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Der multimorbide Patient im Fokus

Was umfassendes Medikationsmanagement leisten kann

Die klinische Pharmazie stand im Mittelpunkt des zweitägigen VAAÖ-Fortbildungskongresses in Wien.* Erklärtes Ziel der Veranstaltung war es, die Apothekerinnen und Apotheker auf die Herausforderungen der Zukunft optimal vorzubereiten. Im Folgenden eine kompakte Zusammenfassung der wichtigsten Inhalte.

Mit steigendem Alter wird die Liste von Beschwerden und Erkrankungen länger, die Anzahl täglich einzunehmender Arzneimittel erhöht sich. Über die im Laufe der Jahre angesammelten Verschreibungen fehlt häufig der Überblick. Hierbei kann in den Apotheken ein wichtiger Beitrag geleistet werden. Einerseits kann die Medikationsliste gezielt durchforstet und „entrümpelt“ werden, andererseits oft besser verträgliche Therapiealternativen für den einzelnen Patienten gefunden und empfohlen werden. Und davon profitieren letztlich alle.

Deprescribing im Kontext der Geriatrie

Dr.in Birgit Böhmdorfer-McNair, aHPh

Die Diskussion darüber, ab wie vielen Medikamenten man von Polypharmazie spricht, ist akademisch. Per definitionem umfasst sie üblicherweise mehr als fünf Medikamente pro Tag. Es gibt durchaus Polypharmazie, die angebracht und indiziert ist – man denke beispielsweise an Menschen mit Herzinsuffizienz. Nicht ideal ist es hingegen, wenn keine Indikation besteht, wenn sich jene mittlerweile geändert hat oder die Person nicht davon profitiert. Anschaulich demonstrieren lässt sich dies anhand der „sieben Sünden der Medikamentenverordnung“ (siehe Tabelle).1

X Tabelle: Die sieben Sünden der Medikamentenverordnung

„Sünde“ Beispiel

1 Verordnung eines Medikaments, um die Nebenwirkungen eines anderen zu behandeln Typische Verschreibungskaskaden

2 Behandlung eines Leidens, das primär nicht pharmakologisch therapiert werden sollte Benzodiazepine bei erstmaligen Schlafstörungen

3 Behandlung eines Problems, das selbstlimitierend ist oder bei dem eine Therapie nicht wirkt Antibiotika bei viralen Infekten

4 Unangemessene Medikamente (PIM-Listen) Benzodiazepine bei geriatrischen Patienten

5 Verordnung zweier Arzneimittel, die zwar indiziert sind, aber eine gefährliche Interaktion aufweisen, welche nicht monitiert wird

6 Zwei oder mehr Arzneimittel der gleichen Wirkstoffgruppe in unterschiedlichen Indikationen

7 Indiziertes Medikament in zu hoher Dosierung für den individuellen Patienten

Quelle: Frühwald T et al., ÖAZ 2017;15:46-49. Trimethoprim (HWI) und Marcoumar (Indikation: IVT): Blutungsgefahr!

β-Blocker: Carvedilol (Tachykardie, Kardiologie), Propranolol (Tremor, Neurologie)

z. B. GFR, Alter, Gewicht

Medikationsfallen bei polymorbiden COPDPatienten

Priv.-Doz.in Dr.in MMag.a Irene Lagoja, aHPh

COPD-Patienten und -Patientinnen haben häufig Komorbiditäten (z. B. Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen, Osteoporose). Daher ist bei dieser Patientengruppe das Thema Polymedikation zentral. Polymedikation hat viele negative Folgen: Wechselwirkungen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Verschreibungskaskaden, Doppelung (Überversorgung), Kontraindikationen, Adhärenzprobleme und Einnahme- fehler.

Wie funktioniert Deprescribing?

Es gibt verschiedene Vorgehensweisen, um die Medikation strukturiert zu evaluieren und zu reduzieren: • Garfinkel-Algorithmus2,3 , • MAI (Medication-Appropriateness-

Index)4 , • fünf Schritte nach Scott5 , • Medstopper6 . Unabhängig davon, welchen Zugang man wählt, gilt: Das Wichtigste ist die Kommunikation zwischen allen Beteiligten – also Ärzten, Pflegern, Apothekern sowie Patienten und Angehörigen. Am Ende des Prozesses wird für jedes Arzneimittel entschieden, ob es weiterhin gegeben, die Dosis angepasst oder das Präparat gewechselt bzw. abgesetzt wird. Priorisierung ist essenziell. Im Absetzprozess sollte ein Medikament nach dem anderen reduziert werden, um mögliche Absetzreaktionen richtig zuordnen zu können.

