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Schwellungen ohne Allergiebeteiligung
Beim hereditären Angioödem zeigen Antihistaminika und Co keine Wirkung
Das hereditäre Angioödem (HAE) ist – bis auf den sehr seltenen Typ III – durch einen C1-Inhibitor-Mangel charakterisiert. Anders als bei etwa 80 % der Angioödeme, die durch Histamin vermittelt werden, führt beim HAE der vasoaktive Botenstoff Bradykinin zur Schwellung des Gewebes. Die Ödemattacken verlaufen rezidivierend. Betroffene Familien zu identifizieren und über die Erkrankung aufzuklären, hat einen großen Stellenwert, da Patienten Notfallmedikamente einlagern müssen. V. a. bei Larynxödemen besteht akuter Handlungsbedarf.1,2 Leider dauert es häufig lange, bis Betroffene die richtige Diagnose erhalten, weil insbesondere die Magen-DarmSymptomatik sehr unspezifisch ist. Durch eine eingehende Anamnese können Hausärzte dazu beitragen, zwischen histamin- und bradykininvermittelten Angioödemen zu unterscheiden. Das ist insofern wichtig, als beim HAE andere Präparate für die Behandlung eingesetzt werden müssen und Todesfällen durch Ersticken nur so vorgebeugt werden kann.3
In der Regel keine Urtikaria
Werden die Ödeme durch den Botenstoff Histamin ausgelöst, entstehen in vielen Fällen jene juckenden Quaddeln, die für die Urtikaria typisch sind. Für ein HAE ist das jedoch ungewöhnlich und kann neben anderen anamnestischen Faktoren (siehe Tabelle) den Verdacht auf eine Vermittlung durch Bradykinin erhärten. Zudem zeigt eine probatorische Therapie mit Antihistaminika und Glukokortikoiden beim HAE keine Wirkung. Die Ödeme können bis zu einer Woche lang bestehen bleiben.1 Den rezidivierenden Attacken gehen manchmal Prodromi wie Abgeschla-
X Tabelle: Unterscheidung zwischen der Vermittlung durch Histamin und
jener durch Bradykinin1
Histaminvermittelte Angioödeme Bradykininvermittelte Angioödeme
Anamnese
Ödeme
Urtikaria
Ansprechen auf Antihistaminika und Glukokortikoide
Negative Familienanamnese; Angioödem tritt oft einmalig und ohne GI-Beschwerden auf
Positive Familienanamnese; rezidivierende Symptomatik, Manifestation im 1. oder 2. Lebensjahrzehnt, GI-Beschwerden möglich Meist im Gesicht Meist im GI-Trakt oder an den Extremitäten
Häufig In der Regel nicht
Ja Nein
genheit, Durstgefühl, depressive Verstimmung, Aggressivität und ein Erythema marginatum voraus. Etwa 50 % der Betroffenen berichten von solchen Prodromi. Ödemattacken treten hauptsächlich in folgenden Körperregionen auf:1,2 • Haut: Schwellungen an Extremitäten, im Gesicht und an den Genitalien; selten mit Juckreiz, häufig mit
Spannungsgefühl, gelegentlich mit
Schmerzen. • Magen-Darm-Trakt: starke, krampfartige Bauchschmerzen, Übelkeit, wässriger Durchfall, manchmal begleitender Aszites. • Larynx-/Pharynx: Ödeme, die ca. 1 % der Fälle ausmachen; mitunter nach
Zahnoperationen oder Tonsillektomie (siehe Infobox 1); können zur Erstickung führen. Weitere betroffene Regionen stellen in seltenen Fällen Hypo- oder Oropharynx, Zunge, ableitende Harnwege oder andere Organe dar. Zu beachten ist, dass die Magen-Darm-Attacken bei manchen Patienten auch ohne Hautsymptome auftreten, weswegen sie leicht mit einem akuten Abdomen oder einer Appendizitis verwechselt werden können.2

Notfälle identifizieren
