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Behutsamer Weg zur Diagnose Demenz
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Hausärzte können früh Impulse geben und vernetzen
Immer wieder wird der Mythos postuliert, dass es ohnehin keine adäquaten Behandlungsmöglichkeiten bei Vorliegen einer Demenz gebe – weswegen Hausärzte mitunter davor zurückschrecken, die Diagnose zu stellen.1 In der allgemeinmedizinischen Praxis bleibt zwar oft wenig Zeit für eine eingehende Abklärung, jedoch können Allgemeinmediziner viel zur optimalen Versorgung von Menschen mit Demenz und deren Familien beitragen. „Einerseits können Hausärzte im Rahmen der Diagnostik andere Erkrankungen identifizieren, die behandelt werden können (siehe Infobox 1). Andererseits wird der Verlauf einer Demenzerkrankung positiv beeinflusst, wenn die medikamentöse Therapie frühzeitig einsetzt und sowohl die Betroffenen als auch die Angehörigen psychoedukativ und psychotherapeutisch betreut werden“ , unterstreicht Prim. Dr. Christian Jagsch, Leiter der Abteilung für Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie, LKH Graz II. Hinzu komme noch der ethische Aspekt, dass ein Patient das Recht habe, zu erfahren, ob er erkrankt sei – und sich entsprechend auf seine Zukunft vorbereiten könne. „Am Anfang der Erkrankung können viele Angelegenheiten noch gut geregelt werden, etwa Patientenverfügung oder Testament, die bei einer weiter fortgeschrittenen Demenz schwierig handzuhaben wären“ , so der Experte.
Experte zum Thema: Prim. Dr. Christian Jagsch
Leiter der Abteilung für Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie, LKH Graz II, Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Alterspsychiatrie und Alterspsychotherapie (ÖGAPP)
Gesundenuntersuchung als Gesprächsanlass
Meist falle den Betroffenen und den Angehörigen selbst bereits auf, dass die kognitiven Fähigkeiten nachließen. „Leider denken immer noch viele Ärzte, dass ein alter Mensch ruhig schon ein bisschen vergesslich sein dürfe. Aber: Es ist nicht normal, wenn Patienten eine verstärkte Vergesslichkeit zeigen“ , betont Dr. Jagsch. Es gebe zwar eine leichte Vergesslichkeit im Alter, aber diese würde bei einem Besuch in der Ordination nicht auffallen. „Ein guter Trick, den wir Hausärzten gerne empfehlen, ist, im Rahmen der Gesundenuntersuchung eine kurze Überprüfung der kognitiven Fähigkeiten vorzunehmen. So kann man mit dem Patienten ins Gespräch kommen und eine weitere Abklärung einleiten. “ Hierbei sei ein sensibles Vorgehen vonnöten. „Wichtig ist außerdem, dass die Hausärzte sehr gut vernetzt sind: So können sie Betroffene dabei unterstützen, einen niedergelassenen Facharzt oder eine Spezialambulanz zu finden oder auch die Leistungen von Psycho-, Physio-, Ergotherapeuten, klinischen oder Neuropsychologen in Anspruch zu nehmen“ , macht Dr. Jagsch aufmerksam. Den Angehörigen sollte zudem eine Selbsthilfegruppe empfohlen werden. Weil durch eine Demenzerkrankung eine große Last auf den Schultern der Familie liegt, sollte in der allgemeinmedizinischen Praxis auch speziell auf das Wohlbefinden dieser Personengruppe geachtet werden.2 „Das wären mögliche Aufgaben, die Hausärzte gut übernehmen könnten.“
„Ein gutes Vorgehen ist, im Rahmen der Gesundenuntersuchung eine kurze Überprüfung der kognitiven Fähigkeiten vorzunehmen. Es haben sich der Uhren-Test oder der 3-Wörter-Uhren-Test bewährt.“ X Infobox 1: Mögliche Differentialdia-
gnosen bei Vergesslichkeit
Psychiatrische: u. a. Depression, Delir, psychotische Erkrankungen. Neurologische: u. a. Schlaganfall, zerebrale Blutung, entzündliche Erkrankungen des Gehirns, Morbus Parkinson, Schädel-
Hirn-Traumata. Internistische: u. a. metabolische und endokrinologische Störungen, Schilddrüsenerkrankungen, Vitaminmangel,
Mangelernährung. Weitere: u. a. Stress und Belastung, Medikamente, Drogen.
