Poetische Spaziergänge durch Böhlitz-Ehrenberg (Vorschau)

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Poetische Spaziergänge Band

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Irene Zoch Verlag Media Achtner

In Gedenken an meinen Linolschneider, meinen Mann Jörg, der unsere gemeinsam herausgegebenen Bücher mit über hundert schönen minimalistischen Linolschnitten illustriert hat und mit dem ich oft Spaziergänge durch Böhlitz-Ehrenberg und in die nähere Umgebung unternommen habe.

Poetische Spaziergänge Band 2

Irene Zoch

1. Auflage 2022

© 2022 Achtner Media Verlag, Leipzig www.8ner-media.de

Achtner

Media

Verlag

Idee & Texte: Irene Zoch

Layout: Susan Held

Fotos: Irene Zoch, Denis Achtner, Förderverein Ortsgeschichte B.-Ehrenberg e. V., Angelika Kriehmig, Denise Franke, Archiv RHC Aufbau B.-Ehrenberg, Pixabay

Umsetzung: 8ner Media Werbeagentur & Verlag

Inhaber: Denis Achtner

Leipziger Str. 71, 04178 Leipzig, Tel.: 0341/4418505

info@8ner-media.de

USt-IdNr.: DE323865802

Alle Rechte vorbehalten! Vervielfältigung nur mit Genehmigung des Herausgebers.

ISBN: 978-3-949602-06-1

Goetheplatz 7 Bielagarten 9 Johannes-Weyrauch-Platz 11 Lessingplatz 12 Marktplatz oder Träume darf man haben 13 Rasante Spiele im Auwald 15 Häuser um 1900 19 Bewegung tut gut 22 Ungeduldig 22 Mauersegler 22 Ein Novembertag 23 Ornamente aus Eis 24 Natur sehr nahe 25 Ein besonderer Strauß 28 Ein verrückter Tag 30 Las Vegas in Böhlitz 32 Der eigentliche Sinn der Geschichte der Menschen entwickelt sich erst spät 33 Ein Geheimtipp 35 Der Hofladen 37 Lützschena hin und zurück 39 Was hat Loki Schmidt mit Gundorf zu tun? 42 Die einstige Erbschmiede in der Auenstraße 43 Ein besonderes Ausflugsziel 46 Verlorener Wettstreit 48 Außergewöhnliches in der Burghausener Straße in Gundorf 49 Es war einmal… das Ritterschlösschen 51 Nicht einmal Lust auf ein Haiku? 53 Waldspielplatz Burgaue 54 Im »Kurhaus Bienitz«, März 2022 57 Auf dem Kilometerweg im Auwald 61 Blick aus dem Fenster 63 Ein zauberhaftes Stück Natur 64 Hinweis / Dank 65 Quellen 66 Weitere Veröffentlichungen von I. und J. Zoch 67 Inhalt 5

Irene Zoch

Geboren 1939 in Leipzig. Nach dem Abitur Studium am Institut für Slawistik und am Institut für Kunst erziehung an der Karl-Marx-Universität Leipzig. 1967 Promotion.

Jahrzehntelange Arbeit in Lehre, Forschung und Entwicklung am Herder-Insti-

tut der Universität Leipzig auf dem Gebiet Deutsch als Fremdsprache bis 2002. Umfangreiche Veröffentlichungen auf diesem Gebiet sowie kürzere und längere Auslandsaufenthalte.

Darüber hinaus zahlreiche literarische Arbeiten.

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Wenn die eigene Wohnung keinen Balkon hat oder alle ihre Fenster nur den Blick auf eine stark befahrene Straße zulassen, dann sehnt man sich nach einem Spaziergang durch den Auwald oder entlang des Elster-Saale-Kanals oder durch einen der Gartenvereine rund um BöhlitzEhrenberg.

Viele wissen aber gar nicht, dass es in unserem Ort selbst grüne Wohlfühlorte gibt, die zum Verschnaufen sowie zu Spiel und Sport einladen. Unter diesen Leuten sind auch einige, die oft in unserem Stadtteil unterwegs sind. Erst neulich habe ich jemandem den Goetheplatz an der Oberen Mühlenstraße gezeigt und erstaunte Blicke geerntet.

Der Goetheplatz liegt versteckt hinter hohen Hecken und überrascht mit

lauschigen Ecken, in denen Bänke zum Ausruhen und Innehalten einladen und Bäume wie Linde, Kastanie und Birke Schatten spenden. Kleine Kinder können sich in einem Sandkasten vergnügen oder zwei Klettertürme, die durch eine Wackelbrücke verbunden und mit einer Rutsche ausgestattet sind, erobern.

