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DEUTSCHLAND WEITERHIN DRITTSTÄRKSTE EUROPÄISCHE NATION IM

WM-RANKING ALLER LÄNDER

Die Weltmeisterschaft in Baku/Aserbaidschan vom 29. Mai bis 4. Juni verlief aus deutscher Sicht ernüchternd. Nach zehn medaillensicheren Weltmeisterschaften (in denen insgesamt 15 Medaillen, unter anderem zwei goldene gewonnen wurden) ist es dem deutschen Team nun in Baku nicht gelungen, in die Medaillenentscheidungen einzugreifen. 22 Jahre hielt die Serie. Nun entsteht ein erster Riss. Ein natürlicher Prozess im Laufe einer Karriereleiter eines Sportverbandes? Wir sprachen mit Offiziellen und Trainern und haben um Antworten gebeten.

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In 50 Jahren Weltverbands-Geschichte hat sich einiges getan. Nicht nur die enorme elektronische WestenEntwicklung, die im Zweikampfbereich in den Jahren um 2008 entstanden ist, sondern auch die professionelle Vermarktung und Präsentation unserer Sportart auf Weltebene setzt 50 Jahre nach der Gründung neue Maßstäbe in olympischen Kampfsportarten. Hat man bei der Weltmeisterschaft in Mexiko 2022 noch gedacht, dass diese WM in Sachen Venue-Dressing nicht zu toppen ist, wurde in der 25.000 Zuschauer fassenden Crystal Hall in Baku erneut eins draufgelegt. Euphorisch anfeuernde Fans, hochklassige Lichteffekte, perfektes Zeitmanagement und ein stilvolles Hallendressing machten auch diese WM im Jubiläums-Jahr zu etwas Besonderem.

Ebenso hat die Teilnehmerzahl bei Weltmeisterschaften in den vergangenen fünf Jahrzehnten eine rasante Entwicklung genommen. Nahmen bei der ersten WM im Jahr 1973 in Korea 39 Teilnehmer aus 14 Nationen teil, waren es in Baku 949 Starter aus 144 Nationen plus einem Flüchtlingsteam. Eine neue Rekordzahl.

Trauriger Unterschied zwischen der WM 1973 und 2023 ist, dass Deutschland in diesem Jahr ohne eine Weltmeisterschaftsmedaille die Heimreise antreten musste. 1973 war Deutschland mit Silber und Bronze heimgekehrt.

22 Jahre lang konnte Deutschland kontinuierlich bei Weltmeisterschaften Medaillen gewinnen. Nach einer medaillenlosen WM 2001 in Jeju kam das Team 2003 bei der Heim-WM in Garmisch-Partenkirchen mit drei Medaillen zurück in die Erfolgspur. Dieses Ergebnis toppte in den vergangenen 20 Jahren einzig die WM 2013 in Mexiko, wo Tahir Gülec sensationell Gold gewann und Anna-Lena Frömming und Rabia Gülec mit zwei Bronzemedaillen für eines der besten WM-Ergebnisse in der DTU-Geschichte sorgten. Bei den vergangenen vier Weltmeisterschaften kehrte unser Team jeweils mit einer, 2017 sogar mit einer goldenen Medaille zurück von einer Weltmeisterschaft. Im ewigen Medaillenranking liegt Deutschland mit 53 gewonnenen Medaillen aktuell auf Platz 8 (hinter Spanien und der Türkei als dritte europäische Nation).

Woran hat es gelegen, dass unser Team in Baku der enormen Entwicklung auf der Fläche nicht standhalten konnte und die erhoffte Medaille verpasste, während andere europäische Nationen Sieg um Sieg feierten?

Wir haben dazu mit dem Vize-Präsident Zweikampf, Jannis Dakos, dem Sportdirektor Georg Streif und den beiden Bundestrainern Marco Scheiterbauer und Balazs Toth gesprochen.

Jannis Dakos: Mit dem Ergebnis dieser WM können wir nicht zufrieden sein. Nüchtern betrachtet reflek- tiert aber unser Abschneiden unsere aktuelle Stellung im internationalen Weltvergleich, auch wenn einige unserer Leistungsträger durchaus in der Lage sind, Großes zu erreichen. Daran glaube ich. Ich habe das Team acht Tage vor Ort in Baku begleitet und mir ein umfassendes Bild über Stärken und Schwächen gemacht.

