – bei einigen Wohnungstypen als Einzelstützen, bei anderen als Reihe oder gar als achtstützige Allee. « Eine solch grosse Raumtiefe würde man für Wohnbauten ja nie planen », meint Michael Meier vom Büro Meier Hug Architekten. Doch die Musterwohnung, die sie mit einfachen Mitteln in die bestehenden Fabrikhallen eingebaut haben, zeigt, dass das funktioniert. « Das ist vor allem den hohen Fenstern zu verdanken, die viel Licht in die Tiefe bringen », meint Meier. Das Büro hatte 2013 den Studienauftrag zur Alten Textilfabrik Stoffel gewonnen. Die Musterwohnung überzeugte auch die Projektentwickler von ‹ Uptown Mels ›, David Trümpler, Marco Brunner und Dieter von Ziegler. Und sie hilft auch den potenziellen Käufern der Eigentumswohnungen, sich eine Vorstellung ihres künftigen Heims zu machen. Nachdem die Fabrik 1995 stillgelegt worden war siehe ‹ Die Kronen zweier Dörfer ›, Seite 4, ersteigerten 2007 die St. Gallisch-Appenzellischen Kraftwerke und die Gemeinde Mels die Fabrik. Sie wollten sich damit vor allem das gewinn-

bringende Kraftwerk und das Wasserrecht sichern. Die übrigen Bauten wollten sie verkaufen und kontaktierten dafür Dieter von Ziegler, der in der Region dank der Umnutzung der alten Spinnerei Murg bekannt war. Mit ihm zusammen erarbeiteten sie einen Gestaltungsplan, um die Fabrik investorentauglich zu machen. Die Altbauten sollten zwar stehen bleiben, doch hätte der Gestaltungsplan grosse Eingriffe zugelassen. Von Ziegler, der eine Kaufoption hatte, holte ein Konsortium um Trümpler und Brunner mit ins Boot, die mit dem ‹ Lot › in Uster, der Spinnerei Oberkempttal und weiteren Projekten erfahrene Fabrik­ umnutzer sind. Zusammen gründeten sie die Firma Alte Textilfabrik Stoffel ( ATS ) und übernahmen 2013 die Gebäude in Mels. Den kurz zuvor genehmigten Gestaltungsplan verwarfen sie allerdings und stellten für einen neuen Anlauf eine hochkarätige Jury zusammen. Fachpreisrichter waren Peter Ess, Marianne Burkhalter, Franz Romero und Lukas Schweingruber. Acht Architekturbüros wurden zu einem Studienauftrag eingeladen. Meier Hug Architekten und die Landschaftsarchitektin Rita Illien konnten ihn für sich entscheiden. Kein Gebäude, sondern ein vielfältiges Ensemble Die Jury lobte: « D er Projektvorschlag setzt die anspruchsvollen und vielseitigen Rahmenbedingungen in einer selbstverständlichen Art und Weise in ein stimmiges Ganzes um. Einen wesentlichen Anteil dazu trägt auch die Freiraumgestaltung bei, welche das Prinzip der kompakten Baukörper, die von einem zurückhaltend gestalteten Grüngürtel umgeben werden, konsequent weiterschreibt. Insbesondere die klar lesbare Freiraumfuge zwischen der Fabrik und dem Melser Talboden verhilft der Anlage zu einem souveränen Auftritt .» Damit war im Januar 2014 der Grundstein für die weitere Projektentwicklung gelegt. Die alte Spinnerei Mels ist nicht einfach ein grosses Fabrikgebäude, sondern ein Ensemble aus mehreren Bauten. Wahrzeichen sind die mächtigen Volumen der hoch über Mels thronenden Spinnerei und der dahinter stehenden Weberei. Dazwischen liegt ein Hof, überbrückt →

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Um die hoch über dem Dorf gelegene Fabrik besser zu erschliessen, wird hier ein Schräglift erstellt. Das Gebäude aus den 1960er-Jahren wird abgebrochen.

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Weberei, Spinnerei und Öffnerei: 1. Obergeschoss.

Weberei, Spinnerei und Öffnerei: Erdgeschoss ( Niveau Fabrikhof ).

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→ vom Verbindungsbau zwischen den beiden Häusern. An die Spinnerei schmiegt sich das Kraftwerk an, die Weberei erhielt Anbauten für die Kantine und Magazine. Davon losgelöst stehen die deutlich jüngeren Gebäude der Öffnerei und der Färberei. Erschliessung mit der zweiten Etappe Die Etappierung von ‹ Uptown Mels › beginnt nicht bei der zuvorderst stehenden Spinnerei und auch nicht chronologisch, sondern sie beginnt bei der vom Dorf nicht sichtbaren Weberei. « Wir haben die Reihenfolge sicher fünfmal gekehrt und uns schliesslich entschieden, hinten zu beginnen », lässt David Trümpler den Entscheidungsprozess Revue passieren. Mit einer Gebäudetiefe von 18 Metern bei der Weberei ist es einfacher, ein vielfältiges Wohnungsangebot unterzubringen als in der 28 Meter tiefen Spinnerei. Dort gibt es rund ein Dutzend unterschiedliche Typen, während die Weberei mit 28 Wohnungstypen aufwarten kann, von denen viele familientauglich sind. Das macht die Vermarktung der Eigentumswohnungen attraktiver. « Wer jetzt kauft, muss zwar noch gut zwei Jahre warten, aber er kommt preisgünstig zu einer tollen Wohnung », meint Trümpler. Zudem sind die Immissionen der nächsten Bauetappen bei der hangseitig gelegenen Weberei gering, insbesondere den gegen Süden orientierten Aussenraum können die Bewohnerinnen und Bewohner dann bereits ungestört geniessen. Als zweite Etappe, praktisch gleichzeitig, wird anstelle der ehemaligen Öffnerei ein Neubau mit Mietwohnungen erbaut, der als Ganzes an einen Investor verkauft werden soll. Zu dieser Etappe gehört auch der Schräglift, der ‹ D owntown Mels › – das Dorf – mit ‹ Uptown Mels › verbindet und dafür sorgt, dass man das Auto auch mal getrost in der Garage stehen lassen kann. Erst als dritte Etappe nehmen die Entwickler den Umbau der Spinnerei in Angriff. Bis dann hat sich das neue Quartier schon etabliert, sodass auch die anspruchsvolleren Wohnungen ihre Käufer finden werden. Als Schlusspunkt ist schliesslich als schlanker Riegel an der Hangkante der Neubau ‹ Steigs › geplant, für den zurzeit die Arbeiten am Gestaltungsplan laufen. Am Anfang sei die Melser Bevölkerung schon etwas skeptisch gewesen, als sie als Auswärtige kamen, erinnert sich Trümpler. Doch heute sei die Freude im Dorf gross, dass es endlich losgeht. Der Bezug der Gemeinde zur Fabrik sei gross: Einst arbeiteten hier 700 Personen – wohl aus jeder Melser Familie jemand. Am Ende werden hier 700 Menschen wohnen. Preise, nur halb so hoch wie in Zürich Und woher werden die neuen ‹ Uptowner › kommen ? Zunächst hoffte Trümpler, dass sich Bewohner aus dem nahen Fürstentum Liechtenstein zu einem Umzug hierher motivieren liessen und dass auch unter den Zürcherinnen das Interesse gross sein werde. « Eine Loftwohnung in unserer Fabrik und ein ‹ pied-à-terre › in Zürich kommt billiger als eine einigermassen grosse Wohnung in der Stadt », meint der Entwickler. Das Interesse aus Zürich ist bisher bescheiden. Inzwischen schätzt er das Einzugsgebiet auf einen Radius von fünfzig bis sechzig Kilometern für die erste Etappe. In späteren Etappen könnte sich der Radius aber ausweiten. Im Wohnungsmarkt liegt der Quadratmeterpreis in Mels bei rund der Hälfte der Zürcher Preise. Das reduziert die Rendite entsprechend, denn Bauen ist im Rheintal nur geringfügig preisgünstiger. Vom Kauf der alten Textilfabrik bis zum Baubeginn diesen Sommer sind viereinhalb Jahre vergangen. « Noch nie haben wir ein Areal so lange beplant », sagt David Trümpler, der erwartet hätte, dass es zügiger vorwärtsgeht. →

