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Eine Nervenbeteili gung ist häufig“

„Eine Nervenbeteiligung ist häufig“

Viele Rückenschmerzpatient:innen sind von Mixed Pain betroffen – mit einem nozizeptiven und einem neuropathischen Anteil

Dr.in Waltraud Stromer, OÄ an der Abteilung für Anästhesie und Allgemeine Intensivmedizin am Landesklinikum Waldviertel Horn und Präsidentin der Österreichischen Schmerzgesellschaft, im Gespräch.

Rückenschmerzen sind in Österreich und in vergleichbaren westlichen Industrienationen weit verbreitet. Bei einer Lebenszeitprävalenz von über 70 Prozent und einer Jahresprävalenz von 15 bis 45 Prozent ist nahezu jeder Mensch im Laufe des Lebens irgendwann davon betroffen. In 72 Prozent der Fälle werden niedergelassene Ärztinnen und Ärzten bei Rückenschmerzen zuerst aufgesucht. OÄ Dr.in Waltraud Stromer, Präsidentin der Österreichischen Schmerzgesellschaft, erklärt, welche diagnostische und therapeutische Vorgehensweise unspezifische Rückenschmerzen erfordern, und zeigt Wege der Analgesie bei Mixed Pain auf, wenn es sich um spezifische Rückenschmerzen handelt.

HAUSÄRZT:IN: Der überwiegende Anteil von Rückenschmerzen ist unspezifisch. Welche Botschaft haben Sie an niedergelassene Mediziner:innen in diesem Kontext?

OÄ STROMER: Der Versorgung auf Ebene der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte kommt eine wesentliche Bedeutung zu – hier sollte eine Differenzierung zwischen spezifischen und nicht spezifischen Rückenschmerzen erfolgen. Die Prävalenz nicht spezifischer Rückenschmerzen beträgt etwa 80 Prozent: Den Schmerzen liegt keine gravierende Pathologie zugrunde. Die Behandlung des akuten unspezifischen Rückenschmerzes erfolgt mit Analgetika, damit die Patienten in Bewegung bleiben – Bettruhe sollte vermieden werden. Physiotherapie, Psychotherapie sind erforderliche Behandlungen, um die Funktionalität, Arbeits- und Sportfähigkeit wie auch Schlaf- und Lebensqualität so rasch als möglich wiederherzustellen.

Was ist konkret zu beachten?

Diese Formen von Rückenschmerzen weisen ein hohes Chronifizierungspotenzial auf. Neben den psychosozialen Risikofaktoren (Yellow Flags) können arbeitsplatzbezogene Faktoren (Blue and Black Flags) sowohl die Fortdauer als auch die weitere Prognose von Rückenschmerzen beeinflussen. Hausärztinnen und Hausärzte haben eine Schlüsselrolle, was Aufklärung („Hinter den Schmerzen steckt nichts Gravierendes … “) und Edukation im Sinne einer Anleitung zur Lebensstilmodifikation anbelangt. Falsch wäre es, passive Therapiekonzepte zu forcieren – etwa in Form von übertrieben langen Krankschreibungen. Die betroffenen Personen sollten vielmehr aktiv bleiben. Bei unspezifischen Rückenschmerzen ist außerdem nur dann eine Bildgebung zu machen, wenn trotz leitliniengerechter Therapie nach vier bis sechs Wochen keine Besserung zu erkennen ist. Eine Überbewertung von radiologischen Befunden führt bei Patientinnen und Patienten schnell zu einer Verfestigung der Symptomatik.

Was sind Mittel der Wahl, wenn Verspannungen oder Wirbelgelenkblockierungen Rückenschmerzen verursachen? Beschwerden, die aus Fehlhaltungen oder Verspannungen der Muskulatur resultieren, sind Nozizeptorschmerzen. Sie sind lokal begrenzt, ziehend, drückend oder stechend. Sofern keine relativen oder absoluten Kontraindikationen bestehen, sind bei nozizeptiven Schmerzen NSAR indiziert – in möglichst geringer, aber effektiver Dosis für die kürzeste notwendige Zeit. Zu berücksichtigen ist deren Organtoxizität, sowohl renal-gastrointestinal als auch kardiovaskulär. Man kann aber auch Metamizol geben, ein zentrales Nichtopioidanalgetikum mit geringem Inter-