Patienten, die Larynx- oder Pharynxödeme aufweisen, müssen als Notfall behandelt werden. Wenn eine hochgradige Dyspnoe vorliegt, besteht akute Lebensgefahr. Ärzte sollten bei Ödemen im Kopf-Hals-Bereich sicherstellen, dass die Atemwege frei sind, Sauerstoff verabreichen und den Oberkörper hochlagern. Eine frühzeitige Intubation ist bei inspiratorischem Stridor, zunehmender Schwellung trotz passender Therapie und sinkender Sauerstoffsättigung einzuleiten. Danach sollten die behandelnden Mediziner eine stationäre Aufnahme und Überwachung der Patienten veranlassen.1 Treten wässrige Diarrhöen in Kombination mit einem Aszites auf, kann der daraus resultierende Flüssigkeitsverlust eine Hämokonzentration mit Kreislaufsymptomen bis hin zum Schock hervorrufen.2 Die Hypovolämie lässt sich mit einer Infusionstherapie verhindern.1
Laborwerte zur Klassifikation
Im Rahmen der Labordiagnostik werden bei Verdacht auf ein HAE drei Parameter erhoben:2 • C1-Inhibitor-Aktivität, • C1-Inhibitor-Konzentration, • C4-Konzentration. Die Ergebnisse helfen dabei, Typ I (85 %) von dem selteneren Typ II zu unterscheiden. Liegt Typ I vor, betragen die Werte weniger als 50 % des Referenzwerts – lediglich C4 kann sich in Einzelfällen im Referenzbereich befinden. Bei Typ II sind die C4-Konzentration sowie die Aktivität des C1-Inhibitors verringert, während die Konzentration des C1-Inhibitors normal oder sogar erhöht erscheint.1,2 Da die Werte in den ersten Monaten nach der Geburt noch stark schwanken können, sind die genannten Parameter erst nach dem zwölften Lebensmonat aussagekräftig. Trotz eingeschränkter Zuverlässigkeit können sie bereits davor diagnostische Hinweise geben.2 Sind die klinischen Symptome und die Laboruntersuchungen eindeutig, ist der genetische Nachweis einer Mutation nicht notwendig. Erbracht werden sollte er jedoch bei widersprüchlichen Ergebnissen, etwa zwischen C1-Inhibitor-Aktivität und klinischem Erscheinungsbild.2
Von Akuttherapie bis Langzeitprophylaxe
Das Behandlungsziel besteht darin, on demand eine wirksame Therapie bereitzuhalten, aber auch Ödemattacken generell vorzubeugen. Zur akuten Therapie von Ödemattacken im Rahmen eines HAE des Typs I und II eignet sich ein Konzentrat, das die Kallikrein-KininKaskade korrigiert, welche durch den C1-Inhibitor-Mangel gestört ist. Unabhängig vom Schweregrad der Schwellungen tritt eine Linderung der Symptome etwa 30 Minuten nach der Injektion des Präparates ein. Das Sicherheitsprofil der C1-Inhibitor-Konzentrate ist sehr günstig. Allerdings sollten Hausärzte – wie bei allen Patienten, welche Plasmapräparate erhalten – auf eine ausreichende Hepatitis-B-Immunisierung achten. Eine Kurzzeitprophylaxe sollte vor (zahn-)medizinischen Eingriffen erwogen werden, eine Dauerprophylaxe insbesondere bei mehr als zwölf schweren Attacken pro Jahr bzw. einer HAE-Symptomatik an mehr als 24 Tagen pro Jahr.1,2 Neben den C1-Inhibitor-Konzentraten gibt es die Therapiemöglichkeit mittels eines Bradykinin-B2-Rezeptorantagonisten bzw. eines gefrorenen Frischplasmas, wobei Letzteres nur dann eingesetzt werden sollte, wenn keines der anderen Präparate verfügbar ist. Patienten sind in jedem Fall in der Heimselbstbehandlung zu schulen, zudem müssen Ärzte sie daran erinnern, einen Notfallausweis sowie Dosen des verordneten Präparates zur Selbstadministration mitzuführen.1,2
X Infobox 1: Mögliche Triggerfaktoren
für Attacken2
Zwar treten die meisten Ödemattacken spontan und ohne einen ersichtlichen Auslöser auf, jedoch konnten auch einige mögliche Triggerfaktoren identifiziert werden:
Traumen – u. a. Stöße, Druck, Zahnoperationen, Tonsillektomie, Intubation, psychische Stresssituationen, grippale Infekte und Erkältungskrankheiten, Menstruation oder Ovulation, Östrogene in Form von Kontrazeptiva oder einer Hormonersatztherapie, Einnahme von ACE-Hemmern oder
Sartanen. Cave: Bei Operationen treten die Ödemattacken vier bis 36 Stunden nach dem Eingriff (im Schnitt: 14 Stunden danach) auf!
