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Cannabinoide in der Schmerzmedizin
Stellenwert für die Behandlung von Patienten mit Spastik, neuropathischen Leiden sowie im palliativen Setting*
Cannabinoide werden in Leitlinien und Empfehlungen der Fachgesellschaften meist als Zweit- oder Drittlinienmedikamente angeführt, trotz begrenzter wissenschaftlicher Evidenz. Jedoch besteht bei den Expertinnen und Experten Einigkeit darüber, dass Cannabinoide immer erst dann eingesetzt werden sollten, wenn Standardtherapien nicht wirken oder mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden sind. Da der Begriff „Cannabinoide“ sowohl Δ-9-Tetrahydrocannabinol (THC und Analoga) als auch Cannabidiol (CBD) umfasst, soll hier auf deren unterschiedliche Wirkungsweisen und Evidenzen näher eingegangen werden.
CBD oder THC?
Die beiden Cannabinoide THC und CBD unterscheiden sich grundlegend in ihrem pharmakologischen Profil. THC ist ein Agonist an den Cannabinoidrezeptoren CB1 und CB2. Die Aktivierung der präsynaptischen Rezeptoren hemmt über Rückkopplungsmechanismen die weitere Freisetzung erregender (oder inhibitorischer) Neurotransmitter. Ziel ist die Modulierung der synaptischen Transmission, um überschießende Reaktionen zu verhindern. Gleichzeitig ist die Aktivierung von CB1R aber auch der Grund für die psychotropen Effekte der Substanzen. Mit CBD verhält es sich anders: CBD, eine „Multitarget Drug“, interagiert
mit vielen unterschiedlichen Rezeptoren, Ionenkanälen und Enzymen. Am CB1R ist CBD ein „negativer allosterischer Modulator“ der Rezeptorfunktion – CBD dockt zwar am Rezeptor an, aktiviert ihn aber nicht, sondern verändert dessen intrazelluläre Antwort bei Aktivierung durch THC. Klinisch zeigt sich eine Abschwächung des psychotropen Effekts von THC bereits unter geringeren Dosen von CBD. Bei höherer Dosierung wird die Wirkung von CBD durch die Interaktion mit einer Vielzahl von Rezeptoren (z. B. GPR55, TRPV1, 5HT-1 …) sowie über Enzyme und Ionenkanäle vermittelt.

Serie SCHMERZ
THC-haltige Präparate bei Spastik
Bei Multipler Sklerose kann es durch die Schädigung GABAerger (hemmender) Interneuronen zu einem Ungleichgewicht zugunsten der glutaminergen (erregenden) Transmission kommen. Im Liquor von MS-Patientinnen und -Patienten findet sich ein erhöhter Spiegel des Endocannabinoids Anandamid (AEA). AEA aktiviert CB1R und hemmt dadurch die weitere Freisetzung von Glutamat, um einer überschießenden Erregung gegenzusteuern. THC und Analoga haben eine stärkere Effektivität am CB1R und kommen daher therapeutisch gegen Spastik zur Anwendung. Die meisten klinischen Studien wurden mit Nabiximols durchgeführt, daher wurde das Präparat mit jenem Wirkstoff auch für diese Indikation zugelassen. Der vergleichsweise geringe CBD-Anteil (THC : CBD = 1 : 1) soll die psychotrope Wirkung von THC abschwächen. Bei der Behandlung von Spastik sollten THC-haltige Präparate (oder Analoga) eingesetzt werden, für die Wirksamkeit von CBD gibt es derzeit keine Evidenz.1,2
Autorin: Dr.in Birgit Kraft
Fachärztin für Anästhesie und Intensivmedizin, Schwerpunkt Schmerztherapie, Österreichische Gesundheitskasse, Versorgungsmanagement 3
Cannabinoide bei Schmerz
Entsprechend den Leitlinien und Positionspapieren der meisten Fachgesellschaften können Cannabinoide als Add-on- und als Zweit- oder Drittlinienmedikamente eingesetzt werden – nicht nur bei neuropathischen Schmerzen, sondern auch bei chronischen Schmerzen und Tumorschmerz.3 Die Evidenz bleibt aber aufgrund der unzureichenden Datenlage gering, weswegen die neuesten Leitlinien der Deutschen Neurologischen Gesellschaft (DGN) Cannabinoide bei neuropathischem Schmerz nicht mehr empfehlen.4 Cannabinoidmedikamente können bei Respondern durchschnittlich eine ca. 30-prozentige Verbesserung der Schmerzsituation erzielen. Vermutlich >

besteht der eigentliche Benefit aber weniger in der Reduktion der reinen Schmerzstärke – gemessen mit der NRS-Skala – sondern in der Gesamtwirkung: der Verringerung von Stress, verbunden mit einer Verbesserung von Schlaf und Coping. Mitunter lassen sich sogar Opiate und andere Analgetika reduzieren.5,6 THC-haltige Präparate scheinen stärker analgetisch zu wirken als CBD. In Kanada wurden dazu Patienten befragt, die verschiedene Cannabissorten gegen neuropathische Schmerzen einnehmen. Dabei zeigte sich, dass mit dem THCGehalt auch der Anteil von Patienten mit einer signifikanten Schmerzreduktion zunahm.7 Für einen Therapieversuch sollten daher in erster Linie THC und Analoga eingesetzt werden. Eine Ausnahme könnte bei Schmerzen mit vorwiegend entzündlicher Genese bestehen, da CBD stärker antiinflammatorisch wirksam ist als THC, jedoch liegen dazu kaum klinische Daten vor. Problematisch sind neben der fehlenden Evidenz auch hohe Behandlungskosten bei CBD-Dosierungen von 400–1.500 mg/d.
Einsatz in Palliativmedizin