Therapieempfehlungen in der Palliativmedizin

Wenn das Lebensende absehbar ist, steht die Optimierung der Lebensqualität im Mittelpunkt – nicht mehr eine Verlängerung der Lebenszeit. Dementsprechend muss die Medikation neu bewertet und gegebenenfalls angepasst werden. Hilfreiche Empfehlungen enthält die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin.7 Auf der Positivliste stehen u. a. Opiate bei Schmerzen, Benzodiazepine bei Angst und Unruhe oder muskarinerge Anticholinergika bei Rasselatmung.

Arzneimittelinduziertes Delir

Dr. Gunar Stemer, MBA, aHPh

Ein Delir ist ein multifaktorielles Geschehen: Etwa 12–39 % dieser Bewusstseinsstörungen sind arzneimittelinduziert. Damit stellen Medikamente nach Elektrolytstörungen und Infektionen die dritthäufigste Ursache für ein Delir dar. Dem Präventionsaspekt kommt eine besonders große Bedeutung zu. Es gilt, die Medikation früh zu durchforsten, um potentiell delirogene Arzneistoffe rechtzeitig zu erkennen. Grundsätzlich lässt sich ein arzneimittelinduziertes Delir auf einen der zwei Mechanismen zurückführen: einen dopaminergen Überschuss oder ein cholinerges Defizit. Letzteres hat eine weitaus größere Bedeutung. >

Welche Arzneimittel können zu einem cholinergen Defizit führen?

An erster Stelle sind hier Medikamente mit einer anticholinergen Wirkkomponente zu nennen. Anticholinergika kommen in verschiedensten Indikationen zum Einsatz: z. B. als urologische Spasmolytika (Oxybutynin, Tolterodin, Solifenacin), als Mydriatika (Atropin, Tropicamid), als Muskelrelaxantien (Orphenadrin), Sedativa und Antiallergika (Dimenhydrinat, Diphenhydramin) und Antidepressiva (Amitriptylin). In Hinblick auf ihr anticholinerges Risiko werden Arzneistoffe in verschiedene Klassen eingeteilt – jede Substanz erhält einen Score. Je höher der Score, umso höher das Risiko anticholinerger Effekte. Die Scores der einzelnen Arzneistoffe werden aufaddiert, die anticholinerge Toxizität kumuliert.8 Neben Anticholinergika können Opiate und Benzodiazepine ein Delir auslösen oder verstärken. Ebenso können Diuretika aufgrund von Elektrolytverschiebungen und Dehydratation potentiell delirogen wirken.

Pharmakogenetische Aspekte

Dr. Theodor Dingermann

Pharmakogenetische Aspekte können ein Behandlungsziel komplett sabotieren. Deshalb müssen sie unbedingt identifiziert und ausgeschaltet werden. Genetische Analysen erlauben eine sehr detaillierte Vorhersage von Wirksamkeit und Verträglichkeit eines Arzneimittels bei einer konkreten Person. Die sogenannte stratifizierte Arzneimitteltherapie verfolgt dabei den Ansatz, ein Arzneimittel gezielt an das genetische Profil einer Person anzupassen. Ein praxisrelevantes Beispiel ist der Betablocker Metoprolol. Dieser Wirkstoff wird vorwiegend von CYP2D6 metabolisiert. Bei „Poor-Metabolizern“ ist die Halbwertszeit verlängert, die Wirkung verstärkt. Folglich sollte bei dem Arzneistoff immer eine Genotypisierung auf CYP2D6-Polymorphismen erwogen werden – entsprechende Labortests sind heute verfügbar. Erfolgen kann die erwähnte Typisierung entweder bereits vor Therapiebeginn oder spätestens dann, wenn Nebenwirkungen (durch Überdosierung) auftreten. Je nach Ergebnis der Genanalyse können passende Maßnahmen ergriffen werden: die Verordnung eines alternativen Arzneimittels (z. B. Bisoprolol, Carvedilol), die Reduktion der Dosis um 50–75 % (bei Intermediate- bzw. Poor-Metabolizern) oder eine Dosiserhöhung auf bis zu 250 % der Normaldosis (bei Ultrarapid-Metabolizern).

Mag.a Dr.in Irene Senn

* Dieser Artikel bezieht sich auf den Kongress „Der multimorbide Patient im Fokus der klinischen Pharmazie“, welcher am 2. und 3. Oktober in Wien vom Verband

Angestellter Apotheker Österreichs (VAAÖ) veranstaltet wurde.

Quellen: 1 Frühwald T et al., ÖAZ 2017;15:46-49. 2 Garfinkel D et al., Arch Intern Med 2010;170(18):1648-1654. 3 Garfinkel Method for Appropriate Medication, drugstop.co.il (abgerufen am 7.10.2021). 4 Hanlon JT et al., J Clin Epidemiol 1992;45(10):1045-1051. 5 Scott IA et al., JAMA Intern Med 2015;175(5):827-834. 6 Medstopper, medstopper.com (abgerufen am 7.10.2021). 7 Alt-Epping B, Internist 2017;58(6):575-579. 8 Rudolph JL et al., Arch Intern Med 2008;168(5):508-513.

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