Querschnitt durch die Weberei links, den Fabrikhof und die Spinnerei.

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Projekt ‹ Uptown Mels › Fabrikstrasse, Mels Bauherrschaft: Alte Textilfabrik Stoffel, Mels Architektur:  Meier Hug Architekten, Zürich Bauleitung:  Ralbau, Chur Landschaftsarchitektur:  Müller Illien, Zürich Kosten:  Fr. 120 Mio.

‹ Uptown Mels ›: Elemente und Etappen 1 Villa 2 Weberei 3 Kantine 4 Verbindungsbau 5 Magazin 6 Öffnerei 7 Kraftwerk 8 Schräglift 9 Spinnerei 10 Neubau Steigs

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1 .  Etappe: Umbau Weberei, Frühjahr 2019 2 .  Etappe: Neubau Öffnerei, Frühjahr 2019 3 .  Etappe: Umbau Spinnerei, Sommer 2020 4 .  Etappe: Neubau Steigs ( separater Gestaltungsplan )

Loggien und Dachgauben bringen viel Licht in die Wohnungen unter dem Dach. Themenheft von Hochparterre, April 2017 —  Fabrikerbe mit Zukunft — Lofts in den Websälen

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→ « Als Entwickler musst du beim Kauf brutal optimistisch sein », meint er mit Blick auf sein Metier. Doch das Projekt ist nicht nur für die Entwickler, sondern auch für die Architekten und die Planer, für die Gemeinde und den Kanton anspruchsvoll.

Die Musterwohnung zeigt, wie viel Licht die hohen Fenster in die tiefen Räume bringen.

In der Modellwohnung können mittels Vorhängen unterschiedliche Raumaufteilungen aufgezeigt werden.

Küche und Sanitärzelle im Zentrum rhythmisieren die langgestreckten, von Fassade zu Fassade aufgespannten Wohnungen. Foto: Peter Fuchs

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Gute Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege Mit klugen Entwurfsansätzen haben die Architekten gute Lösungen für die grossen Gebäudetiefen gefunden. Doch auch technische und denkmalpflegerische Fragen prägen das Bauen im und am Bestand. Zu einer zeitgemässen Wohnung gehört ein Aussenraum, doch wie lässt sich der realisieren, ohne den Charakter der Fabrik zu zerstören ? Lage und Ausrichtung der Altbauten machten zumindest die Lösung dieser Frage einfach. Bei ‹ Uptown Mels › kommt die Sonne nämlich von hinten, sodass man hangseitig mit frei gestellten Balkonen grosszügige Aussenräume schaffen konnte. Diese tangieren die ortsbildprägenden Fassaden auf der Talseite nicht und können im Einverständnis mit der Denkmalpflege gebaut werden. Die radikale Umnutzung eines historischen Gebäudes ist immer eine Gratwanderung zwischen der Geschichte und der Gegenwart, wobei Michael Meier die Zusammenarbeit mit der Denkmalpflege bei diesem Projekt lobt. Eine anspruchsvolle und ebenfalls vom Denkmalschutz tangierte Aufgabe hatten auch die Ingenieure von Conzett Bronzini Partner zu lösen: Wie kann man das statische System der alten Fabrik mit tragenden Aussenwänden, schwachen Stützen und Decken für die neue Nutzung aufrüsten, ohne das Alte dabei zu zerstören ? Das Prinzip ist einfach: Die vorhandenen Böden werden zu verlorenen Schalungen, auf die eine neue Decke betoniert wird. Deren Lasten werden über die neu eingefügten, ebenfalls betonierten Treppenhäuser und Wohnungstrennwände abgeleitet. So werden die historischen Stützen entlastet, die Schallübertragung zwischen den Wohneinheiten wird eliminiert, und die Normen für die Erdbebensicherheit und den Brandschutz werden erfüllt. Zusammen mit den grossen Fabrikfenstern, den Betonwänden und dem fugenlosen Boden werden die Stützen für Loftatmosphäre sorgen. Wie ausgeprägt der Loftcharakter sein soll, können die Käufer selbst bestimmen, je nachdem, wie viele Trennwände sie einbauen. Dabei sorgen die in der Mitte angeordneten Sanitärzellen für vielfältige Möglichkeiten. Breite Infrastruktur und gute Aussenräume Anders als etwa die Flumserei siehe ‹ Das Gewerbe ist schon da ›, Seite 20 ist ‹ Uptown Mels › fast ausschliesslich ein Wohnbauprojekt. Es gibt zwar auch einige Gewerberäume, doch diese sind eher für lokal orientierte Nutzungen wie Ateliers, Home Offices, Kinderhort oder Arztpraxen vorgesehen. Das Herz von ‹ Uptown Mels › wird am Stoffelplatz schlagen, einem öffentlichen Raum am Gelenk von Weberei, Öffnerei und Spinnerei und in direkter Verbindung zum etwas privateren Fabrikhof zwischen den beiden Altbauten. Dank der Grösse des Projekts können die künftigen ‹ Uptownerinnen › und ‹ Uptowner › von einer breiten Infrastruktur profitieren. Dazu gehören neben dem zentralen Stoffelplatz die parkartige, aussichtsreiche Umgebung mit Tischen und Bänken, einem Grillplatz, eigenem Naturpool und Sauna sowie ein grosser Gemeinschaftsraum für alle Arten von Anlässen. Weit ausstrahlen soll dereinst das geplante Restaurant im alten Kraftwerk. Gediegenes Tafeln neben dem mächtigen alten Sulzer-Dieselgenerator oder auf der Aussichtsterrasse mit Blick über das Tal – so stellen sich das die Entwickler vor. In gut zwei Jahren, beim Abschluss der zweiten Etappe, sollte es so weit sein.

