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Mutmacherinnen
Karriere im Gesundheitsministerium, an der Universität, in der Hausarztpraxis und Standespolitik: drei Medizinerinnen im Gespräch
„Aus der Pandemie Lehren für die Zukunft ziehen“
Ende 2020 sind die Sektionen im Gesundheitsministerium umgekrempelt worden. Generaldirektorin für Öffentliche Gesundheit wurde eine Frau: Dr.in Katharina Reich, zuvor stv. Ärztliche Direktorin an der Klinik Hietzing und Einsatzleiterin des dortigen Corona-Krisenstabs. Die Allgemeinmedizinerin, Jahrgang 1978, übernahm damit die Position, welche einst Dr.in Pamela Rendi-Wagner innegehabt hatte und unter der ÖVP-FPÖ-Regierung abgeschafft wurde. Zusätzlich ging die Sektion Öffentliche Gesundheit und Gesundheitssystem, bis dahin von Dr. Clemens Martin Auer geleitet, in die Verantwortlichkeit von Dr.in Reich über. Im Gespräch mit der HAUSÄRZT:IN zieht sie die Bilanz des ersten Jahres in der verantwortungsvollen Position.
HAUSÄRZT:IN: 2021 war – pandemiebedingt – kein einfaches Jahr. Was haben Sie rückblickend als besonders herausfordernd erlebt?
Dr.in REICH: Vermutlich, dass keine Zeit zum Einarbeiten blieb. Ich habe die Position der Generaldirektorin für die Öffentliche Gesundheit und der Leiterin der Sektion Öffentliche Gesundheit und Gesundheitssystem im Dezember 2020 mitten im Lockdown bei hohen Infektionszahlen und unmittelbar vor dem Beginn der Impfkampagne übernommen.
Und nun der vierte Lockdown … Wie erleben Sie diese Situation?
Wir haben bis zum Schluss alles unternommen, um diesen Lockdown zu vermeiden. Es hat aber nicht gereicht, auch weil wir beim Impfen nicht jene Quoten erreicht haben, die es gebraucht hätte.
Zu Jahresbeginn haben Sie Impfbefehle oder -belohnungen als nicht zeitgemäß bezeichnet. Hat sich Ihre Meinung diesbezüglich geändert? Zumal ab Februar 2022 eine CoronaImpfpflicht kommen soll …
Es ist kein Geheimnis, dass ich eher eine Befürworterin der Überzeugungsarbeit beim Impfen bin und nicht die Speerspitze für eine verpflichtende Impfung. Meine Überzeugung ist, mit Argumenten und fundierten Erkenntnissen ungeimpfte Menschen aufzuklären, ihnen Fragen zu beantworten und allfällige Ängste zu nehmen. Leider ist die Gruppe der Ungeimpften in den politischen Fokus gerückt, insbesondere von denjenigen, die daraus Kapital schlagen wollen. Und so stehen wir jetzt vor der Situation, solche Maßnahmen einführen zu müssen, um unsere Ziele zu erreichen. Denn ohne eine hohe Durchimpfungsrate werden wir weiterhin das Thema der vollen Intensivstationen haben. Zudem bieten wir dem Virus zu viele Möglichkeiten, sich zu verändern.
Können Sie den Frust und die Spaltung der Bevölkerung in der Pandemie verstehen?
Natürlich sind diese Zeiten herausfordernd. Strenge, das persönliche Leben einschränkende Regelungen sind niemals leicht zu verarbeiten. Aber der überwiegende Teil der Bevölkerung hat alle diese Maßnahmen mitgetragen und tut es noch. Dafür möchte ich mich herzlich bedanken. Wir müssen uns jetzt aber auch gezielt jene Menschen ansehen, die ihre persönliche Freiheit über das Wohlergehen anderer stellen. Eine heikle Frage, zweifellos.