IM VERGLEICH

Nozizeptiver Schmerz

Neuropathischer Schmerz Pathophysiologie Schmerzcharakter

Der nozizeptive Schmerz beruht auf einer Aktivierung von Schmerzrezeptoren in Gelenken, Muskeln, Faszien, Bändern und Sehnen. Ursachen dafür können Gewebeschädigung, -entzündung oder biomechanische Überlastung sein. „ dumpf, „ dückend, „ ziehend

Dem neuropathischen Schmerz liegt eine Dysfunktion bzw. Läsion von somatosensorischen Nervenstrukturen zugrunde. Der Schmerzimpuls geht nicht von den Nervenendigungen aus, sondern er wird aus dem geschädigten Nervenareal generiert. Der Schmerz wird jedoch in das Versorgungsgebiet der Nerven projiziert („projizierter Schmerz“). „ spontane Schmerzen, die ohne

Stimulus auftreten, „ einschießend, elektrisierend, „ attackenweise auftretend, „ als Dauerschmerz brennend, „ kribbelnd, „ krampfartig

aktions- und Nebenwirkungspotenzial. Wenn der Schmerz stärker ausgeprägt ist, kann unter kontrollierten Bedingungen der Einsatz eines schwach oder stark wirkenden Opioids erwogen werden.

Welche klinischen Hinweise lassen auf eine Nervenbeteiligung schließen?

Eine Abgrenzung zum spezifischen Rückenschmerz ist essenziell. Red Flags weisen auf mögliche zugrundeliegende (schwerwiegende) Erkrankungen hin – zum Beispiel auf entzündliche und/oder neurologische Pathologien. Warnhinweise können sich unter anderem aus dem Alter der Betroffenen (< 20 Jahre bzw. > 55 Jahre) und aus der Schmerzqualität erschließen. Neuropathische Schmerzen können aus einer Reihe von Krankheiten oder Verletzungen entstehen. So kann ein irritierter bzw. verletzter Nerv im Rücken beispielsweise Schmerzen verursachen, die ins Bein ausstrahlen. Patientinnen und Patienten beschreiben Nervenschmerzen meist als einschießend, elektrisierend, brennend und kribbelnd. Typische Diagnosen mit neuropathischen Schmerzkomponenten sind ein Wirbelkörpereinbruch bei Osteoporose oder ein Bandscheibenvorfall, der auf eine Nervenstruktur drückt. Bei der Spinalkanalstenose oder bei einer Einengung der Neuroforamina mit austretendem Nerv sind ebenfalls sowohl nozizeptive als auch neuropathische Komponenten am Schmerzgeschehen beteiligt – es liegt Mixed Pain vor. Red Flags erfordern ein umgehendes Handeln — unter anderem eine radiologische Abklärung und eine spezifische Therapie.

Welche pharmakologischen Interventionsmöglichkeiten gibt es bei Mixed Pain?

Bei vielen Patientinnen und Patienten liegen gemischte Schmerzen – Mixed Pain – mit einem nozizeptiven und einem neuropathischen Anteil vor. Das muss bei der analgetischen Therapie entsprechend berücksichtigt werden. First-LineMedikamente zur Behandlung von Nervenschmerzen sind Antikonvulsiva wie Gabapentin bzw. Pregabalin, selektive Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer wie Duloxetin und trizyklische Antidepressiva wie Amitriptylin. Von der Behandlung mit Amitriptylin ausgenommen sind Patientinnen und Patienten über 65 Jahre aufgrund der kardialen Nebenwirkungen. Invasive Behandlungsformen, z. B. Nervenwurzelinfiltrationen, oder operative Interventionen können nach entsprechender Abklärung ebenfalls indiziert sein. Begleitend dazu sind immer auch konventionelle Therapien in Form von Physiotherapie und Psychotherapie anzustreben.

Das Interview führte Mag.a Sylvia Neubauer.

INFO

Screening-Tools und Leitlinien

„ Start-back-Screening-Tool: Damit lässt sich innerhalb von fünf

Minuten eruieren, ob die Betroffenen ein niedriges, mittleres oder hohes Chronifizierungsrisiko haben; „ Leitlinie unspezifischer Kreuzschmerz/2018; „ Qualitätsstandard unspezifischer Rückenschmerzen/April 2020.

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