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Die Modellwohnung im Massstab 1 : 1 vermittelt die Atmosphäre der künftigen Lofts.

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Flums: kleine Schritte zum Ziel Mitten in Flums steht das Neudorf, eine Arbeitersiedlung aus der Zeit um 1900. Das Erbe hat ein grosses Potenzial für die Entwicklung des Dorfs. Text: Christian Wagner und Sandra Bühler, HTW Chur

und vielen Anläufen nichts fruchteten, öffnete die Hochschule für Technik und Wirtschaft ( HTW ), Chur, den Blickwinkel und richtete das Augenmerk auf die umgebenden Strukturen: Wie kann die Umgebung der Siedlung aufgeWer als Auswärtiger durch das Dorf Flums geht, hat den wertet werden, damit die Standortqualitäten und die ErEindruck, dass hier die Zeit in den 1960er-Jahren ste- neuerungswelle auch das Neudorf-Quartier wecken ? hen geblieben ist. Die Wohnblocks und Einkaufsmalls, die Eine grosse Vision in kleinen Schritten verwirklichen Globalisierung und die Einheitsarchitektur haben Flums verschont. Der über Jahrzehnte gewachsene Charakter Von allen untersuchten Gebieten weist das an das ist noch weitgehend erhalten, und im Zentrum gibt es Neudorf angrenzende Areal Bank – Postplatz – Restaurant zahlreiche pittoreske Ecken, die eine ideale Kulisse für ei- Pöstli das grösste Potenzial auf: eine niedrige Ausnutzung, nen historischen Film abgeben würden. Im Isos, dem In- eine brachliegende und als Parkplatz genutzte Bauparventar schützenswerter Ortsbilder der Schweiz, figuriert zelle, drei in die Jahre gekommene Bauvolumen. Das ist Flums als ‹ verstädtertes › Dorf. Es besticht durch seine eine fast schon lehrbuchmässige Ausgangslage für städtegute Lage zwischen Walensee und Rheintal, die besonde- bauliche Überlegungen. Hier wäre eine grosse Tiefgarage ren räumlichen und architekturhistorischen Qualitäten. möglich, liessen sich neue, verdichtete Wohneinheiten mit Flums, das perfekte Idyll ? Nicht ganz, denn gerade einer öffentlich nutzbaren Erdgeschosszone realisieren, weil der Ort abseits der stürmischen Entwicklung lag, wur- und man könnte einen Platz anlegen, der als Gelenk die de auch nicht überall so in den Unterhalt investiert, wie gerade Achse der Bahnhofstrasse mit dem verwinkelten es der Zahn der Zeit verlangen würde. Das zeigt sich bei Geflecht des Dorfkerns verbindet. Eine Vision ? Vielleicht. einem wichtigen, gemäss Isos dorfprägenden Denkmal Doch ortsbauliche Erneuerungen sind nur mit einem Fernnationaler Bedeutung: dem Neudorf-Quartier. Diese Ar- ziel vor Augen und in kleinen, realisierbaren Schritten beitersiedlung, erbaut zwischen 1895 und 1905, prägt mit möglich. Der Masterplan von 2012 ( KEEAS Raumkonzepte ) rund 12 500 Quadratmetern Fläche den Dorfkern. Wäh- zeigt eine ganze Perlenkette solch öffentlicher Räume in rend die Fabrik zur ‹ Flumserei › umgebaut wird, bröckelt Flums. Ist der Same einmal gepflanzt, keimt der Erneuedas Neudorf. 25 frei stehende Doppeleinfamilienhäuser rungswille und ermutigt angrenzende Gebiete. Die ‹ Flummit grossem Garten in verkehrsarmer Lage – heute der serei › zeigt, wie das funktionieren kann. Traum vieler junger Familien und rares Gut in Zeiten der Eine vergleichbare Entwicklung ist mit den 25 Häuinneren Verdichtung – liegen seit Jahrzehnten im Dorn- sern des Neudorfs möglich. Zurzeit mag die finanzielle röschenschlaf. Die schon vor längerer Zeit eingesetzte Rechnung nicht aufgehen, doch das Einfamilienhaus mit Vernachlässigung zerstört nicht nur die wertvollen Arbei- Garten mitten im Dorfzentrum ist in der Region ein rares terhäuser, sie beeinträchtigt auch die gesellschaftlichen Angebot, sodass ein Ende des Dornröschenschlafs mögStrukturen des Dorfkerns. Eigentlich sind sich alle einig: lich ist. Zusammen mit den architektonisch und siedMitten im Kern von Flums schlummert ein grosses Poten- lungsplanerisch interessanten Projektstudien rund um zial. Nur: Wie weckt man diese Prinzessin ? den Postplatz liegt die Vision auf dem Tisch, und das erste Interesse von Investoren ist geweckt. Siedlungsplanung über Umwege Bei allen engagierten planerischen, gesellschaftliAmbitionierte Ziele chen und politischen Überlegungen – nicht zuletzt auch Gemäss dem Zonenplan Talgebiet, den der Gemeinseitens der Hauseigentümer – ist es letztlich eine finanzi- derat vor zehn Jahren erlassen hat, sollte die Gemeinde elle Frage, die über die Wiederbelebung entscheidet. Was im Jahr 2020 rund 5300 Einwohner zählen ( bei einer potun, wenn die Rendite weit entfernt von idealistischen, sitiven Entwicklung sogar 5800 ). Ein ambitionierter Wert, ja selbst mit Subventionen unterstützten Berechnungen zählte die Gemeinde Anfang 2017 doch erst 4872 Menliegt ? Wenn eine vernünftige Parkierung unmöglich ist schen. Aber die ‹ Flumserei › und das Neudorf sind nicht und Autos die einst idyllischen Vorgärten und die naturna- die einzigen Areale, auf denen Flums seine Zukunft gestalhen, gekiesten Zufahrtswege belegen ? Wenn es rentabler ten kann. Im Februar 2017 bewilligten die Stimmberechist, die Häuser als Sozialwohnungen zu vermieten und da- tigten den Verkauf des Areals der ehemaligen Maschirauf zu warten, dass der reine Landwert massgebend wird, nenfabrik Flums. Auf halbem Weg zwischen Bahnhof und anstatt Verluste in Millionenhöhe in Kauf zu nehmen ? Dorfkern wird die Baugesellschaft Marktstrasse Flums Um diese Negativspirale zu durchbrechen, stehen der eine Überbauung mit dreissig Wohnungen errichten. Dazu Gemeinde und erst recht der Denkmalpflege nur begrenz- gesellen sich weitere Wohnbauprojekte, sodass in den te Interventionsmöglichkeiten zur Verfügung. Manchmal nächsten Jahren im Ort rund 200 Wohnungen entstehen sind Umwege nötig, um das Ziel zu erreichen. Nachdem werden. Wenn sich damit auch die anvisierte Einwohnerdie Bemühungen um eine denkmalpflegegerechte Sanie- zahl nicht erreichen lässt – etliche der Wohnungen sind rung des Neudorfs auch nach jahrelangen Anstrengungen Alterswohnungen –, so ist ein Anfang doch gemacht.

