RC Premium III/2014

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Special

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Der moderne Mensch – ein Kompromiss der Evolution

Von Gewichtsproblemen (Teil 1) und Rückenschmerzen (Teil 2) als Erbe unserer Menschwerdung Dr. Matthias Zimmermann

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ann hatten Sie das letzte Mal Hunger? Nein, nicht nur Appetit. Gemeint ist richtiger Kohldampf, so mit Magenknurren, wenn man das Gefühl hat, der Magen hängt einem in der Kniekehle? Zum Beispiel am Ende einer Wanderung, die viel länger dauerte als geplant und an einer Berghütte endete, an deren Tür ein Schild hing mit der Aufschrift: „Heute Ruhetag“! Uns in Europa ist Hunger weitgehend fremd geworden. Um sich den folgenden Überlegungen mit der gebotenen Demut hinzugeben, sei eines vorweggenommen: Bei über 840 Millionen Menschen ist das anders. Noch immer geht einer von acht Menschen weltweit jeden Abend hungrig schlafen. Hunger ist das größte Gesundheitsrisiko weltweit. Der Hunger gehört zur Geschichte der Menschwerdung. Für viele Menschen im Hier und Heute ist Hunger Teil einer persönlichen „Diätgeschichte“: Sie fasten sich fett. Das klingt unglaublich? Ein Blick auf die Geschichte unserer Ahnen macht diese These plausibel. Genauso plausibel wie die Tatsache, dass die Schonung der Wirbelsäule zu Kreuzschmerzen führt. Dabei gehören Übergewicht und Kreuzschmerzen zu Alltagserscheinungen in unserer Zivilgesellschaft – als Erbe unserer Evolution und als Tribut an den Luxus der modernen Zeit…!

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Die unglaublich lange Entwicklung unserer Vorfahren

Die Primaten (Hominidae), zu denen die Menschenaffen und letztlich auch wir selbst zählen, kennen das Gefühl des tobenden Hungers seit 80 Millionen Jahren. Sie waren in ihrer zig Millionen Jahre andauernden Entwicklung weitestgehend nur mit Nahrungssuche und -aufnahme beschäftigt, so wie die Affen es heute noch sind (und natürlich mit der Fortpflanzung, aber das hier „nur am Rande“ – damit beschäftigen wir uns später). Im Laufe von Jahrmillionen nahm die Nahrungsvielfalt auf unserem Planeten zu, der Suchradius des Primaten wurde größer und viel Nahrhaftes fand sich auch in Bäumen. Die Fähigkeit, sich aufzurichten und dabei noch schnell vom Fleck zu kommen, erwies sich als Vorteil. Es wurde geerntet und gepflückt, sich gestreckt und aufgerichtet, geklettert und gerannt. Damit einhergehend veränderte sich die Physiognomie des Primaten „dramatisch“. Der freie, aufrechte Gang unterscheidet die Gattung Homo vom Vormenschen. Diese evolutionäre Schwelle wird vor etwa 2 bis 2,5 Millionen Jahren vermutet. Was dann einsetzte, war ein enormes Wachstum des menschlichen Gehirns. Ausschlaggebend waren die motorischen

Anforderungen des aufrechten Gangs und der freien Verwendung der Hände. Auch die Sensorik benötigte neuronale Kapazitäten, denn die Nahrungsvielfalt forderte eine genaue Unterscheidung zwischen schädlich (bis tödlich, z.B. die Bitterkeit von Aconitin oder Rizin) und essbar (bis nützlich, z.B. die Süße des Zuckers von Früchten). Ganz maßgeblich war der zunehmende Verzehr von Fleisch, zunächst Aas, bald („bald“ im Sinne der Evolution meint etwa „nur“ 200.000 Jahre später) auch Gegrilltes (am domestizierten Feuer, siehe dazu den „Tipp“ auf Seite 20). Ohne die eiweiß- und auch fettreiche Fleischund Fischkost wäre der Mensch nicht das, was er heute ist – wahrscheinlich wären wir gar nicht erst Mensch geworden (worüber Veganer mal nachdenken sollten!). Kurzum: Die Größe des Gehirns und sein Gewicht haben sich seitdem mehr als verdreifacht! So wurde der Primat zum Mensch – zum Sammler und Jäger. Dabei musste er mehr und mehr sein Gehirn einsetzen. Und seine Muskulatur! Ohne eine zunehmend entwickelte Muskulatur wären weder der Homo erectus (vor 1,8 Mio. Jahren), der Homo heidelbergensis (vor ca. 0,5 Mio. Jahren), der Homo neanderthalensis (vor ca. 250.000 Jahren) noch „unser einer“,


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