Differentialdiagnosen ausschließen
Geht man von Vergesslichkeit als einem der Hauptsymptome einer Demenz aus, gibt es viele Differentialdiagnosen, die es auszuschließen gilt. Psychiatrische, neurologische und internistische, aber
z. B. auch bestimmte Medikamente können hierbei eine Rolle spielen (siehe Infobox 1). „All diese möglichen Syndrome muss man abklären bzw. ausschließen“ , erinnert Dr. Jagsch. Bezüglich jener Medikamente, die eine Demenz imitieren können, erklärt er: „Ein häufiger Verursacher einer kognitiven Beeinträchtigung sind Benzodiazepine – es gibt viele Menschen, die leider davon abhängig sind. “ Daneben können bspw. Opiate oder verschiedene Antibiotika delirogen wirken. Laut Leitlinie sind zudem eine Hyponatriämie sowie eine laufende Medikation mit Substanzen wie Amitriptylin, Oxybutynin, Scopolamin und Tiotropium eine häufige Ursache für kognitive Störungen, die sich in der Hausarzt-Praxis manifestieren.2 Die diagnostischen Kriterien für die Demenz sind in der Infobox 2 zusammengefasst. „Die Diagnostik gestaltet sich leider manchmal herausfordernd, weil durch Laboruntersuchungen und Bildgebung viele Wege anfallen, die für ältere Menschen mitunter nur schwer zu bewältigen sind“ , berichtet der Experte aus der Praxis.
Multimodale Therapie hilfreich
Je früher die Diagnose (Alzheimer-) Demenz gestellt werden kann, desto mehr Therapiemöglichkeiten stehen zur Verfügung. „Im Frühstadium eignen sich Acetylcholinesterasehemmer oder Ginkgo biloba zur Behandlung, im weiteren Krankheitsverlauf kann auch Memantin eingesetzt werden“ , erklärt Dr. Jagsch. „Parallel dazu ist es ganz wichtig, seinen Lebensrhythmus beizubehalten und körperlich sowie kognitiv zu trainieren – angepasst daran, welche Fähigkeiten noch erhalten sind.“ Wird ein Antidementivum verordnet, sollte die Gelegenheit genutzt werden, um die bestehende Medikation zu überprüfen, weil Interaktionen und Nebenwirkungen dadurch vermieden werden können. „Beispielsweise kann es bei Patienten mit bestehenden Herzrhythmusstörungen zu einer Bradykardie kommen, wenn ein Antidementivum verabreicht wird“ , warnt der Experte. „Man muss genau überlegen, was die Gabe eines Antidementivums bewirken könnte, und es macht oft Sinn, auf das Phytopharmakon Ginkgo biloba zurückzugreifen, weil es dadurch seltener zu Interaktionen mit anderen Medikamenten kommt.“
Komorbide Angst erkennen
Ebenso müssen Komorbiditäten bei der Behandlung der Demenz berücksichtigt werden. Einerseits entstehen diese oftmals, wenn Patienten von ihrer Diagnose erfahren und sich Sorgen um die Zukunft machen. „In diesem Zusammenhang spielen das ärztliche Gespräch, Psychoedukation und Psychotherapie eine große Rolle“ , hebt Dr. Jagsch hervor. Andererseits können Ängste als psychologisches Begleitsymptom der Demenz auftreten: Bis zu 20 % der Betroffenen leiden unter Angststörungen. Jene treten damit ähnlich häufig in Kombination mit einer Demenz auf wie Depression, Schlafstörungen und Aggression. Am weitesten verbreitet ist die generalisierte Angststörung, die sich nicht nur durch anhaltende Angst, sondern