Mag.a Marie-Thérèse Fleischer, BSc
Quellen: 1 AMBOSS, Angioödem, Stand: 08/2020. 2 Bork K et al., Leitlinie: Hereditäres Angioödem durch
C1-Inhibitor-Mangel, Allergo J Int 2019; 28: 16-29. 3 Hahn J et al., Dtsch Arztebl Int 2017; 114: 489-96.
X Infobox 2: Information für Patienten
Patienten haben die Möglichkeit, sich auf zwei Portalen mit Österreichfokus über ihre Erkrankung zu informieren:
Österreichische Selbsthilfegruppe für HAE:
www.hae-austria.at Infoportal HAE: www.hae-erkennen.at
FCS: Triglyzeridspiegel deutlich erhöht
Das Familiäre Chylomikronämie-Syndrom (FCS) bedingt eine strenge Ernährungsweise

In Österreich sind etwa 20 bis 30 Personen von der seltenen angeborenen Fettstoffwechselstörung FCS betroffen, die mit stark erhöhten Triglyzeridkonzentrationen im Plasma einhergeht. Menschen mit FCS weisen neben der damit verbundenen Chylomikronämie meist eine der folgenden Problematiken auf: rezidivierende Pankreatitis, Hepatosplenomegalie, Lipaemia retinalis oder eruptive Xanthome.
Auffällige Blutwerte
Die autosomal-rezessive Störung wird meist durch Mutationen in der Lipoproteinlipase verursacht und führt zur Akkumulation von Chylomikronen im Plasma und damit zur Hypertriglyzeridämie.1 Die Chylomikronen bzw. großen Lipoproteine, die der Darm während der Nahrungsfettaufnahme bildet, zeichnen für die extrem hohen Triglyzeridwerte verantwortlich, wie Prof. Dr. Thomas Stulnig, Facharzt für Innere Medizin sowie Experte für Stoffwechsel und Hormone, erläutert: „Wer unter FCS leidet, weist eine bis zu hundertfach erhöhte Triglyzeridkonzentration im Plasma auf. Der Referenzwert liegt bei 150 mg/dl. Bei diesen Patienten beträgt der Wert nicht selten schon im Kindesalter > 1.000 mg/dl und sinkt praktisch nie unter 200 mg/dl. “ Das mache Betroffene stark anfällig für eine rezidivierende akute Pankreatitis, eine schwerwiegende Komplikation, die mit erhöhten Triglyzeriden einhergehe. „Wenn die Patienten sich immer in einem deutlich erhöhten Bereich befinden und andere Faktoren ausgeschlossen werden können, sollten Hausärzte an eine erbliche Stoffwechselstörung denken. “ Auffällig ist ein milchiges Serum, auf dem sich nach einer Nacht im Kühlschrank eine aus Chylomikronen bestehende Rahmschicht bildet. Patienten berichten von Bauchschmerzen und viele sind, wie bereits erwähnt, von rezidivierenden Pankreatitiden betroffen. Zu den sekundären Faktoren, die ausgeschlossen werden müssen, zählen u. a. Alkoholmissbrauch und ein entgleister Diabetes. Auch eine medikamentenassoziierte Hypertriglyzeridämie sollte ausgeschlossen werden.1
Experte zum Thema: Prof. Dr. Thomas Stulnig
Vorstand der 3. Med. Abt. und Karl Landsteiner Institut für Stoffwechselkrankheiten und Nephrologie, Klinik Hietzing, Wiener Gesundheitsverbund „Wer unter FCS leidet, weist eine bis zu hundertfach erhöhte Triglyzeridkonzentration im Plasma auf.“
Compliance erforderlich