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Heute dämmert die Siedlung vor sich hin und wartet darauf, aus dem Dornröschenschlaf geweckt zu werden. Foto: HTW Chur Das Neudorf-Quartier mit seinen Arbeiterhäusern war um 1900 eine Pionierleistung. Foto um 1920: ETH-Bibliothek, Bildarchiv

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Historische Bausubstanz bildet zusammen mit Neubauten einen Platz. Entwurf ( Bachelorarbeit ): Julia Weder

Eine Umgestaltung der Nachbarschaft könnte das etwas abgeschottete Neudorf-Quartier 1 mit dem Zentrum vernetzen, der Postplatz 2 ein weiteres Glied der Perlenkette öffentlicher Räume sein. Plan: HTW Chur

Die Masterthesis an der ZHAW Winterthur von Architekt Marcel Buner zeigte 2014 Verdichtungen fürs Neudorf.

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Das Gewerbe ist schon da Das Ende der Textilindustrie schuf Raum für Neues: die Flumserei. Gewerbe und Dienstleistungen sind schon eingezogen. Bald sind auch achtzig Wohnungen bereit. Text: Reto Westermann

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ein interessanter Mix: Der lokale Elektriker hat hier eben­ so seine Räume wie ein Campinghändler, eine Kletterhalle, ein italienisches Spezialitätengeschäft oder ein Coiffeur, dessen Kunden sogar aus Zürich anreisen. Gestalterische Im Jahr 1986 ist die Spinnereiwelt in Flums noch in Ord­ Höhepunkte der Umnutzung sind der loftartige, mit mar­ nung: Die Spoerry & Co. nimmt einen 7000 Quadratmeter kanten Farben gestaltete Eingangsbereich im ‹ Konnex › grossen Neubau feierlich in Betrieb. Der von einem Ton­ und das für Ausstellungen, Workshops und Events geeig­ nendach überwölbte Industriebau ergänzt das zu klein nete ‹ Gwelb ›. Dieses an Piranesis ‹ Carceri › erinnernde gewordene, altehrwürdige Fabrikgebäude. Dieses kloster­ Raumgefüge entstand in den über vier Geschosse reichen­ ähnliche Gebäude mit dem später angebauten, runden den Belüftungskanälen der früheren Produktionshallen. Treppenhausturm prägt seit seiner Erstellung 1866 das Dorfbild von Flums. Der Neubau sollte ein neues Zeitalter ‹ Flumserei › als Markenzeichen einläuten, und parallel zur Einweihung fährt die Fabriklei­ Sechs Faktoren machten diesen ersten Schritt der tung die Produktion aufgrund der hohen Nachfrage nach Umnutzung ab 2013 zu einem Erfolg: die Etablierung einer oben. Gut zwanzig Jahre später müssen sich die Besitzer­ Marke, die lokale Ausrichtung, gute Architektur, die haus­ familien dann geschlagen geben siehe ‹ Die Kronen zweier Dörfer ›, eigene Eventhalle, Servicedienstleistungen und das zur Seite 4. Die Maschinen finden Abnehmer in aller Welt und Fabrik gehörende Kraftwerk. « Für uns war klar, dass wir stehen heute in Indien, der Türkei oder in Vietnam – bei uns von Beginn weg mit einer eigenen Marke klar positio­ Unternehmen, die Spoerry einst das Wasser abgruben. nieren müssen », sagt Innobas-Geschäftsführer Andreas Hofmänner heute. Der Schriftzug ‹ Flumserei ›, der den durch das Skigebiet bekannten Namen Flums mit dem Büro- und Gewerberäume mit lokalen Mietern Nachdem der Schock verdaut ist, planen die Besitzer­ Wort Spinnerei verknüpft, ziert heute die Strassenfassade familien die Zukunft. Sie teilen das Unternehmen in einen des alten, von der Autobahn her gut sichtbaren Gebäudes. Immobilien- und einen Textilhandelsbereich auf. Die Im­ In der Region ist die ‹ Flumserei › mittlerweile ein Begriff. mobiliensparte kümmert sich unter dem Namen Innobas « Unser Einzugsgebiet reicht von Chur bis Ziegelbrücke, um die künftige Nutzung des Fabrikgebäudes und um das ins Rheintal und bis nach Liechtenstein – Zürich ist zu zugehörige Elektrizitätswerk. Als Geschäftsführer wird weit weg », hält Hofmänner fest. Er vermarktete die Räume nicht ein Immobilienfachmann eingesetzt, sondern mit deshalb hauptsächlich lokal. Um sich von der Konkurrenz Andreas Hofmänner ein Spezialist für die Vermarktung abzuheben, offerierte man zusätzliche Dienstleistungen sowie den Kauf und Verkauf von Unternehmen. Gemein­ wie ein Pub­lic Wlan, gemeinsam nutzbare Sitzungszimmer, sam mit den Besitzern entwickelt er ein Vorgehen, um die Reinigungspersonal oder einen Post- und Telefonservice. Fabrikanlage in Etappen umzunutzen. Ein wichtiges Element für die Vermarktung ist bis heu­ Im ‹ Bogen › – dem Neubau von 1986 –, im Verbindungs­ te die Eventhalle mit Platz für bis zu 480 Personen: « Eine bau ‹ Konnex › und den Annexbauten werden in einer ers­ Halle dieser Grösse und mit guter Atmosphäre fehlte ten Etappe rund 10 000 Quadratmeter Büro- und Gewer­ bis anhin in der Region », sagt Hofmänner. Der vielfältig beflächen an 31 Firmen vermietet. Damit entstand bereits nutzbare Raum im Erdgeschoss des ‹ Bogens › brachte →

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Der runde Turm ist das Wahrzeichen der SpoerryFabrik und verleiht ihr ein burgartiges Antlitz.

