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Neue Strategien für ein altes Problem

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Österreich ist das Schlusslicht bei der Hypertoniekontrolle in Europa – mit Projekten wie der Friseurinitiative Ottakring könnte ein deutlicher Shift in Richtung optimaler Therapie gelingen

SerieKARDIO

Hypertonie ist einer der wichtigsten kardiovaskulären Risikofaktoren. Die durchschnittlichen Blutdruckwerte liegen in Österreich deutlich über dem Zielwert. In der EURIKA-Studie1 aus dem Jahr 2010 erreichten nur 36 % der Patienten das Therapieziel.2 Seit mehr als zehn Jahren ist diese Zahl bedauerlicherweise nicht mehr signifikant gestiegen. Bei einer Erhebung im Jahr 2015 gemeinsam mit niederösterreichischen Apotheken konnte anhand von Blutdruckmessungen bei 4.303 Patienten gezeigt werden, dass nur 41 % von den diagnostizierten, therapierten und adhärenten Patienten das Blutdruckziel erreichten.2 Österreich ist bei der Hypertoniekontrolle das Schlusslicht in Europa. Obwohl eine Vielzahl von effizienten antihypertensiven Medikamenten am europäischen Markt zur Verfügung steht und diese ohne ökonomische Barrieren zugänglich sind, bleibt die Einstellung des Blutdrucks in der Bevölkerung mangelhaft. Auch global stellt die suffiziente medikamentöse Einstellung eine große Herausforderung dar.

Internationale Herangehensweisen

Kanada ist weltweit einer der Vorreiterstaaten, was das Hypertonie-Screening betrifft. Mit der Etablierung eines nationalen „disease management program“ (DMP), dem „Canadian Hypertension Education Program“ (CHEP), wurde eine 106%ige Zunahme von Antihypertensiva-Verordnungen zwischen 1996 und 2006 bewirkt. Dieser Anstieg von Verschreibungen hatte einen hochpositiven Effekt auf die Mortalität bei kardiovaskulären Erkrankungen. Durch das Programm CHEP werden jährlich Updates von rezenten Therapieempfehlungen präsentiert, welche die epidemiologische Entwicklung beinhalten. Diese Bemühungen führten letztlich dazu, dass mehr als 70 % aller Hypertoniker den Zielblutdruckbereich erreichen konnten.3 Frankreich hat versucht, der primären Anlaufstelle für Patienten – dem Allgemeinmediziner – einen siebenstufigen Algorithmus zur Verfügung zu stellen, um die Hypertonieversorgung zu optimieren. Der „7-Step-Algorithmus“ umfasst unter anderem Punkte wie die Heimblutdruckmessung, die Compliance des Patienten, eine Umstellung auf Kombipräparate und Kurse für Hypertoniker. Die PASSAGE-Studie aus dem Jahr 2014 bei 1.000 Allgemeinmedizinern in Frankreich zeigte, dass trotz dieses etablierten Algorithmus nur 54,4 % der Patienten über 80 Jahre das Blutdruckziel erreichen konnten. Dies ist zwar eine geringe Erfolgsquote, allerdings deutlich besser als die österreichische Situation.4 In den USA wurden zahlreiche Studien mit „unkonventionellen“ ScreeningMethoden zur Diagnostik der Hypertonie beschrieben. J. M. Boivin bewies in einer multizentrischen prospektiven Studie, dass das Screening in BarberShops funktioniert. In 23 Frisiersalons in Frankreich und sechs weiteren in Marokko wurden pro Kunde drei automatische Blutdruckmessungen durchgeführt. Knapp 75 % der 1.325 Teilnehmer litten unter hypertensiven Blutdruckwerten.5

Österreich zieht nach

Mit Herz.leben startete 2007 ein strukturiertes Schulungsprogramm für Hypertoniker in der Steiermark. Ziel des Kurses (vier Module in einem Monat à 1,5 Stunden) sind die korrekte und nachhaltige Blutdruckeinstellung sowie eine Lifestyle-Beratung zwecks Primär- und Sekundärprävention. 2011 wurden die Daten von Herz.leben publiziert. Nach einem Jahr Beobachtungsdauer ließen sich bei mehr als 2.000 Patienten die Blutdruckwerte um -17/-7 mmHg sowie das kardiovaskuläre Risiko um vier Prozent senken.6 LOW-BP-Vienna 2018 – eine prospektive, randomisierte, multizentrische Studie zur Verbesserung der flächendeckenden Blutdruckkontrolle in der Primärversorgung – wurde bei 20 Allgemeinmedi-

AUTOR:INNEN-TEAM:

© Simone Aufhauser, privat

Dr.in Simone Aufhauser, BSc

3. Medizinische Abt., Univ.-Klinikum St. Pölten, Karl Landsteiner Institut für Kardiometabolik, St. Pölten

© Thomas Weiss, privat

Univ.-Prof. PD DDr. Thomas Weiss, FESC

Sigmund Freud Privatuniversität Wien und Karl Landsteiner Institut für Kardiometabolik, St. Pölten, Ordination: 1040 Wien

