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Präsentismus ist kein gesundheitsförder- liches Phänomen“
Auch für Mediziner:innen gelten arbeitsrechtliche und -medizinische Grundlagen
Dr.in Irene Kloimüller, ausgebildete Medizinerin, Health-Care-Managerin sowie Psychotherapeutin für Existenzanalyse (wertarbeit.at) und Arbeitsfähigkeitsexpertin (waiplus.online), im Gespräch.
HAUSÄRZT:IN: Gibt es Untersuchungen dazu, welchen physischen und psychischen Belastungen Mediziner:innen in Österreich – in Spitälern und im niedergelassenen Bereich – ausgesetzt sind?
Dr.in KLOIMÜLLER: Im Arbeitnehmerschutzgesetz ist geregelt, dass Belastungen, die Fehlbelastungen nach sich ziehen, evaluiert werden müssen. Viele Krankenhausorganisationen bzw. ihre Träger führen gerade jetzt auf Grund der Pandemie-Situation Untersuchungen und/oder Befragungen durch. Psychische Belastungen, die Fehlbelastungen und auch Burnout hervorrufen können, dürften generell in der Ärzteschaft, sei es im intra- oder extramuralen Bereich, im Ansteigen begriffen sein: Eine groß angelegte Online-Befragung in den USA von Juni bis September 2021 – „Physician Burnout & Depression Report 2022: Stress, Anxiety, and Anger“1 – von über 13.000 Ärztinnen und Ärzten/medscape-Mitgliedern zeigt hohe Burnout-Raten: Die Selbsteinschätzung liegt im Schnitt bei 47 Prozent, bei Intensivmedizinern darüber. Die Studie („systematic review“) „Burnout und Abhängigkeit bei ärztlichem Personal zeitlos und während der COVID-19-Pandemie am Beispiel der Chirurgie und Anästhesie“2 ergab ebenfalls eine hohe Prävalenz von Burnout. Und auch eine Umfrage der österreichischen Ärztekammer unter allen Wiener Spitalsärztinnen und -ärzten3 im Jahr 2021 dokumentierte ausgeprägte Erschöpfungszeichen. Rund ein Siebtel der Befragten gab an, nahe dem Burnout zu sein.
Warum fällt es Mediziner:innen besonders schwer, die eigenen physischen und psychischen Grenzen anzuerkennen?
Schon seit einigen Jahren ist bekannt – und gut untersucht –, dass Ärztinnen und Ärzte häufig auch dann arbeiten, wenn sie krank sind oder sich krank fühlen, was unter dem Begriff Präsentismus zusammengefasst werden kann. Als Hauptgrund wird „Patient:innen und Kolleg:innen nicht im Stich lassen wollen“ genannt, besonders bei Personalmangel dürfte das ein häufiger Grund sein. Jedenfalls ist Präsentismus kein gesundheitsförderliches Phänomen und kann – im Gegenteil – später zu längeren Ausfällen, auch Burnout, führen. Durch die ausgeprägte Identifikation mit dem Beruf neigen Ärztinnen und Ärzte dazu, mehr Belastungen auszuhalten, als dauerhaft gesund ist. Der Prozess, dass eine Herausforderung als Fehlbelastung wirkt und Krankheitsfolgen – seien sie physischer oder psychischer Natur – nach sich zieht, erstreckt sich oft über einen längeren Zeitraum. Wann genau die „gesunde Schwelle“ überschritten wird, bleibt häufig unbemerkt. Zeitdruck und hoher Erwartungsdruck erschweren ein genaues Hinschauen und „Hinspüren“ , gesundheitliche Probleme werden oft bagatellisiert und auch selbst therapiert – und dies meist nicht fachgerecht ... Die hohen Anforderungen haben auch zum Second-Victim-Phänomen geführt und die Ärzteschaft teils traumatisiert bzw. Burnout-Prozesse angefacht.
Besteht wegen des hohen Anspruchs an die Ärztin/den Arzt tatsächlich eine Verpflichtung zur Selbstaufopferung?
Natürlich nicht, im Sinne der Selbstfürsorge und der Verantwortung gegenüber sich und den Patientinnen und Patienten ist auf die eigene Gesundheit zu achten. Selbstaufgabe und Selbstaufopferung haben negative psychische Folgen für Betroffene und sicher auch für Patienten.
Welche Bedeutung kommt Medikamenten- und Suchtmittelmissbrauch zu, um sich fit zu halten?
So wie in anderen Berufsgruppen mit hohem psychischem Stress und hohen Burnoutraten ist Alkohol das dominante Suchtmittel, z. B. um sich zu entspannen. Da der Zugang zu Medikamenten für Ärztinnen und Ärzte natürlich leichter ist als für andere Berufsgruppen, liegt auch der Griff zum beruhigenden oder aufputschenden Medikament nahe.
Was empfiehlt sich zu tun, um die Arbeitsfähigkeit zu erhalten?
Ich denke, das beginnt in der Ausbildung, wo die Selbstfürsorge, die eigene Gesundheit, der Umgang mit Stress, Resilienz etc. noch stärker thematisiert werden müssen. Eine Enttabuisierung von psychischen Problemen und Erkrankungen muss definitiv in der Ärzteschaft noch viel intensiver erfolgen, damit sich auch Ärztinnen und Ärzte frühzeitig Hilfe und Unterstützung holen. Hoher Verantwortungsdruck, eine große Anzahl von Patientinnen und Patienten pro Tag v. a. in Praxen, in der Ordination auf sich allein gestellt zu sein, finanzieller Druck – all das sind Rahmenfaktoren, die das Stressniveau erhöhen. Einige meiner ärztlichen Freundinnen und Freunde meinen, dass sie deswegen lieber in Gemeinschaftspraxen oder im Krankenhaus arbeiten, weil die Zusammenarbeit und der soziale Austausch für sie ganz wesentliche positive und gesundheitsförderliche Faktoren sind.
Das Interview führte Mag.a Karin Martin.
1 Sundararaman L et al., Physician Burnout: A Pandemic
Uncovered by a Pandemic! doi.org/10.1097/01.ASM.0000806016.89323.c0 2 Rozani S et al., Burnout und Abhängigkeit bei ärztlichem
Personal zeitlos und während der COVID-19-Pandemie am Beispiel der Chirurgie und Anästhesie, doi.org/10.1007/s00104-022-01675-y 3 Umfrage der Kurie angestellte Ärzte der ÄK Wien in
Kooperation mit Pitters Trendexpert, April 2021.