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Umnutzung Gebäude Konnex, Annex und Bogen, 2013 Nutzung:  Gewerbe und Dienstleistung Architektur:  OOS, Zürich Vermietbare Fläche:  9660 m2 Anzahl Mieter: 153 Umnutzung Hauptbau, 2020 Nutzung:  Wohnen und Gewerbe Architektur:  Moos Giuliani Hermann Architekten, Uster / Diessenhofen Vermietbare Fläche ( Gewerbe ):  2049 m2 Anzahl Wohnungen: 83

Querschnitt durch das Fabrikgebäude.

2. Obergeschoss mit Wohnungen in der alten Fabrik links und Gewerbe im Gebäude von 1986.

1. Obergeschoss mit Wohnungen in der alten Fabrik links und Gewerbe im Gebäude von 1986.

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→ viele Menschen aus der Region in die bis dahin nur aus der Ferne bekannte ehemalige Spinnerei. « Etliche unse­ rer heutigen Mieter haben die ‹ Flumserei › an einer Ver­ anstaltung in der Halle kennengelernt », sagt Hofmänner. Zum Erfolg der Umnutzung trug auch die Architek­ tur von OOS Architekten aus Zürich bei, die die ehema­ ligen Spinnereiräume im ‹ Bogen › mit möglichst kleinem Aufwand umbauten. Geschickt gingen die Architekten mit dem fast dreissig Meter tiefen Gebäude um: An den Fensterfronten trennten sie mit neuen Wänden je eine zehn Meter tiefe Zone für Büro- und Gewerberäume ab, in der fensterlosen Mittelzone brachten sie neben der Er­ schliessung auch Serviceräume und Sitzungszimmer un­ ter. Die Erschliessung des Gebäudes, Böden, Wände und Decken fassten sie dabei möglichst nicht an, und sie ver­ zichteten auch auf teure Installationen. Nur in den neuen, An der besonnten Rückseite werden die Wohnungen Balkone erhalten. gemeinsamen Teeküchen gibt es Wasser. Die Elektrokabel verlaufen in den bestehenden, sichtbaren Kanälen aus der Spinnereizeit. Vorhandenes wurde weiter verwendet – die Fabrikatmosphäre bewahrt. So bestehen die Lampen in den Korridoren aus alten Spinnkannen – grosse, zylindri­ sche Körper, die einst das Spinngut aufnahmen –, und auf den Böden sind noch immer die Spuren zu sehen, so als ob der letzte Gabelstapler eben weggefahren wäre. Abseits des Fabrikareals, aber entscheidend für die Umsetzung des Projekts, war schliesslich das bis 2013 zur Innobas gehörende Kraftwerk, das rund 9000 Haushalte in der Re­ gion versorgt: Es generierte die für die Finanzierung der Umnutzung nötigen Erträge. Wohnungen mit raffinierter Erschliessung Der Erfolg der ersten Etappe ermutigte die Besitzerfamilien, auch die Neunutzung der weiteren 18 000 Quad­ ratmeter anzupacken. Dabei setzen sie vor allem auf Miet­ wohnungen: « D er Markt für Gewerbeflächen in der Region ist nicht beliebig gross, die Leerstandsziffer im Wohnbe­ Die Umgebung der bestehenden Gebäude wird sorgfältig gestaltet. reich hingegen die tiefste im Kanton St. Gallen. Deshalb ist es sinnvoll, Mietwohnungen zu realisieren », begrün­ det Andreas Hofmänner den Entscheid. Dabei setzt er auf zwei Elemente, die schon zuvor erfolgreich waren: die Marke ‹ Flumserei › und gute Architektur. Aber auch das Kraftwerk spielte noch ein letztes Mal eine entscheiden­ de Rolle. Es wurde 2014 verkauft. Mit dem Erlös hatte die Innobas nun das nötige Eigenkapital für den aufwendigen Umbau des mehr als 150 Jahre alten Fabrikationsgebäu­ des in 83 Wohnungen. Um das passende Projekt für den Umbau zu finden, lud Innobas sieben Schweizer und ein österreichisches Büro zu einem zweistufigen Architekturwettbewerb ein. Alle hatten Erfahrung mit Umnutzungen. Gefordert wa­ ren die Architekten an mehreren Fronten: Richtung Sü­ den, zur Sonne hin, ist nicht die Aussicht, sondern ein Wintergärten unterteilen den tiefen Grundriss. Berghang. Die grosse Tiefe des Gebäudes von gut dreissig Metern macht die Belichtung und die Anordnung der Woh­ nungen schwierig, und die Gebäudelänge von 110 Metern verlangt eine ökonomische Erschliessung mit möglichst wenig Treppenhäusern. Und schliesslich schränkt auch das in der Region übliche Mietzinsniveau das Baubudget ein. Das Rennen machte schliesslich das Projekt der Ar­ chitekten Moos Giuliani Herrmann aus Uster. Ihre Lösung überzeugte die Jury dank der kreativen Integration in den Kontext, dem respektvollen Umgang mit der historischen Substanz und der hohen architektonischen Qualität. Moos Giuliani Herrmann räumen den im Süden gele­ genen Hinterhof der Spinnerei komplett aus und schaffen so Distanz zum Berghang. Diesen werten sie mit einer spezi­ ell gestalteten Bergwiese auf, die über eine Brücke im vier­ ten Stockwerk ans Spinnereigebäude erschlossen ist. → Das ‹ Gwelb › steht schon heute für Anlässe zur Verfügung. Themenheft von Hochparterre, April 2017 —  Fabrikerbe mit Zukunft — Das Gewerbe ist schon da