u. a. auch durch Unruhe, Reizbarkeit, flache und schnelle Atmung oder Atemnot sowie durch eine körperliche Anspannung äußert.3 „Bei mittelschweren bis schweren Demenzerkrankungen sehen wir oft, dass Ängste, welche die Patienten zuvor gut unter Kontrolle hatten, wieder in den Vordergrund treten“ , so der Experte. „Medikamentöse Therapien mit Phytopharmaka oder Antidepressiva sind hilfreich – oder auch vorübergehend Benzodiazepine in geringer Dosierung, wenn es zu massiven Angstzuständen kommt.“ Randomisierte, kontrollierte Studien im Bereich der Phytotherapie zeigen deren Verträglichkeit auch bei älteren Patienten: Kasper berichtet vom Einsatz von Lavendelöl, Johanniskrautextrakt und Ginkgo-biloba-Extrakt in den jeweiligen Indikationen Angststörungen, Depression und Demenz bei Patienten über 60 Jahre. Der Autor stellte anhand von vier Studien die Effektivität der pflanzlichen Wirkstoffe in der genannten Altersgruppe fest und unterstreicht, dass es sich bei den Phytotherapeutika um gut verträgliche Alternativen zu synthetischen Arzneimitteln handele.4 Auch den Angehörigen kommt bei Ängsten eine bedeutende Rolle zu: „Verhaltensstörungen im Rahmen der Demenz können der Interaktion zwischen den betreuenden Angehörigen und den Betroffenen geschuldet sein“ , berichtet Dr. Jagsch. So sei es möglich, dass Unsicherheiten und Unklarheiten in der Familie im Umgang mit dem Erkrankten bei diesem Angst verursachten. „Diesbezüglich macht es Sinn, die Angehörigen zu beraten oder im Rahmen einer Selbsthilfegruppe zu schulen, wie sie mit den verschiedenen Verhaltensstörungen umgehen sollen. Denn wir wissen aus Studien, dass die Angst bei den Angehörigen und den DemenzPatienten deutlich weniger wird, wenn sie gut betreut sind.“
X Infobox 2: Diagnostische Kriterien für
eine Demenz
Vorliegen von kognitiven oder verhaltensbezogenen Symptomen, die … 1. … das Funktionieren bei alltäglichen
Tätigkeiten beeinträchtigen, 2. … im Vergleich zum vorherigen Zustand eine Verschlechterung darstellen, 3. … nicht durch eine psychische Erkrankung oder ein Delir erklärbar sind. 4. Die Diagnostik erfolgt durch die Kombination von Eigen- und Fremdanamnese sowie der objektiven Bewertung der kognitiven Leistung durch eine kognitive
Testung/klinisch-kognitive Untersuchung (oder neuropsychologische Testung). 5. Mindestens zwei der folgenden Bereiche müssen beeinträchtigt sein: Gedächtnisfunktionen, Verstehen und Durchführen komplexer Aufgaben, Urteilsfähigkeit, räumlich-visuelle Funktionen, Sprachfunktionen, Verhalten/Persönlichkeit.
Quelle: Adaptiert nach: NIA-AA-Kriterien für die allgemeine Demenz (McKhann et al., 2011)
Mag.a Marie-Thérèse Fleischer, BSc
Quellen: 1 Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und
Familienmedizin (DEGAM), Demenz – DEGAM-Leitlinie
Nr. 12, Stand: 2008. 2 Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) & Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) (Hrsg.),
S3-Leitlinie „Demenzen“, Stand: 01/2016. 3 Franken G, Heilberufe / Das Pflegemagazin 2018; 70(9): 28-32. 4 Kasper S, Wien Med Wochenschr 2015 Jun; 165(1112): 217-28.