RC Premium 3/2019

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TITEL

Mensch und Stärke

Über körperliche und mentale Kraft von Matthias Zimmermann „Stark!“ Wer dieses Wort ausspricht, versteht es als Kompliment, als Ausdruck der Faszination vor einer besonderen Leistung. Der Ausruf zeugt von Respekt, von Zustimmung und Bekräftigung. Und wem dieser Ausruf gebührt, erfährt Anerkennung, bisweilen gar Verehrung. Offenbarte Stärke und eine positive Resonanz, wenn sie darauf folgt, verleihen ein Hochgefühl. Geschafft! Ich bin stark – wie ein Leuchtturm in der Brandung. Dass sich der Mensch dabei gerne mit anderen vergleicht, liegt in seiner Natur. Oft geht es darum, sich gegenüber einem anderen oder mehreren als Sieger herauszustellen. Dafür wird trainiert: die Muskulatur, die Psyche, die Rhetorik – Körper, Kopf und Ausdruck. Stärke bestimmt den Einzelnen als Individuum und seine Stellung in der Gemeinschaft. Nach Stärke zu streben gehört zur Suche nach einem gelingenden Leben – als Persönlichkeit in der Beziehung zu sich selbst und zu anderen. Daher sind Kraft und Stärke nicht nur Gegenstand der Sportwissenschaft und der Psychologie, sondern auch der Soziologie und in (zu?) hohem Maße auch Inhalt von Politik. Worin also liegt die persönliche Stärke: was macht mich stark? Wie steht es um die Stärke von Teams und Gemeinschaften: was macht uns stark? Stärke und das Streben danach macht das Leben besser – so könnte man meinen. Stark zu sein alleine jedoch beantwortet noch nicht die Frage: Wozu – und für wen …?

„Stärkster Mann der Welt“

Wissen Sie noch, wo Sie am 19. August 2008 gewesen sind? Freunde des Olympischen Sports werden sich an diesen Dienstag erinnern. Folgende Bilder bleiben im Gedächtnis. Sie sind filmisch verewigt: Auf einer Bühne vor den Olympischen Ringen unter dem Schriftzug „Bejing 2008“ steht ein Hüne im Trikot eines Gewichthebers mit dem Bundesadler

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auf der Brust. Vor ihm eine Langhantel, fünf Scheiben auf jeder Seite – 258 Kilogramm insgesamt. Matthias Steiner hat diese eine Chance, die Chance seines Lebens: Stößt er dieses Gewicht und hält es mit gestreckten Armen über dem Kopf, bis die Kampfrichter die Gültigkeit des Versuchs bestätigen, ist er Olympiasieger in der Königsklasse des Gewichthebens. Der Superschwergewichtler selbst bringt 146 Kilogramm auf die Waage. Er muss das 1,77-fache seines eigenen Körpergewichts bewältigen – mehr als er je zuvor geschafft hat. Sein Ausdruck von Konzentration, Entschlossenheit und absolutem Willen lassen seinen Trainer, die Fans in der Halle und Millionen Zuschauer vor den Fernsehern auf der ganzen Welt hoffen. Die Stange biegt sich zu beiden Seiten, als er sie mit einem kräftigen Zug vom Boden anhebt, sich vor der Brust auf die Schultern hebt und dabei in die Knie geht. Jetzt keine Zeit verlieren, gleich hochdrücken aus den Beinen bis in den Stand, das Gewicht noch immer auf Schultern und Brustkorb, wo es ihm beinahe die Halsschlagadern abdrückt. Dann legt er seine ganze Kraft – alles, was ihm nach einem anstrengenden Wettkampf geblieben ist, alles, was in ihm steckt und alles, was ihn in diesem Augenblick ausmacht – in den Stoß. Dann steht er da, die Langhantel über dem Kopf, zitternd unter der Last, die Augen starr nach vorne gerichtet. Ein kurzer Blick nach links zu den Kampfrichtern und mit einem Mal fällt die Spannung ab. Das Gewicht donnert vor ihm auf das Podest und es entlädt sich alles, was sich der Ausnahmeathlet in den vielen Jahren, Monaten und Tagen zuvor aufgeladen hat – und ihm aufgeladen wurde, von Trainern, Funktionären, der Öffentlichkeit und dem Schicksal. Er ist Olympiasieger, ein Prädikat für die Ewigkeit. Matthias Steiner ist der stärkste Mann der Welt!


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