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→ Aus der unansehnlichen Südseite wird so eine sorgfäl­ tig gestaltete, ruhige Zone für die Wohnungsmieter mit Blick ins Grüne. Dank einer neuen Tiefgarage spielen die Architekten den heutigen Parkplatz auf der gegen das Dorf gerichteten Nordseite des Gebäudes frei für einen Park, was ein expliziter Wunsch der Bauherrschaft war: « Wir möchten die ‹ Flumserei › in eine komplett neue Umgebung stellen und so das ganze Umfeld aufwerten », sagt Andreas Hofmänner. Dazu gehört auch die bereits beantragte Post­ autohaltestelle direkt vor dem Gebäude. Neue Ordnung für die grosse Gebäudetiefe Im Innern des Gebäudes stossen Moos Giuliani Herr­mann sechs Lichtschächte durch das Dach bis ins Erdge­ schoss. Damit schaffen sie eine neue Ordnung, erleich­ tern die Bespielung der grossen Gebäudetiefe und belich­ ten gleichzeitig die Erschliessung. Diese besteht aus drei Treppenhäusern – dem bestehenden im Rundturm und zwei neuen – sowie einer Abfolge von inneren Stras­sen und Plätzen. Die erste ‹ rue intérieure › erschliesst das Erdge­ schoss, das sich zum Wohnen schlecht eignet und deshalb Gewerberäume aufnehmen wird. Von dieser Längsachse führen die Treppenhäuser in die sechs Wohngeschosse. Auf den Stockwerken bilden die Korridore zusammen mit den angrenzenden Lichtschächten kleine Plätze, von denen aus die Wohnungen erschlossen sind. Im vierten Obergeschoss gibt es eine zweite ‹ rue ­intérieure ›. Sie ver­ bindet alle Treppenhäuser miteinander und mit der Brü­ cke zur Bergwiese. Das Angebot von der 2½- bis zur 5½-Zimmer-Woh­ nung deckt verschiedene Bedürfnisse ab. Durchschuss­ wohnungen gibt es ebenso wie Dachmaisonettes und einseitig orientierte Einheiten – entweder mit Balkon und Blick nach Süden zur Bergwiese oder nach Norden mit Aussicht ins Sarganserland und auf die Churfirsten. Ge­ schickt gehen die Architekten mit der Raumhöhe um, die sich mit 4,5 Metern schlecht mit Zimmern üblicher Grös­ se verträgt: Schiebetüren binden Räume zusammen, in­ nenliegende Loggien vergrössern sie im Bereich der Aus­ senfassade und relativieren so die Raumhöhe.

Im Gebäude von 1986 ist bereits neues Leben eingekehrt.

Gemeinschaftliche Bereiche können von allen Mietern genutzt werden.

Das Projekt ist auf Kurs Das Projekt ist gut unterwegs. Die für den Wohnungs­ bau nötige Änderung des Zonenplans ist bewilligt, und die Workshops, in denen man die Grundlagen für das Vor­ projekt erarbeitete, konnten im Spätherbst 2016 abge­ schlossen werden. Dieser unübliche Zwischenschritt wur­ de vor allem aufgrund des knappen Baubudgets gewählt: « Workshops sind bei solch komplexen Bauten eine gute Möglichkeit, kostenrelevante Themen disziplinübergrei­ fend zu diskutieren », sagt Urs Simeon, geschäftsführen­ der Partner des Architektur- und Ingenieurbüros Fanzun in Chur. Dieses interdisziplinäre Team gab im Rahmen des Architekturwettbewerbs eine Zweitmeinung zu den Kosten ab und betreut das Projekt ‹ Flumserei › nun als Bauherrenberater. In den Workshops wurden Themen wie Wohnungsmix, Statik und Bauphysik detailliert dis­ kutiert, man suchte nach Lösungen, die den gesteckten Kostenrahmen nicht überschreiten und trotzdem eine erfolgreiche Realisierung des Projekts ermöglichen. Auf Basis dieser Grundlagen erarbeiten Moos Giuliani Herr­ mann derzeit das Vorprojekt, sodass 2017 die Baueingabe erfolgen kann. Anfang 2020 könnten dann die ersten Mie­ ter in die neuen Wohnungen einziehen. Spätestens dann wird das ehemalige Spinnereigebäude seiner dominanten Rolle in Flums wieder gerecht – nicht mehr als markanter Arbeitsort, sondern als das grösste Wohnhaus im Ort und als Zeichen des modernen Flums.

Empfang mit Grossfoto der Fabrikhalle.

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Die Deckenleuchten aus ehemaligen Spinnkannen und die farbigen Spindeltürme der Künstlerin Lea Pianna waren einst Teil des textilen Produktionsprozesses.

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Lebensraum Sarganserland Die Region zwischen Walensee und Rheintal wird fürs Wohnen immer attraktiver. Die Umbauten in den ehemaligen Textilfabriken wollen dieses Potenzial nutzen. Text: Sina Bühler

Der Zug von Zürich Richtung Chur fährt durch den Nebel der Linthebene nach Ziegelbrücke in den Tunnel. Wieder am Licht ist der Himmel über dem Walensee blau. « Das Sarganserland hat nicht mehr als ein, zwei Nebeltage pro Jahr », weiss Erich Zoller, Gemeindepräsident von Quarten. Dank der präzisen Wettervorhersagen wisse das auch der Rest der Schweiz. Zum Glück – denn die Region lebt auch vom Tourismus. Zoller kennt die Wetterphänomene genau. Seit den späten 1990er-Jahren ist er – inzwischen im vierten Ort der Region – Gemeindepräsident. Auf die Frage, wie er die Zukunft der Region sehe, hat er sich minutiös vorbereitet. Die Antwort mit dem Nebel war nur ein lockerer Einstieg. Er zählt die Vorteile auf: « Eine Zunahme der Bevölkerung, tiefe Arbeitslosigkeit. Dazu kommen die gute Verkehrsanbindung, die Lebensqualität, das Kulturleben. Hier stimmen schon die nackten Zahlen, die für das Gedeihen einer Region wichtig sind. » Tatsächlich hat das Sarganserland fast die grösste Bevölkerungszuwachsrate aller Regionen des Kantons St. Gallen. 1990 lebten hier noch weniger als 30 000 Menschen, heute sind es fast 40 000. Die regionalen Entwicklungsszenarien rechnen für das Jahr 2045 mit 45 000 bis 51 000 Menschen. Nur im Rheintal wächst die Bevölkerung noch schneller. « Ob es tatsächlich einen so hohen Zuwachs geben wird, hängt aber direkt von der wirtschaftlichen Entwicklung in Zürich und im Fürstentum Liechtenstein ab », sagt der St. Galler Kantonsplaner Ueli Strauss. Für Beschäftigte im Zürcher Dienstleistungssektor oder im Liechtensteiner Bankensektor sei die Wohnlage attraktiv. « Damit hat ein Projekt wie jenes in der ehemaligen Spinnerei Mels auch gute Chancen. » Ueli Strauss macht noch eine weitere Gruppe von potenziellen neuen Bewohnern aus: Pensionäre. Viele wollten inzwischen nicht mehr in den zu gross gewordenen Einfamilienhäusern leben. « Wenn altersgerechte Wohnungen mit einem gewissen