Neben der Anwendung als Co-Analgetika werden Cannabinoide vor allem zur Symptomkontrolle im Fall von Übelkeit/Erbrechen, Appetitlosigkeit etc. bei Krebserkrankungen verordnet. Positive Erfahrungen aus der Praxis und insbesondere der Wunsch der Patienten haben in den letzten Jahren zum vermehrten Einsatz von Cannabinoidmedikamenten in der Palliativmedizin geführt. Der Gebrauch bei Palliativpatienten sollte aber vor dem Hintergrund verfügbarer Alternativen und wissenschaftlicher Evidenzen kritisch hinterfragt werden. Häuser et al. stellen in einem Review9 eine Diskrepanz zwischen der öffentlichen Wahrnehmung von Wirksamkeit, Verträglichkeit und Sicherheit der Cannabinoidmedikamente und den Ergebnissen systematischer Übersichtsarbeiten fest.
Setzt man THC als Antiemetikum ein, sind meist höhere Einstiegs- und Tagesdosen nötig als bei anderen Indikationen bzw. bedarf es oftmals einer raschen
Titration im Zusammenhang mit der
Chemotherapie. Dadurch steigt das Risiko psychotroper Nebenwirkungen als limitierender Faktor für die Therapie erheblich. Die antiemetische Wirkung ist vergleichbar mit der von älteren Antiemetika (z. B. Metoclopramid). Ausreichende Vergleichsdaten zu modernen
Antiemetika oder Daten zur Kombination verschiedener Antiemetika mit
Cannabinoiden gibt es nicht. Ebenso unklar ist der Stellenwert von THC in der Kachexie-Behandlung – auch hier steht ein zweifelsfreier klinischer Beweis der Wirksamkeit aus, insbesondere da Vergleichsstudien mit modernen appetitstimulierenden Pharmaka – z. B.
Thalidomid oder Melatonin – fehlen.9–12
Zur Wirkung von CBD bei Übelkeit/Erbrechen oder Kachexie gibt es kaum klinische Daten, allerdings wurden in den
Epilepsiestudien Nebenwirkungen wie
Appetitverlust, Durchfall und Übelkeit unter hochdosiertem CBD beobachtet.
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Fazit: Verordnung gründlich prüfen
Cannabinoidmedikamente sollten aufgrund der unzureichenden Evidenzen für Spastik, Schmerz und palliativmedizinische Indikationen nur nach sorgfältiger Nutzen-Risiko-Abwägung und entsprechend den Leitlinien und Expertenempfehlungen verordnet werden. Aufgrund der aktuellen Datenlage dürfte THC (bzw. Analoga) – verglichen mit CBD – in den genannten Indikationen die wirksamere Substanz darstellen. <
* Die Autorin war Vortragende beim 28. Wissenschaftlichen Kongress der Österreichischen Schmerzgesellschaft, 23. –25.9.2021, Congress Center Villach, oesg-kongress.at
Literatur: 1 AWMF-Leitlinie Therapie des spastischen Syndroms. awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/030-078k_S2k_
Therapie_spastisches_Syndrom_2019-06-verlaengert.pdf (10.10.2021). 2 AWMF-Leitlinie Diagnose und Therapie der Multiplen
Sklerose, Neuromyelitis Optica Spektrum und
MOG-IgG-assoziierte Erkrankungen - Living Guideline. awmf.org/leitlinien/detail/ll/030-050LG.html (10.10.2021). 3 Mücke et al., Cannabis-based medicines for neuropathic pain in adults. Cochrane database of systematic reviews 2018; 3: CD012182. 4 Schlereth, Guideline „diagnosis and non-interventional therapy of neuropathic pain“ of the German Society of Neurology. Neurol Res Practice 2020. dgn.org/ leitlinien/ll-030-114-diagnose-und-nicht-interventionelle-therapie-neuropathischer-schmerzen-2019/ 5 Fitzcharles et al., Efficacy, tolerability and safety of cannabinoid treatments in rheumatic diseases: A systematic review of randomized controlled trials.
Arthritis Care Res 2016; 68(5): 681-688. 6 Montero-Oleas et al., Therapeutic use of cannabis and cannabinoids: evidence mapping and appraisal of systematic reviews. BMC Complementary Med Ther. 2020. doi.org/10.1186/s12906-0192803-2 (10.10.2021). 7 Casarett et al., Benefit of Delta-9 Tetrahydrocannabinol vs. Cannabidiol for common palliative care symptoms. J Palliative Medicine 2019; 22(10): 1180-1184. 8 Häuser et al., European Pain Federation (EFIC) position paper on appropriate use of cannabis-based medicines and medical cannabis for chronic pain management. Eur J Pain 2018; 00:1-19. 9 Häuser et al., Cannabinoids in pain management and palliative medicine. Deutsches Ärzteblatt International 2017; 114:627-634. 10 Schuler und Sabatowski, Cannabinoideinsatz in der Schmerz- und Palliativmedizin: Fakten und Mythen. Ärzteblatt Sachsen 2018; 8: 354-356. 11 Rolke, Stellenwert cannabisbasierter Wirkstoffe in der Palliativmedizin CME-Fortbildung. Palliativmedizin 2021; 35(5). springermedizin.de/palliativmedizin/cannabinoide/ stellenwert-cannabisbasierter-wirkstoffein-der-palliativmedizin/19545076 (10.10.2021). 12 Mücke et al., Systematic review and metaanalysis of cannabinoids in palliative medicine. J cachexia sarcopenia muscle 2018; 9:220-234.