Da das Risiko, eine Pankreatitis zu entwickeln, mit der Höhe des Triglyzeridspiegels korreliert, steigt dieses bei Spiegeln von über 2.000 mg/dl kontinuierlich. Akute abdominelle Schmerzattacken, die eine Hospitalisierung erfordern können, sind die Folge. „Die Lebensqualität der Patienten leidet enorm darunter“ , so Prof. Stulnig. „Deshalb ist eine möglichst frühe genetische Abklärung unabdingbar. Diese sollte an einer spezialisierten Abteilung erfolgen. “ Ist die Diagnose eindeutig gestellt, setzt ein gutes Leben mit FCS eine Lebensstilmodifikation voraus, wie Prof. Stulnig darlegt: „Über eine fettarme Ernährung allein lässt sich die Erkrankung nicht immer zufriedenstellend managen. Betroffene dürfen
nur 10-15 % des täglichen Energiebedarfs bzw. 15-20 g Fett pro Tag zu sich nehmen. “ Die lebenslange fettarme Ernährung gilt als Eckpfeiler der Therapie von FCS.2 Jene sollte idealerweise zu 50 % aus Triglyzeriden mit mittelkettigen Fettsäuren, den sogenannten MCT-Fetten, bestehen, da diese für einen geringeren Anstieg der Triglyzeride im Blut sorgen. Sie gelangen zumeist direkt über die Pfortader in die Leber und werden nicht in Form von Chylomikronen über den Ductus thoracicus in die Blutbahn transportiert. Des Weiteren sollten Erkrankte Alkohol meiden. Eine FCS-assoziierte Ernährung bedarf nicht nur der Disziplin und Mitarbeit von Patienten, sondern sollte auch mit der Unterstützung von Ernährungsberatern geplant werden.
Pharmakologisch entgegenwirken
2019 wurde mit Volanesorsen ein Medikament zur Behandlung einer ausgeprägten Hypertriglyzeridämie zugelassen. Prof. Stulnig führt aus: „Dabei handelt es sich um ein Antisense-Oligonukleotid, das zur Therapie von FCS-Patienten mit hohem Pankreatitis-Risiko zugelassen ist. Der Wirkstoff bindet selektiv an die ApoC-III-mRNA und erzielt dadurch einen Abbau derselben, was die Synthese des Proteins ApoC-III verhindert. Auf diese Weise kann der Körper Triglyzeride über LPL-unabhängige Reaktionswege abbauen. “ Weil Pankreatitiden bei Menschen mit FCS häufiger vorkämen als bei Patienten, die lediglich unter hohen Triglyzeridwerten litten, stelle neben der speziellen Ernährungsform die sehr wirksame medikamentöse Behandlung eine wichtige Säule der Therapie von FCS dar. „Das Präparat kann Bauchspeicheldrüsenentzündungen verhindern. Da Betroffene außerdem an Konzentrationsstörungen (dem sogenannten „brain fog) leiden, die mit den sehr hohen Blutfettwerten zusammenhängen, ist das Medikament für die Patienten auch in dieser Hinsicht ein Segen. Eine belastende Diät, Bauchschmerzen, die entzündete Bauchspeicheldrüse sowie Störungen der Konzentration – all das kann die Psyche massiv beeinträchtigen. “
Fazit
Der Experte plädiert dafür, bei Patienten mit hohen Triglyzeridspiegeln ganz genau hinzuschauen, da manche Erkrankte erst als Erwachsene oder im Rahmen einer Schwangerschaft und der damit einhergehenden Untersuchungen entdeckt werden. Patienten mit persistierenden Triglyzeridspiegeln von über 1.000 mg/dl, die therapieresistent seien und keine Sekundärursachen zeigten, sollten unbedingt an ein Expertenzentrum überwiesen werden.
Mag.a Sonja Streit
Literatur: 1 Falko JM., Familial Chylomicronemia Syndrome: A Clinical Guide For Endocrinologists. Endocr Pract. 2018 Aug;24(8):756-763. 2 Baass et al., Familial chylomicronemia syndrome: an under-recognized cause of severe hypertriglyceridaemia. J Intern Med. 2020 Apr;287(4):340-348.