Welche Rolle spielt in puncto Pandemiebekämpfung und Bewusstseinsbildung die niedergelassene Ärzteschaft? Die niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte haben bereits Großes geleistet. Sie waren nicht nur – aber besonders – wäh-
Expertin zum Thema: Dr.in Katharina Reich
Generaldirektorin für Öffentliche Gesundheit, BM f. Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz
rend der ersten Welle der Pandemie ein starker und verlässlicher Ansprechpartner für ihre Patientinnen und Patienten. Und auch in puncto Impfaufklärung wurde vielfach großartige Arbeit getan. Beratungsgespräche mit den Patienten, Abwägung allfälliger Risikofaktoren, Definition von Risikopatienten – all das wäre ohne den niedergelassenen Bereich nicht so schnell und kompetent erfolgt.
In Ihrer Amtszeit haben wir einen neuen Gesundheitsminister bekommen. Wie hat sich dieser Umstand auf Ihre Arbeit ausgewirkt?
Ich persönlich finde es auch als Ärztin sehr verantwortungsvoll, wenn jemand auf die Signale seines Körpers hört und entsprechende Konsequenzen zieht. Faktum ist, dass ich bereits zwei sehr kompetente Minister für dieses große und schwierige Ressort kennenlernen durfte.
Worauf sind Sie stolz und worüber enttäuscht, es im ersten Jahr in der neuen Funktion erreicht bzw. nicht erreicht zu haben?
Stolz ist für mich der falsche Begriff, da der Erfolg der vergangenen Monate nur durch den starken Rückhalt sowie durch die Unterstützung seitens meines Teams ermöglicht wurde. Deswegen würde ich es eher als Dankbarkeit definieren. Mein Team und ich haben es geschafft, trotz aller politischer Veränderung auch bei uns im Resort eine medizinisch fundierte und weitgehend akzeptierte Impfstrategie zu entwickeln und umzusetzen. Innerhalb dieser Strategie sind viele kleinere und größere Entscheidungen notwendig geworden, die wir alle gemeistert haben – von der Aufklärung über den durchaus komplexen Abstimmungsprozess mit den Ländern und die Impfstoffbeschaffung bis hin zur Etablierung von Informationsmaterial in verschiedenen Sprachen etc. Dass man in einer solchen Position nicht mit jeder Idee durchkommt, ist klar. Das ist eben politische Realität und wäre auch so in einer Alleinregierung. Mit einem Koalitionspartner gibt es zusätzlichen Abstimmungsbedarf. Im Grunde haben wir aber sehr viele unserer Positionen gut durchargumentieren können und wurden mit diesen auch gehört.
Kommen wir zu inhaltlichen Schwerpunkten, die Ihnen besonders am Herzen liegen. Welche sind das?
Ein Thema ist natürlich, dass wir aus der Pandemie Lehren für die Zukunft ziehen werden müssen. Wie bereiten wir uns auf mögliche nächste Ereignisse vor? Welche Strukturen braucht es? Wie schaffen wir es, Datensysteme so zu gestalten, dass Bund und Länder möglichst fehlerfrei ein exaktes Lagebild bekommen? Das zweite große Thema ist die Pflege, deren Reform dringend vonnöten ist. Um dieses komplexe Themengebiet so aufzudröseln, dass zielorientierte Lösungen gefunden werden können, brauchen wir aber ein ruhigeres politisches Fahrwasser …
Die Bekämpfung von Armutskrankheiten ist Ihnen besonders wichtig, habe ich gelesen ...
Ja. Armut darf in der heutigen aufgeklärten und humanistischen Gesellschaft kein Grund mehr dafür sein, dass man bestimmte Krankheiten erleiden muss. Das müssen wir ändern. Ein weiterer Punkt ist schließlich – im Sinne eines Public-Health-Ansatzes –, dass wir uns nicht nur auf das „Heilen“ konzentrieren. Gesundheit bedeutet mehr als das Fehlen von Krankheit. Gesundheit bedeutet, einen vitalen und fitten Körper zu haben, mit dem man gestärkt und auch glücklich durchs Leben geht. Dieses Ansatzes mit all seinen Konsequenzen müssen wir uns alle noch viel bewusster werden.
Das Interview führte Mag.a Karin Martin.