Gleichzeitig hat die Globalisierung unserer Sportart die Konkurrenzsituation neu definiert. Unzählige Sportlerinnen und Sportler sowie Trainerinnen und Trainer betreiben Taekwondo hauptberuflich, Ausnahmetalente aus jedem Winkel des Globus stürmen die Kampfflächen und machen die Szene unsicher. Knapp 1.000 Aktive aus 145 teilnehmenden Mannschaften/Nationen partizipierten in Baku. Das sind nie dagewesene Rekordzahlen, da müssen wir viel anpassen und verbessern, um den Anschluss zu halten.

DTU: Wie lautet deine persönliche WM-Bilanz?

Jannis Dakos: Meine persönliche Sicht umfasst naturgemäß mehr Bereiche als nur die Leistung der Sportlerinnen und Sportler und Trainer bei einem Event.

Eine ausführliche Bilanzanalyse für unseren Verband muss gewissenhaft viele Wirkungsebenen akribisch durchleuchten. Diese sind zum Beispiel die WM-Vorbereitung an sich, die Organisation der Maßnahme, die Betreuungssituation der Nationalmannschaft vor Ort und die individuelle Leistungsstärke der Athletinnen und Athleten auch in Bezug auf die internationale Konkurrenz im Jahr 2023. Ebenso müssen strukturelle, personelle und sportpolitische Entscheidungen systematisch überprüft und sachlich hinterfragt werden. Wenn man mich fragen würde, ob wir in Deutschland aktuell das Beste aus unseren Möglichkeiten machen, so würde ich dies entschieden verneinen. Wenn wir andere bzw. bessere Ergebnisse haben wollen, müssen wir die Probleme beim Namen nennen und kollektiv handeln.

DTU: Könntest du trotzdem Positives und/oder Negatives aus dieser WM aus deiner persönlichen Sicht kurz zusammenfassen?

Jannis Dakos: Die WM-Vorbereitung kann ich als hervorragend bezeichnen. Alles wurde detailliert durchgeplant und die besten Trainingslager mit TopNationen absolviert, um alles aus den Sportlerinnen und Sportlern nach den Wünschen und Vorstellungen der Trainer herauszuholen.

Ebenso waren die Organisation und die allumfassende individuelle Betreuung vor Ort lückenlos. Das Leistungslevel einiger Sportlerinnen und Sportler hat sich in den letzten Monaten auch sichtlich verbessert. Ich habe beim Training des Teams bei einigen ein sehr hohes Niveau beobachtet.

Man darf nicht vergessen, die große Mehrheit der Athletinnen und Athleten, die vor einigen Monaten eine WM-Medaille in Mexico gewinnen konnten, blieb diesmal medaillenlos und nur eine einzige Sportlerin konnte ihren Weltmeistertitel verteidigen. So hoch ist die Leistungsdichte aktuell und genau da wollen wir auch mitmischen. Wir haben in den letzten Monaten durch unsere Grand Prix-Medaillen gezeigt, dass dies möglich ist.

Die nächste Möglichkeit dies zu demonstrieren, werden die European Games in Polen sein, die in den kommenden Wochen stattfinden. Ich bleibe da positiv und hoffe auf gute Leistungen unserer Leistungsträgerinnen und -träger, die sich ebenfalls einiges selbst beweisen und die Gelegenheit für sich sicher nutzen wollen.

Seit 18 Monaten arbeitet das Bundestrainer Team Balazs Toth und Marco Scheiterbauer mit ihrem Team an dem Erfolg des deutschen DTU-ZweikampfBereiches. Einige historische Erfolge konnten in dieser kurzen Zeit gefeiert werden. EM-, WM- und Grand Prix-Medaillen wurden allesamt im vergangenen Jahr gewonnen. Auch nach dieser Weltmeisterschaft geht der Blick weiter nach vorne, obwohl jedem bewusst ist, dass die Zeit bis zu den Olympischen Spielen rennt.

Wie bewerten beide das Abschneiden in Baku und die Lücken zur Konkurrenz? Dafür standen beide unmittelbar nach der WM für ein Interview zur Verfügung.

DTU: Welche positiven Momente hast du in Baku mit deinen Sportlerinnen und Sportlern erlebt?

Marco Scheiterbauer: Die sehr jungen Athleten konnten im internationalen Teilnehmerfeld mit guten Leistungen überzeugen. Als Team sind wir zusammengewachsen und haben schwierige Situationen und Drucksituationen gemeinsam durchlebt. Das können wir positiv für die Zukunft nutzen. Als Trainerteam haben wir die Athleten sehr motiviert wahrgenommen. Nun in der Aufarbeitung sehe ich eine sehr umfangreiche und detaillierte sowie selbstkritische Reflexion, um den Prozess der Verbesserung voranzutreiben.