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Mass an Komfort gebaut werden, können sie schnell vermietet oder verkauft werden. » Wichtig sei aber auch eine gute Erschliessung mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Zumindest die Anbindung der Region an die Zentren ist bereits hervorragend. Der Zug braucht von Sargans nach Zürich weniger als eine Stunde. In Sargans teilt sich die Autobahn von Chur her Richtung Zürich und Richtung Bodensee und damit nach Österreich und Deutschland. Diese gute Verkehrserschliessung macht die Region als Wohnort beliebt, was sich am Anteil der pendelnden Beschäftigten zeigt. 25 Prozent der Erwerbstätigen, die in Mels wohnen, arbeiten auswärts. In Quarten sind es 42, in Vilters-Wangs 44 Prozent. In anderen Orten der Region, in Flums, Bad Ragaz und Sargans, gibt es noch für fast alle Erwerbstätigen Arbeitsplätze in der eigenen Gemeinde. Die beliebte Wohnregion wirkt sich inzwischen auch auf die Wohnungspreise aus, wie eine Studie der ETH Zürich und des Vergleichsportals Comparis zeigt: Die Mietpreise in der Region stiegen in den letzten zehn Jahren um 58 Prozent. Absolut gesehen liegen sie aber immer noch auf tiefem Niveau. Immer mehr Arbeitsplätze Inzwischen versuchen die Gemeinden auch, ihre Gewerbebrachen zu entwickeln – beispielsweise das Tief­riet in Sargans. Denn auch als Unternehmensstandort wächst die Region. Lange galt das Sarganserland als strukturschwach. Es dominierten Landwirtschaft und der Abbau von Eisenerz, Kalkstein und Schiefer. Von den rund 19 000 Beschäftigten in der Region arbeiten heute nur noch 15 im Bergbau und knapp 1200 in der Landwirtschaft. Insgesamt ist die Zahl der Arbeitstätigen stark gestiegen, verweist Peter Kuratli, Leiter des kantonalen Amts für Wirtschaft und Arbeit, auf die Statistik: « In den letzten zwanzig Jahren um über 25 Prozent. Rund drei Viertel davon sind in kleinen und mittleren Unternehmen beschäftigt. », siehe ‹ Arbeitsplätze in der Region ›, Seite 29. Auch die Rahmenbedingungen haben sich positiv entwickelt: Die Arbeitslosenzahlen sind in den letzten Jahren stabil →

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Dampf aus der Flumroc-Produktion zieht über Flums Richtung Walensee.

Pferde galoppieren am Fuss der ‹ Flumserei ›. Themenheft von Hochparterre, April 2017 —  Fabrikerbe mit Zukunft — Lebensraum Sarganserland

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Der Blick aus der Weberei ‹ Uptown Mels › schweift Richtung Schloss Sargans.

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Landquart

Vaduz Chur

Mels Sargans Buchs

Walenstadt Wildhaus Flums

Weesen

Glarus

Rapperswil-Jona

→ geblieben. Eine Imageverbesserung habe durchaus stattgefunden. « In vielen Bereichen liegt die Region sogar in den Spitzenrängen. Sie ist beispielsweise Standort innovativster, für neue Technologien hochaffiner Produktionsbetriebe », sagt Kuratli. Diese Entwicklung ist nicht zuletzt dem Bildungsstandort Sarganserland zu verdanken. In der Region gibt es drei technische Hochschulen – in Buchs, Chur und Rapperswil-Jona. Sargans verfügt über eine Mittelschule und ist Standort der Höheren Fachschule Südostschweiz. Hier werden Bauberufe gelernt. Im nahen Werdenberg liegt das Forschungs- und Innovationszen­trum RhySearch. Dringend benötigte Fachkräfte werden direkt in der Region ausgebildet, was die Attraktivität für die Ansiedlung neuer Unternehmen erhöht.

Computerchips aus dem Bergwerksstollen Ein Beispiel für eine junge Hightechfirma ist Espros Photonics in Sargans. Das Unternehmen wurde 2006 gegründet und produziert winzige, lichtempfindliche Computerchips. Die Standortwahl hat viel mit der Wirtschaftsgeschichte des Sarganserlandes zu tun: Erste Teile der Produktionsstätte ‹ Mountain Fab › stehen im ehemaligen Bergwerk Gonzen, das man seit 1983 auch besichtigen kann. Als baulicher Zeuge steht das einstige Bergwerksgebäude an der Hauptstrasse und harrt einer neuen Nutzung. Für die Chip-Produktion ist der Stollen ideal, denn darin gibt es kaum Erschütterungen. Die Ankündigung der weltweit ersten Computerchip-Fabrik in einem Berg sorgte vor acht Jahren für Aufsehen. Inzwischen ist ein grosser, noch ungenutzter Raum im Rohbau fertig. Die Firma produziert auch in einem vor dem Stolleneingang stehenden Gebäude. « Und das sehr erfolgreich », wie Markus Probst, Präsident des Arbeitgeberverbands Sarganserland-Werdenberg sagt. Er leitet mit Micropool ebenfalls ein Hightechunternehmen. Laut Probst hat sich die wirtschaftliche Situation für seine Branche « nach zwei ganz üblen Jahren » langsam wieder erholt. Das Resultat der Mitgliederumfrage von Ende 2016 zeige inzwischen einen leichten Aufwärtstrend. « Im Bau- und Baunebengewerbe und bei Immobilien läuft es in der Region gut. Dem Detailhandel aber geht es weiterhin katastrophal, und in der Industrie las- Flums und Mels liegen acht Kilometer voneinander entfernt im Sarganserland, sen sich die Ergebnisse nicht verallgemeinern. Die einen der Region zwischen Walensee und Rheintal. haben volle Auftragsbücher, die anderen kämpfen immer noch », weiss Markus Probst. Heidi soll es richten Auch der Tourismus kämpft. Die Übernachtungszahlen sanken im ganzen Kanton St. Gallen, im Sarganserland aber besonders stark, und sie lagen zuletzt so tief wie seit 25 Jahren nicht mehr. Das ‹  Resort Walensee  ›, das von der holländischen Landal Greenparks Gruppe gebaute Ferien­ dorf in Unterterzen, wurde 2009 eröffnet und ist beinahe an Finanzproblemen gescheitert, hätten nicht Private einen Teil der Wohnungen auf dem Areal gekauft. Inzwischen streiten sich allerdings die verschiedenen Stockwerkeigentümer. Das Restaurant ist geschlossen, und auf dem Gelände sind kaum Feriengäste anzutreffen. Der Kanton St. Gallen setzt nun aber auf ein neues Tourismusentwicklungskonzept. In den Flumserbergen sollen hundert Millionen Franken in eine Heidi-Erlebniswelt investiert werden, die ganzjährig 200 000 Touristen anlocken soll. Implenia will ein Hotel und eine Parkgarage entwickeln und Coop die Vermarktung unterstützen. Heidi gehört eben nicht mehr allein der Alp oberhalb von Maienfeld in der Bündner Nachbarschaft, seit der frühere Kurdirektor von Bad Ragaz in den 1990er-Jahren den Markennamen ‹ Heidiland › für die angrenzende St. Galler Nachbarschaft sichern konnte.