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„Studierende früh für den Hausarztberuf begeistern“
Ass.-Prof.in Dr.in Erika Zelko, Lehrstuhl für Allgemeinmedizin an der Medizinischen Fakultät der Johannes Kepler Universität, aktives Mitglied von WONCA und EAPC, Allgemeinmedizinerin im Gesundheitszentrum Haslach
Linz hat ein neues Institut für Allgemeinmedizin an der Medizinischen Fakultät der Johannes Kepler Universität (JKU) und damit einen neuen Lehrstuhl für Allgemeinmedizin. Übernommen hat diesen mit 1. Oktober 2021 eine Frau: Ass.-Prof.in Dr.in Erika Zelko. Sie war zuvor 25 Jahre als Hausärztin in Slowenien tätig und lehrt seit 16 Jahren Allgemeinmedizin an der Medizinischen Fakultät in Maribor. Dort leitete sie auch die Forschungsgruppe der Abteilung für Allgemeinmedizin. Im Gespräch mit der HAUSÄRZT:IN spricht Prof.in Zelko über ihre Visionen und über die Schwerpunkte, die sie in der Lehre setzen will.
HAUSÄRZT:IN: Was hat Sie bewogen, die Professur in Linz zu übernehmen?
Prof.in ZELKO: Der Neuaufbau des Instituts ist sehr reizvoll, Kolleginnen und Kollegen aus der Allgemeinmedizin haben schon gute Vorarbeit geleistet. In Slowenien gibt es den Facharzt für Allgemeinmedizin schon viele Jahre. In Österreich soll die lange geforderte fachärztliche Ausbildung in Kürze Wirklichkeit werden. Dies ist sicher eine Aufwertung und macht die Ausbildung zur Allgemeinmedizinerin/zum Allgemeinmediziner wieder attraktiver. Für mich ist ganz wichtig, dass ich neben der Lehre auch den Bezug zur Praxis und zu den Patienten nicht verliere. Daher arbeite ich derzeit auch zehn Stunden im Gesundheitszentrum Haslach, in einer der ersten Primärversorgungseinheiten des Bundeslandes.
Was macht den Beruf der Hausärztin/ des Hausarztes für Sie besonders?
Die Allgemeinmedizin ist ein sehr breitgefächertes Gebiet und der Mensch in seiner Ganzheit steht im Vordergrund. Man wird mit den körperlichen und seelischen Problemen, aber auch dem psychosozialen und kulturellen Hintergrund des Patienten konfrontiert. Die Hausärztin/der Hausarzt hat meist eine vertrauensvolle Langzeitbeziehung zum Patienten, was für die Effektivität der Behandlung von Vorteil ist und die Compliance fördert. Ziel ist die wohnortnahe, individuelle und umfassende Begleitung des Patienten.
Mit welcher Vision gehen Sie an Ihre Funktion heran?
Die Fakultät soll die Studierenden auf eine moderne berufliche Karriere, auf aktuelle und künftige Herausforderungen vorbereiten. Themen wie etwa Datenaustausch, Telemedizin, optimierte Therapie durch Vernetzung und interdisziplinäre, multiprofessionelle Zusammenarbeit für chronisch Kranke, aber auch die Förderung der Gesundheitskompetenz der Patientinnen und Patienten werden an Bedeutung gewinnen. Ziel ist die Stabilisierung und Verbesserung der hohen Professionalität in der Allgemeinmedizin in Österreich. Dazu braucht es Flexibilität und Innovation bei der Erstellung vorausschauender Konzepte. In diesem Sinne hoffe ich auf eine gute Zusammenarbeit mit allen Partnerinnen und Partnern sowie Stakeholdern im Gesundheitssystem.
Welche Erfahrungen aus Slowenien fließen in Ihre Arbeit ein?
Zum einen die Praxis der fachärztlichen Ausbildung, die es schon seit 1962 gibt und im Jahr 2000 reformiert wurde. Im Jahr 2000 wurde an der Universität in Ljubljana ein eigener Lehrstuhl für Allgemeinmedizin eingerichtet und mit der Gründung der Medizinischen Fakultät in Maribor folgte im Jahr 2003 auch dort ein Lehrstuhl, den ich innehatte. Die meisten Allgemeinmedizinerinnen und -mediziner arbeiten in Slowenien in Primärversorgungszentren. Sie haben eine Gatekeeper-Funktion, die auch in Österreich angestrebt wird. Der Hausarzt ist der erste Ansprechpartner des Patienten, er bestimmt und beurteilt den Behandlungsbedarf, also ob eine Weiterbehandlung beim Facharzt oder in einem Spital notwendig ist. Bei ihm laufen alle Befunde zusammen. Leider gibt es in meinem Heimatland den Beruf der Arztassistentin nicht, sodass die Allgemeinmediziner die bürokratische Arbeit selbst erledigen müssen, was den Alltag erschwert. Oftmals nimmt sich eine Krankenschwester der Bürokratie an.