zinern durchgeführt. 139 Patienten mit bereits diagnostizierter und therapierter Hypertonie und einem Praxisblutdruck von > 140/90 mmHg nahmen daran teil. Die Arztpraxen wurden entweder zum Kontrollarm (Standardtherapie nach aktuellen Empfehlungen der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie) oder zum Interventionsarm randomisiert. Im Interventionsarm erfolgte die Titration unter Verwendung von Kombinationspräparaten. Die antihypertensive Therapie wurde in vierwöchentlichen Abständen gesteigert, bis das Blutdruckziel von < 140/90 mmHg erreicht war. In beiden Gruppen konnte nach sechs Monaten eine statistisch und klinisch signifikante Reduktion des Blutdrucks erzielt werden. Im Interventionsarm erreichten etwas mehr Patienten das Office-BP-Ziel als bei der Standardtherapie.4,7 Apothecare ist eine rezente österreichische Studie (2017–2020) mit 54 Apotheken in Ostösterreich, in welchen die Primärversorgung in puncto Blutdruckmanagement untersucht wurde. Im Rahmen der Interventionsstudie forderten die Apothekenangestellten 497 Patienten dazu auf, den Arzt neuerlich zu konsultieren, wenn der Blutdruck bei der Rezeptabholung für ein Antihypertensivum bei > 135/85 mmHg, also nicht im Zielbereich, lag. Es konnte gezeigt werden, dass Patienten mit inadäquat behandeltem Blutdruck bei der Kontrolle von einem apothekengeleiteten Disease-Management-Programm signifikant profitierten.8 Zurzeit läuft die Friseurinitiative Ottakring „Keine Therapie ohne Diagnose“ , bei welcher rund 200 Teilnehmern der Blutdruck gemessen wird. Sie erhalten beim Friseurbesuch einen Fragebogen zur Erhebung der kardiovaskulären Risikofaktoren und der aktuellen Medikation. Die Idee dieses Pilotprojekts ist es, zu untersuchen, ob automatische Blutdruckmessungen in einem nichtmedizinischen Setting ein geeignetes Mittel sein könnten, um eine bisher nicht diagnostizierte Hypertonie aufzudecken. Dadurch soll auch eine Awareness für Hypertonie bei Betroffenen geschaffen und gegebenenfalls eine Anbindung an das medizinische System erreicht werden. Ersten Ergebnissen zufolge haben – wie erwartet – über 50 % der Teilnehmer eine unbehandelte Hypertonie.

Zusammenfassung der Empfehlungen

Der internationale Vergleich zeigt, dass die Prävention und Behandlung von Hypertonie in Europa trotz einiger erfolgreicher Projekte nicht zufriedenstellend ist und diesbezüglich insbesondere Österreich weit hinter ähnlich wohlhabenden bzw. vergleichbaren europäischen Ländern bleibt. Nicht zu vergessen sind die kostenintensiven sekundären Folgen einer nicht erkannten oder inadäquat therapierten Hypertonie – zu den wichtigsten zählt der Insult. Um einen deutlichen Shift in Richtung optimaler Blutdrucktherapie in Österreich zu erzielen, bedarf es dringender Reformen.

Officemessung – Schwellenwerte für behandlungsbedürftige Hypertonie

Altersgruppe Office-SBP-Schwellenwert (mmHg)

Hypertension + Diabetes + CKD + KHK + Insult/TIA

18–65 Jahre > 140 > 140 > 140 > 140a > 140a

65–79 Jahre > 140 > 140 > 140 > 140a > 140a

Office-DBPSchwellenwert (mmHg)

> 90

> 90

> 80 Jahre > 160 > 160 > 160 > 160 > 160 > 90

Office-DBPSchwellenwert (mmHg)

> 90 > 90 > 90 > 90 > 90

Abkürzungen: CKD = chronische Nierenerkrankung; DBP = diastolischer Blutdruck; KHK = koronare Herzkrankheit; SBP = systolischer Blutdruck; TIA = transitorische ischämische Attacke a Bei diesen Hochrisikopatienten mit hohem bis normalem SBP (d. h. SBP von 130–140 mmHg) kann eine Behandlung in Betracht gezogen werden.

Quelle: 2018 ESC/ESH Guidelines for the management of arterial hypertension9

Therapieziel

Die derzeit empfohlenen Zielwerte für die Officemessung (Messung in der Ordination oder Ambulanz) sind in der Tabelle zusammengefasst.

Diagnostik

Ausschlaggebend für die Therapieeinleitung ist die richtige Diagnostik der Hypertonie. Heimblutdruckmessungen sind essenziell, um einen durchschnittlichen Blutdruckwert zu erzielen. Für eine optimale Diagnostik empfiehlt sich z. B. zweimal tägliches Blutdruckmessen im Sitzen nach fünfminütiger Ruhephase. Eine Messperiode von sieben bis 14 Tagen reicht aus, um den Mittelwert zu errechnen.

Prävention und Therapie

Die Basis für die Primär- und Sekundärprävention ist die Lebensstilveränderung. Dazu zählen die Reduktion der Salzzufuhr, moderater Alkoholkonsum und eine ausgewogene mediterrane Ernährung. Hinzu kommen Gewichtsreduktion bei Adipositas und regelmäßige körperliche Bewegung sowie absolute Nikotinkarenz. Erweitert wird die Basis der Blutdrucktherapie um eine medikamentöse Behandlung.9 <

Quellen: 1 Banegas JR et al., Eur Heart J. 2011 Sep;32(17):2143-52. 2 Rohla M et al., Austrian Journal of Hypertension 2016. 20(3), 67-70. 3 McAlister FA et al., CMAJ: Canadian Medical Association journal. 2011;183(9):1007-13. 4 Rohla M et al., Journal für Hypertonie – Austrian Journal of Hypertension 2015. 19 (3), 79-83. 5 Boivin JM et al., Blood Press. 2020 Aug;29(4):202-208. 6 Perl S et al., J Hypertens. 2011 Oct;29(10):2024-30. 7 Rohla M et al., Wien Klin Wochenschr. 2018 Dec;130(2324):698-706. 8 Weber T et al., Wiener klinische Wochenschrift volume 131, pages489–590 (2019). 9 Williams B et al., Eur Heart J 2018; 39(33):3021-104.

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