Arbeitsplätze in der Region Die Zahl der Beschäftigten in der Region Sarganserland ist von 2011 bis 2014 von 18 759 auf 19 155 an­ gestiegen, was 14 766 Vollzeitstellen entspricht. Zwei Drittel der Beschäftigten ( in Vollzeitstellen umgerechnet ) arbeiten im Dienstleistungssektor ( 9516 ). Davon 1601 im Ge-

sundheitswesen, 1423 im Gastgewerbe und 1188 im Detailhandel. In der Industrie und im verarbeitenden Gewerbe gibt es 4471 Vollzeitstellen. Diese verteilen sich auf das Baugewerbe ( 1441 ) und auf eine breite Palette von Branchen, darunter Metall- und Maschinenbau, Nahrungs- und Futtermittel ( 2839 ). Quelle: BFS

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Karbid, Steinwolle und Flumroc Wer mit Bauen zu tun hat, kennt Flumroc. Auch die Ursprünge dieser Firma liegen bei Spoerrys Textilfabrik. Aber zuvor gab es einen Umweg über das Karbid. Text: Werner Huber, Fotos: Archiv Innobas, Flums

An der Bahnlinie, vor den imposanten Churfirsten, steht die Karbidfabrik. Während des Zweiten Weltkriegs verhüttete sie Eisen.

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Die Wasserkraft des Schilsbachs, die sich Heinrich und Johannes Spörri 1860 im Vertrag mit der Gemeinde gesichert hatten, lieferte viel mehr Energie, als die Textilfabrik – zunächst mechanisch, später elektrisch – benötigte. Also eröffnete die nächste Generation, die Söhne Peter und Heinrich, die sich nun Spoerry mit oe und Ypsilon nannten, ein neues Geschäftsfeld. 1900 bauten sie neben dem Bahnhof Flums die Firma P. & H. Spoerry, Carbidwerk. Erst seit knapp zehn Jahren war die wirtschaftliche, aber sehr energieaufwendige Produktion von Kalziumkarbid möglich, doch die Karbidlampen an Fahrzeugen und in den Bergwerken hatten bereits den Siegeszug angetreten. Ihr grosser Vorteil: Die Lampen hatten eine hohe Lichtausbeute, und sie waren ortsunabhängig. Die Funktionsweise ist einfach: Aus einem oberen Behälter tropft Wasser in den unteren. Dieser ist mit Kalziumkarbid gefüllt. Dabei entsteht das Gas Acetylen, das an einem Brenner entzündet und mit einem Hohlspiegel zu einer lichtstarken Lampe wird. Karbid nutzte man ausserdem beim Schweis­sen oder zur Herstellung von Kunstdünger. 1901 nahm die Karbidfabrik 18 Elektroöfen in Betrieb. Während des Zweiten Weltkriegs mussten die Spoer­ rys das Schmelz­werk für die Kalziumkarbidproduktion einstellen und auf Anordnung des Bundes Eisenerz aus dem nahe gelegenen Gonzen verhütten. Als nach dem Krieg der elektrische Strom und leistungsfähigere Batterien die Karbidlampen verdrängten, erschloss die Familie 1950 abermals ein neues Geschäftsfeld: Steinwolle. « Die auf allen Gebieten ersichtliche Tendenz zur Spezialisierung zeigt sich im Bauwesen darin, dass neben Baustoffen, die die Funktion des Isolierens in sich vereinigen wie zum Beispiel der Backstein, Materialien geschaffen werden, die nur tragen oder nur isolieren, in dieser Eigenschaft aber das Maximum geben. Seit zwei Jahren wird nun eine Isolierwolle auf den Markt gebracht, deren Ausgangsstoff Sernefit, Kalkstein und Dolomit ist », schrieb die Technik-Beilage der ‹ Neuen Zürcher Zeitung › 1952 über das neue Produkt, bevor sie den Herstellungsprozess erläuterte: « Für den Laien ist dies eine überraschende Tatsache, die durch die Einfachheit des Vorgangs verblüfft. Das besonders gemischte Rohgestein schmilzt im Lichtbogen des Elektroofens bei 1500 Grad Celsius und fliesst als weiss glühende Lava aus dem Ofenmund. Eine Düse bläst von der Seite erhitzte Luft unter hohem Druck in diesen Glutfluss, der als Feuerbündel zu Fasern zerstiebt, deren Die Karbidproduktion war energieaufwendig. Feinheit einem Zehntel des Haares entspricht. » Zunächst wurde die Steinwolle in Säcken geliefert und vor allem zur Isolation von Balkendecken verwendet. Brachte man hier anstelle der üblichen Schlacke die neuartige Steinwolle ein, konnte das Gebälk dank dem geringen Gewicht um ein Viertel knapper dimensioniert werden. 1969 unterzeichnete das Schmelzwerk Spoerry ein Lizenzabkommen mit dem dänischen Rockwool-Konzern, und aus der Flumser Steinwolle wurde die Flumroc. Die Karbidproduktion wurde eingestellt. Längst wird die Steinwolle nicht mehr in Säcke abgefüllt, sondern zu Platten und Matten für den Wärme-, den Schall- und den Brandschutz gepresst. Für die Herstellung verwendet das Unternehmen – der einzige Steinwolle­ hersteller der Schweiz – fast ausschliesslich Gestein aus dem Kanton Graubünden und recycelte Steinwolle. Pro Jahr produziert die Flumroc rund 50 000 Tonnen Steinwolle. Der grösste Teil davon wird für die Erstellung oder die Erneuerung energieeffizienter Gebäude, vor allem für Dächer und Fassaden, eingesetzt. Ein Beispiel dafür ist das Flumroc-Bürogebäude, das 2014 als eines der ersten Plus­energiehäuser umfassend erneuert wurde. Flumroc In den 1950er-Jahren begann die Familie Spoerry, Steinwolle zu produzieren. Zunächst wurde das Material in Säcken vertrieben. ist heute mit rund 240 Arbeitsplätzen eine der grossen Arbeitgeberinnen im Sarganserland.

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Fabrikerbe mit Zukunft Die Fabrik ist das grösste Gebäude im Dorf, sie thront über engen Gassen und kleinen Häusern. Textilmaschinen gibt es in den Fabriksälen keine mehr. Hier soll in Zukunft gewohnt werden. Die Fabrik, die hier beschrieben ist, gibt es gleich zweimal: in den benachbarten Dörfern Mels und Flums. Beide haben vieles gemeinsam, dieses Heft stellt sie vor. Im Zentrum stehen die Projekte für den Umbau der Fabrikhallen in Wohnungen, die die Bezeichnung Loft wirklich verdienen. Weitere Beiträge werfen einen Blick in die Geschichte der Fabriken, stellen die Standortgemeinden vor und beleuchten das wirtschaftliche Umfeld im Sarganserland. www.uptownmels.ch und www.flumserei.ch

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