Welche inhaltlichen Schwerpunkte möchten Sie mit dem Lehrstuhl setzen?
Der Lehrstuhl ist ein Signal für die Relevanz des Faches, er eröffnet neue Perspektiven für die Praxis und liefert auch wichtige Impulse für die Forschung und somit die Weiterentwicklung des Fachs. Spannende Forschungsfelder ergeben sich etwa im Bereich chronischer Erkrankungen, der Demenz, der Telemedizin, der Prävention und der Palliativmedizin. Der Anteil von Patienten mit chronischen und geriatrischen Erkrankungen, die vom Hausarzt langzeitbetreut werden, nimmt zu. Mir ist die vertikale und horizontale Vernetzung des Instituts extra- und intramural mit allen Stakeholdern wichtig, um inhaltlich wie strukturell die Ausbildung zu optimieren. Gelehrt werden die Kernkompetenzen nach der europäischen Definition der Hausarztmedizin. Dazu gehören: ein holistisches Modell, spezifische Fertigkeiten und Problemlösungsfähigkeiten, umfassende und personenzentrierte Betreuung, primärmedizinisches Management der Patientinnen und Patienten und eine Gesellschaftsausrichtung. Die Hausärztinnen und -ärzte von morgen müssen auf neue Wirkbereiche wie Digitalisierung, e-Medicine und das Balancieren zwischen „high tech – low touch“ und „low tech – high touch“ gut vorbereitet sein.
Wie ist die Allgemeinmedizin konkret in den Lehrplan integriert?
Mir ist es sehr wichtig, dass die Studierenden vom Beginn bis zum Abschluss mit der Allgemeinmedizin intensiv in Berührung kommen und für die Vielfalt „Wir setzen wichtige des Faches begeisSchritte gegen den Haus tert werden. Bereits ärztemangel und wollen in den ersten beiden die Primärversorgung der Wochen des ersten Bevölkerung sicherstellen.“ Semesters absolvieAss.-Prof.in Dr.in Erika Zelko ren sie ein verpflichtendes, dreistündiges Ordinationspraktikum in einer allgemeinmedizinischen Praxis. Mehr als 50 niedergelassene Allgemeinmediziner vermitteln theoretisches Wissen und praktische Fertigkeiten als Lektorinnen und Lektoren. Im Rahmen der Pflichtfamulatur kann bis zu vier Wochen in einer allgemeinmedizinischen Ordination mitgearbeitet werden. Weitere vier Wochen Famulatur sind als freie Studienleistung möglich. Bachelor- und Masterarbeiten können natürlich auch in der Allgemeinmedizin verfasst werden. Im Klinisch-Praktischen Jahr wird das vierwöchige Pflichtpraktikum in der allgemeinmedizinischen Lehrordination in Oberösterreich mit 650 Euro von ÖGK und Ärztekammer OÖ honoriert. Weitere acht Wochen können im KPJ als freie Wahlfachrichtung in der Lehrordination absolviert werden, für mindestens vier davon werden ebenfalls 650 Euro bezahlt.
Das Interview führte Mag.a Christine Radmayr.
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X HAUSÄRZT:IN-Buchtipps
Heilende Frauen. Ärztinnen, Apothekerinnen, Krankenschwestern, Hebammen und Pionierinnen der Naturheilkunde Von Annette Kerckhoff und Marianne Koch Insel Verlag 2017
Wichtige Frauen in der Naturheilkunde: Ihr Leben – ihr Werk – ihre Schriften
Von Annette Kerckhoff Springer Verlag 2020
Den Chefsessel im Visier – Führungsstrategien für Arztinnen
Von Kirstin Börchers, Helga Kirchner, Susan Trittmacher Thieme Verlag 2015


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Therapie-News: Deutschsprachige Plattform, die in kompakter Form über aktuelle Entwicklungen aus dem Bereich Kopfschmerzen Form über aktuelle Entwicklungen aus dem Bereich Kopfschmerzen mit Schwerpunkt Migräne informiert: • Internationale Kongressberichterstattung • Video-Vorträge • Diplomfortbildung • Podcasts mit Tipps von Experten • u. v. m.