Balazs Toth: Ich habe nicht so viele gute Erinnerungen an Baku. Diese Weltmeisterschaft lief überhaupt nicht so, wie wir sie uns vorgestellt hatten, obwohl wir in der Vorbereitung so viel getan haben. Die Wettkämpfe vor der WM liefen gut und auch die Trainingscamps mit den starken Damen-Teams aus Frankreich und Kroatien waren sehr gut. Leider lief es in Baku überhaupt nicht nach unseren Vorstellungen.

DTU: Was sind Baustellen, wo die Konkurrenz uns einen Schritt voraus war?

Marco Scheiterbauer: Unsere Konkurrenten sind (Medaillengewinner) alle in „Vollzeitprogrammen“ untergebracht und trainieren seit langem an Lei- stungszentren. Wir haben unsere Athleten seit etwa 18 Monaten gemeinsam mit dem hauptamtlichen Personal an den Bundesstützpunkten konzentriert. Da sind uns andere Nationen noch etwas voraus. Das können wir in so einer kurzen Zeit nicht aufholen und das braucht etwas Zeit.

Ich beobachte, dass in den unteren Altersklassen die Umfänge und Intensitäten vom Training in anderen Ländern generell sehr viel höher sind als bei uns. Ebenso ist die Betreuungssituation eines einzigen Athleten in manchen Spitzensportsystemen mit einer Quote von 1 zu 7 (ein Athlet, sieben hauptamtliche Spezialisten) deutlich umfangreicher abgedeckt.

Balazs Toth: Aus meiner Sicht war es sehr deutlich, dass die junge Generation in anderen Nationen bereits ihre Flügel ausstreckt. Viele Länder arbeiten bereits mit sehr jungen Athleten. Im Alter von 17 oder 18 Jahren erkämpfen sie bereits Podiumsplätze oder gewinnen sogar eine Goldmedaille. Man erkennt bei ihnen eine andere Mentalität. Diese Athleten sind frisch und energiegeladen, haben keinerlei Verletzungen und sind hungrig auf den Erfolg.

DTU: Europa festigt in der Welt als stärkster Kontinent seine Position. Deutschland hält bedingt mit: Was muss sich verbessern, damit wir in Paris dabei sind und mit Selbstbewusstsein auf der Fläche stehen?

Marco Scheiterbauer: Unserer Herrenmannschaft befindet sich im „Umbruch“. Wir arbeiten daran, uns weiterzuentwickeln, um die jungen Talente in der Weltrangliste und der Olympischen Rangliste weiter nach oben zu bringen. Das werden wir mit regelmäßigen Lehrgangsmaßnahmen, internationalen Trainingslagern und Turnierteilnahmen verwirklichen. Durch ein gutes Ranking und gute Ergebnisse bei den Turnieren werden sie weiter an Selbstbewusstsein gewinnen und ihre Persönlichkeit stärken. Außerdem werden wir das Team in den noch nicht besetzten Gewichtsklassen mit konkurrenzfähigen Charakteren erweitern.

Balazs Toth: Es bleibt nicht mehr viel Zeit bis zu den Olympischen Spielen in Paris. Davor wartet noch ein sehr straffes Programm mit vielen Wettkämpfen auf uns. Wir müssen ausloten, wo eine Direktqualifikation noch möglich ist und welche Gewichtsklassen sich auf das kontinentale Qualifikationsturnier konzentrieren. In Bezug auf die Direktqualifikation ist das Grand PrixFinale im Dezember das letzte entscheidende Turnier, wo noch einmal viele Punkte vergeben werden können. Aus meiner Sicht muss das Team langsam verstehen, dass es keine gebuchten Plätze gibt. Eine kleine Unaufmerksamkeit, ein wenig Undiszipliniertheit oder kleine Fehler können den ganzen Kampf zunichtemachen. Das Damen-Team muss aufstehen und sich mental weiterentwickeln, wenn es weiterhin kontinuierliche und stabile Resultate auf diesem hohen Niveau erbringen will.

DTU: Was möchtest du deinen Kritikern gerne mitteilen?

