RC Premium I/2013

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Story

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Wir erleben eine Demonstration der Macht – oder besser ein Aufbäumen gegen den fortschreitenden Machtverlust, denn: irgendwann schneiden wir seinen Monolog ab, fast 100 Menschen in einer staubigen Hütte von weniger als 50 Quadratmeter nehmen uns die Luft zum Atmen. Wir brechen aus, an die frische Luft, entfliehen – vielleicht etwas respektlos – der Koranbeschwörung des alten Imam, und landen im Freien unvermittelt in der Realität, einer Realität der kulturellen Tradition, oder besser, der kulturellen Macht Äthiopiens. Eine Gruppe 12 bis 14-jähriger Mädchen steht beisammen, mit neuen, opulenten Halsketten und tiefblauen Kleidern, die sich von den üblichen Gewändern der Dorfbevölkerung unterscheiden. Ein neues Kleid und eine Halskette waren das Geschenk für einen „besonderen Tag“ im Leben der Mädchen. Man erklärt uns, dass erst vor wenigen Wochen ein Beschneidungsfest stattgefunden habe…

Uns berührt das alles sehr. Die Projektverantwortlichen würden uns gerne noch eine weitere Schule zeigen. Wir winken ab. Es geht nicht – die Zeit rennt. Wir wären gerne vor Einbruch der Dunkelheit in unserem Gasthaus, bevor wir tags

darauf nach Addis zurückfahren, wo Aufgaben auf uns warten. Natürlich stellen wir uns vor, dass auch das andere Dorf für uns bereitsteht und sich womöglich seit Tagen auf den Besuch der weißen Freunde aus Deutschland freut. Das tut uns leid, Tessalech und Irango, die voll des Stolzes ob des Erreichten sind, versuchen, ihre Enttäuschung zu verbergen. So ganz mag es ihnen nicht gelingen, aber sie sehen ein, dass wir zeitlich in Bedrängnis geraten und nehmen Rücksicht auf unsere Bedürfnisse, die nun langsam auch von unserem unumgänglich arg beanspruchten Magen-Darm-Trakt mitbestimmt werden. Wir verabschieden uns herzlich und freuen uns, abends zusammen zu sitzen, um das Erlebte in unserem mittlerweile sehr verschworenen Kreise Revue passieren zu lassen. Welch ein Tag, den wir erleben durften… Ehe wir uns versehen, sitzen wir nach einer Nacht im Tiefschlaf wieder in unserem Bus auf dem Weg zurück in Richtung Norden. Wie im Flug vergingen die letzten drei Tage – und dennoch kommt es uns wie eine Ewigkeit vor, seit wir am letzten Sonntag in Addis aufgebrochen sind. Die vielen Kilometer in diesem sehr

einfachen Bus machen uns nichts aus. So anstrengend der gestrige Tagesausflug zu dem Dorf auch gewesen sein mag, die Harmonie in unserer Gruppe, diese unglaublichen Eindrücke von einer fast archaischen Welt mit doch so unheimlich freundlichen Menschen war letztlich sehr erholsam. Physisch und gedanklich weit weg von dem hektischen Alltag in unserem modernen Zuhause finden wir tiefe Entspannung bei einer beschwerlichen Reise durch Land und Zeit. Es ist ein ganz seltsam angenehmes Gefühl, das mich begleitet, als Addis Abeba uns einholt und in seinen Menschenmassen absorbiert. Unser „kleiner privater Ausflug“ ist vorbei. Vor uns liegen weitere drei Tage, die wir gemeinsam mit dem zweiten Teil unserer Delegation, die sich gerade im Anflug befindet, dem Kindertennisprojekt widmen werden – drei äußerst erfolgreiche Tage, die nicht minder schnell an uns vorbeiziehen und doch so tiefe Spuren hinterlassen. Das bleibende Gefühl: Äthiopien, seine Menschen und die Freundschaften, die wir schließen durften, werden mich – so Gott will – mein Leben lang begleiten!

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