„Ein Spagat zwischen Familie, Ordi und Kammer“
Die Jungen müssen von den Alten lernen – ähnlich wie in der Ordination. Ich selbst wachse in die standespolitische Arbeit hinein, habe viele Mentoren in der Kammer.
Ist es schwierig, sich als Frau in der Kammerpolitik durchzusetzen?
Man kann und muss sich durchsetzen. Auch das hat mit dem Geschlecht nichts zu tun. Wichtig ist der Wille, etwas zu verändern. Der Rest kommt mit der Zeit. Man kommt nicht heute in die Kammer und sagt: „Ich bin morgen Präsident!“ Das wäre nicht sinnvoll. Man muss die Strukturen der Kammer von der Pike auf lernen. Ich selbst bin zwar erst seit 2017 Funktionärin, habe aber schon im Turnus mit standespolitischen Aktivitäten begonnen, u.a. als Turnusärztevertreterin.
Könnten Sie sich auch eine höhere Position in der Kammer vorstellen, also z. B. Kurienobfrau oder Präsidentin?
(Lacht). Ich habe – ehrlich gesagt – noch nicht darüber nachgedacht. Mir macht die Kammertätigkeit Spaß. Ich bin in der Sektion Allgemeinmedizin glücklich. Da kenne ich schon fast alle Ecken und Kanten und weiß, was ich zu tun habe. Ich kenne die Wünsche der Kolleginnen und Kollegen und bin gut vernetzt. Das mache ich gut, hoffe ich. Wissen tu ich es nicht, das werden die Wähler entscheiden. Wenn später einmal Bedarf besteht und meine Kinder größer sind, könnte ich mir schon vorstellen, mehr Funktionen zu übernehmen.
Welche Vorteile hat für Sie die Vereinigung als wahlwerbende Gruppierung?
Den sehr großen Erfahrungsschatz. Die Vereinigung zählt zu den größten Fraktionen und besteht schon sehr lange. Wir vertreten alle Sektionen und sind gut vernetzt. Wir haben Dr. Johannes Steinhart als Spitzenkandidat, der in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten viele standespolitische Forderungen durchsetzen konnte. Wir sind ein gutes Team von Jung und Alt und politisch ein buntes Potpourri. Die Interessen der Kollegen stehen im Mit-

Dr.in Naghme Kamaleyan-Schmied, Ärztin für Allgemeinmedizin, Obfrau der Sektion Allgemeinmedizin in der Wiener Ärztekammer
Dr.in Naghme Kamaleyan-Schmied ist Hausärztin im 21. Bezirk und Obfrau der Sektion Allgemeinmedizin in der Wiener Ärztekammer. Zusätzlich leitet sie das Referat „Primärversorgung und ärztliche Zusammenarbeitsformen“ in der Österreichischen Ärztekammer. Im Gespräch mit der HAUSÄRZT:IN erzählt die junge Standesvertreterin und Mutter, wie sich das alles unter einen Hut bringen lässt.
HAUSÄRZT:IN: 2022 sind Ärztekammerwahlen. Die ärztliche Standesvertretung ist nach wie vor in Spitzenpositionen überwiegend männlich besetzt. Können Sie sich vorstellen, dass sich daran etwas ändern wird, und wie notwendig ist das?
Dr.in KAMALEYAN-SCHMIED: Ich finde, es muss sich ändern, weil auch die Medizin immer weiblicher wird. Wir haben in der Allgemeinmedizin schon zu fast mehr als die Hälfte Kolleginnen. Wenn die nächste Pensionierungswelle kommt, werden wir an die 80 Prozent Frauen sein. Und nachdem ja die Kammer den Wähler „draußen“ abbilden soll, ist es sinnvoll, wenn sich mehr Frauen in die Standespolitik trauen.
Sie haben selbst eine Praxis, haben Familie: Wie leicht lässt sich die Kammerarbeit damit vereinbaren?