Marco Scheiterbauer: Konstruktive und berechtigte Kritik ist angebracht, wenn wir das Ergebnis nüchtern betrachten. Ich gebe jedem Kritiker jedoch mit auf dem Weg, dass er sich die Situation im internationalen Teilnehmerfeld genau ansehen sollte, bevor er vorschnell urteilt. Taekwondo ist eine olympische Sportart, die sich rasant und stetig weiterentwickelt. Nur Ausnahmeathleten mit besonderen Fähigkeiten können Podiumsplätze erreichen.

Diese WM in Baku war eine WM mit einer neuen Rekordteilnehmerzahl. Es war die zweite WM innerhalb von sechs Monaten. Kein Weltmeister von 2022 konnte seinen Titel verteidigen und nur 13 Prozent (vier Athleten) konnten 2022 und 2023 eine Medaille gewinnen.

Unsere Athleten und Trainer erbringen ein sehr hohes Invest an Zeit und Engagement in die Vorbereitung. Nach Beendigung der European Games waren Trainer und Athleten zwischen 80 und 107 Tagen bei Turnieren oder Maßnahmen weltweit im Einsatz. Speziell auf diese WM hatten wir, aus meiner Sicht, eine sehr gute Vorbereitung mit vielen positiven Effekten. Die interna- tionalen Trainingslager in Vorbereitung auf die WM waren intensiv und hart, mit sehr guten Trainingsbedingungen und Trainingspartnern. Wir konnten gerade für die unteren Gewichtsklassen ein gutes Gewichtsmanagement gemeinsam mit unseren Ernährungsberater gestalten, sodass unsere Athleten ihr Gewicht erreichten und leistungsfähig waren. Die abschließende Leistungsdiagnostik kurz vor der WM zeigte bessere konditionelle Werte als zu Beginn der Saison. Im Bereich der Gegneranalyse (Video) sind wir in Vorbereitung auf die jeweiligen Gegner ebenfalls zu den richtigen taktischen und strategischen Erkenntnissen gekommen, die es uns möglich gemacht haben, zeitweise richtige taktische/strategische Entscheidungen zu treffen. Das letzte Vorbereitungsturnier war ebenfalls sehr erkenntnisreich, da wir hier noch einmal die taktischen Fähigkeiten und die Routinen für die WM testen konnten. In der umfangreichen Vorbereitung konnten wir die Zusammenarbeit mit den Heimtrainern der Athleten, die nicht am Bundesstützpunkt in Nürnberg trainieren, intensivieren.

Balazs Toth: Den Kritikern würde ich gerne sagen, dass dies erst unsere zweite Weltmeisterschaft ist, seit wir die Zusammenarbeit begonnen haben. Nach neun Jahren ohne eine Medaille, konnten wir im vergangenen Jahr bereits eine WM-Medaille erkämpfen. In diesem Jahr hat es nicht geklappt und wir sind ohne Medaille ein Jahr vor den Olympischen Spielen nach Hause gefahren. Also ist unsere Balance aktuell 50/50.

Sportdirektor Georg Streif, der ebenfalls ins Baku vor Ort war, resümiert die Weltmeisterschaft mit diesen Worten:

„Ein Viertel, drei Achtel-, zwei Sechzehntel- und fünf Zweiunddreißigstel-Final-Platzierungen mit sieben gewonnenen Kämpfen ist eindeutig zu wenig für unseren umfangreichen Einsatz und zeigt momentan eindeutig fehlende Konkurrenzfähigkeit auf Weltebene. Es fehlt im richtigen Moment die notwendige Steigerungsfähigkeit.

Nach einer sehr umfangreichen Vorbereitung, dem Einbringen von individuellen Möglichkeiten und umfangreichen Turniereinsätzen im Vorfeld, war die Hoffnung groß. Leider wurde die nicht bestätigt und es ist ein ernüchterndes Ergebnis.

Nun müssen die Details von den Spartenbundestrainern Balazs (Damen) und Marco (Herren), zusammen mit ihrem Staff und dem Leistungsausschuss, analysiert werden. Danach muss schnell und vernünftig die Umsetzung der Verbesserungsvorgaben erfolgen. Ziel war es, die Weltmeisterschaft bestmöglich zu absolvieren und dann den Juni mit dem folgenden Grand Prix und den European Games gut und ohne Verletzung durchzustehen. Das erste Turnier war nun nicht wie erhofft. Jetzt darf trotzdem der Kopf nicht in den Sand gesteckt werden und das wichtigste Ziel muss im Fokus bleiben."

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