Es ist schon ein Spagat zwischen Kindern, Familie, Ordination, Kammer. Aber wo ein Wille, da ein Weg.
Ist die Standespolitik für Frauen noch einmal mühsamer als für Männer?
Die Standespolitik ist generell kein Honigschlecken. Wenn man sie intensiv betreibt, ist sie für Männer und Frauen anstrengend. Ich finde nicht, dass nur Frauen für die Kinderbetreuung zuständig sind. Kinder sind ein Projekt der Familie. Daher ist die Frage der Vereinbarkeit kein geschlechterspezifisches Thema für mich. Eine größere Rolle spielen das Alter und die Lebenssituation. Die Kollegen, die aktuell die Kammer führen, sind Großteils aus dem Alter heraußen, dass sie Kinder in die Schule und in den Kindergarten schicken müssten.
Apropos ältere Kollegen: Müsste sich die Kammer verjüngen?
Wir können von den Erfahrungswerten der älteren Kollegen sehr viel lernen. „Alles weg und alles ganz neu“ , das fände ich nicht okay. Nein! Die Kammer sollte eine gewachsene Struktur sein.
telpunkt, nicht die politische Gesinnung. Unser gemeinsames Ziel ist, dass unsere Kolleginnen und Kollegen mit unserer Arbeit zufrieden sind.
Welche Verbesserungen für niedergelassene Allgemeinmediziner wollen Sie vorrangig durchsetzen?
Wir haben bereits vieles durchgesetzt. Besonders stolz bin ich darauf, dass wir es geschafft haben, eine ordentliche Honorarsummenerhöhung für die Hausärzte zu bekommen. Das war schon sehr, sehr dringend notwendig. Uns ist ein triumphaler Abschluss gelungen: dreimal zehn Prozent pro Jahr. Wir haben es auch geschafft, die Möglichkeiten der Zusammenarbeit zu erweitern. Wir haben ein Jobsharing-BModell, es gibt jetzt die Möglichkeit der Anstellung von Ärzten, die Lehrpraxis ist eine tolle Geschichte, … All das müssen wir noch weiter forcieren. Ich würde mir in Bezug auf unsere Arbeitsweise viel mehr Flexibilität wünschen. Bei einem Betrieb ist es am Ende des Tages komplett egal, wie viele Gesellschafter oder Angestellte er hat. Solange alles gut läuft, sollten Entscheidungen darüber, wie und wie viel wir arbeiten, auch in der Verantwortung von uns niedergelassenen Ärzten liegen. Ich erwarte mir ein bisschen mehr unternehmerische Freiheit. Eine wichtige politische Forderung ist schließlich noch, dass man in der Ärzteausbildung die Allgemeinmedizin mehr in den Fokus rückt – damit die jungen Kolleginnen und Kollegen sehen, wie wir Hausärzte arbeiten und wie schön unser Beruf eigentlich ist.
Was schätzen Sie an dieser – Ihrer – Arbeit als Hausärztin besonders?
Eine Studentin hatte heute ihren ersten Tag bei mir in der Ordi. Es war ein chaotischer Tag. Wir haben Grippe und COVID gleichzeitig zu impfen angefangen. Ich habe die junge Kollegin am Schluss angeschaut und gefragt: „Du bleibst eh bei uns?“ Sie hat gemeint: „Natürlich. So super! Ich hab‘ so viele verschiedene Sachen heute gesehen. “ Und genau das ist es. Dir wird nicht langweilig in der Praxis. Ich hab‘ nicht jeden Tag nur HNO-Leiden. Ich hab‘ nicht jeden Tag nur Frauen oder nur Kinder. Ich habe jeden Tag etwas anderes. Während der Corona-Pandemie haben wir neben der Basismedizin z. B. begonnen, gynäkologische Untersuchungen und viel mehr chirurgische Versorgung zu übernehmen. Wir versorgen Kinder und alte Menschen, Frauen und Männer. Man vertraut und schätzt uns – und wir dürfen an vielem teilhaben. Wir gehören irgendwie zur Familie unserer Patienten. Das ist wirklich ein schönes Gefühl.
Können Sie also der nachkommenden Generation von Jungärzten guten Gewissens empfehlen, eine Praxis zu übernehmen?
Ich rede mit sehr vielen Jungen. Wenn ich sie frage, warum sie Medizin studiert haben, sagen sie, sie hätten Emergency Room gesehen und das sei cool gewesen. In Wahrheit ist das Bild, das die Jungen am Anfang haben, nicht das des Gynäkologen oder des Urologen, sondern das vom „Arzt, der alles macht“ . Wenn sie dann ins Spital kommen, sagt man ihnen: „Du musst dich entweder für ein Fach oder für die Allgemeinmedizin entscheiden. “ Im Rahmen der Ausbildung sind nur etwa sechs Stunden Allgemeinmedizin vorgesehen. Wie soll man sich da ein Bild machen? Für viele ist der Allgemeinmediziner derjenige, der nur Rezepte und nur Überweisungen schreibt. In Wirklichkeit aber haben wir ein sehr breites Wissen. Unsere Arbeitskompetenzen umfassen Infiltrationen und Infusionstherapien, Wundversorgung, Diagnostik, Lifestylemedizin, Zuwendungsmedizin, Familienmedizin, … Wenn Sie wollen: Wir sind die Gesundheitsmanager der Patienten. Wenn man das den Jungen zeigt, sind sie überrascht und fasziniert von unserer Arbeit. Wir müssen nur die Gelegenheit dazu bekommen.
Den Jungärzten wird gerne „vorgeworfen“, vorrangig an die Work-LifeBalance zu denken. Lässt sich das mit dem Hausarztberuf vereinbaren?
Ja (lacht). Wenn man nebenbei nicht in der Kammer arbeitet, ist eine WorkLife-Balance durchaus möglich. Und wenn wir es schaffen, die Arbeitsmodel-
le und -zeiten weiter zu flexibilisieren, dann wird es noch besser. Mir war es z. B. ein großes Anliegen, dass wir Kassenstellen zwischen zwei Kollegen teilen können. Ich hatte selbst so einen Jobsharing-Vertrag. Beispielsweise kann der Partner mit schon erwachsenen Kindern dann den mit noch kleinen Kindern in den Schulferien vertreten. Oder: Wenn der ältere einen jungen Kollegen als Partner in die Ordi hineinnimmt, können sie auch parallel arbeiten, sodass der junge vom erfahrenen Arzt lernen kann und sieht, wie eine Praxis läuft.
Merken Sie den Ärztemangel schon in Wien?
Ja. Jeden Tag, wenn ein Patient kommt und sagt: „Mein Arzt ist in Pension“ , denk ich mir: „Ujee, hoffentlich gibt es diesmal einen Nachfolger?“ Wir wissen: Die nächste Pensionierungswelle kommt. Wir haben in „Sobald ein Kollege in Wien durchgesetzt, Pension geht, stehen von dass die älteren Kolheute auf morgen 2.000 legen in den ManPatienten unversorgt da.“ gelfächern nicht mit 70 in Pension gehen
Dr.in Naghme Kamaleyan-Schmied müssen, sondern länger bleiben können. Dafür bin ich dankbar. Dennoch: Sie werden nicht, bis sie 100 Jahre alt sind, in der Ordi stehen. Sobald ein Kollege in Pension geht – und die älteren haben meist größere Praxen –, stehen von heute auf morgen 2.000 Patienten unversorgt da. Ich habe natürlich auch nicht die Kapazität, noch mehr zu arbeiten, als ich es schon tue. Das wird noch spannend.
Ihr abschließender Appell an Politik, Kassen etc.?
Der Hausarztberuf ist für die Bevölkerung ein wichtiger. Ich fordere, dass dieser Wunsch der Menschen nach Hausärzten akzeptiert wird und dass die Politik ihr Bestes tut, dass wir so viele neue Allgemeinmediziner wie möglich bekommen. Was kann sie machen? Die Arbeitsmöglichkeiten, das Tätigkeitsprofil, diverse Richtlinien und die Honorierung müssen so attraktiv sein, dass die Wahlarztkollegen beschließen: „Ich mache die Wahlarztpraxis zu und werde Kassenarzt. “ Solange die Politik das nicht schafft, hat sie versagt! Das Interview führte Mag.a Karin Martin. <