Bei genauerem Hinsehen entdeckt man inmitten des Platzes zwei Hecken, geformt von der Hand eines künstlerisch begabten Gärtners. Ich kann mich bloß nicht entscheiden, was die geschaffenen grünen Skulpturen darstellen sollen, ein Auto oder ein Tier. Ich plädiere für Riesenschweine.

An einem Gartentor am Goetheplatz findet man ein kleines Schild mit der Nachricht: »Hier war Goethe«.

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Goetheplatz

Darunter in kleinen Buchstaben: »Nie.« Letzteres ist denkbar. Aber es könnte durchaus möglich sein, dass Goethe als Student in Leipzig von 1765–1768 nach Behlitz (unser Ort hieß früher so) gewandert ist. Denn es ist bekannt, dass er beispielsweise nach Eutritzsch zu den berühmten Gosekneipen gelaufen ist, um sich an dem obergärigen Bier zu laben. Warum soll er nicht auch über die Behlitzer Flur gewandert und in der »Behlitzer Schenke« eingekehrt sein?

Bis 1934 hieß der Goetheplatz »Franz-Schlobach-Platz«, benannt nach dem Industriepionier Franz Schlobach. Dann trug er bis 1945 den Namen »Dietrich-Eckert-Platz«. Der Namensgeber war ein Schriftsteller, der den Antisemitismus propagiert und Einfluss auf Hitler ausge-

übt hat. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Platz seinen heutigen Namen erhalten. Ich kenne ihn auch noch unter der Bezeichnung »Didi«. Die Kinder aus der Beckersiedlung, die sich in den fünfziger Jahren oft nach der Schule hier getroffen und ausgetobt haben, hatten ihn so genannt. Didi –was für ein kurioser Name! Abgeleitet, so mutmaßte mein Mann, hätten sie den Namen für den Platz von »Göde«. Denn in Sachsen, so hat Bernd Lutz Lange festgehalten, »besiechen de Weechen de Hard’n«. Das bedeutet, die stimmlosen Konsonanten wie p, k, t werden zu stimmhaften b, g, d. Man sagt bei uns nicht: »Ich lade dich ein zu Kaffee und Kuchen«, sondern zu »Gaffee und Guchen«. Und so haben die Kinder von Böhlitz aus Goethe »Göde« gemacht und davon »Didi« abgeleitet.

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Rasante Spiele im Auwald

Es ist Ende September. Die Sonne sendet ihre wärmenden Strahlen auch in das Rollhockeystadion des RHC »Aufbau Böhlitz-Ehrenberg«. Das Laub der das Stadion umgebenden Bäume beginnt sich zu färben und erste Flüge zu starten.

Ich habe auf der gut besuchten Zuschauertribüne Platz genommen und verfolge das Spiel »Aufbau BöhlitzEhrenberg« gegen die »Blue Lions« aus Gera. Nach ungefähr sechzig Jahren bin ich das erste Mal wieder hier im Rollhockeystadion und erlebe das rasante Spiel der sich athletisch bewegenden Läufer, das intelligente Handeln der Torhüter, die mich in ihrer martialisch wirkenden Sportausrüstung an Kämpfer aus den Star Wars Filmen erinnern. Ich erlebe, wie Fans mit ihren Trommeln, Rasseln, Pfeifen und Rufen ihre Spieler anfeu-

ern, Applaus spenden, aber auch ihren Unmut zum Ausdruck bringen, wenn ein Spielzug nicht so richtig gelungen ist. Und dann entdecke ich auf dem Spielfeld zu meiner Überraschung unseren Ortsbürgermeister Denis Achtner, der als Schiedsrichter das Spiel leitet und für Fairplay sorgt. Und das macht er richtig gut!

Als ich vor Jahrzehnten das letzte Mal im Stadion von »Aufbau BöhlitzEhrenberg« ein Spiel verfolgt habe, geschah das eigentlich nur deshalb, weil ein Mädchen aus unserer Wohngegend im Südwesten von Leipzig zusammen mit anderen Rollkunstläuferinnen hier ihr Können zeigte. Sie gehörte zu den Sportlerinnen, die Ende der 1940er/Anfang der 1950er Jahre in Böhlitz trainieren durften. In unserem Stadtbezirk gab es keine Möglichkeit dazu. Damals hatte ich

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Monika, so hieß das Mädchen, schon viele Male auf der breiten asphaltierten Straße vor unserem Haus laufen sehen und war von ihren Schrittfolgen, Pirouetten und Sprüngen begeistert. Wie haben wir sie bewundert, wie haben wir für sie geschwärmt! Man muss in diesem Zusammenhang be-

achten, dass wir als Kinder nicht so viel Ablenkung hatten wie die Kinder heute. Einen Fernseher kannten wir nur aus Märchen, beispielsweise aus dem Märchen »Die Schöne und das Ungeheuer«.

Als ich mich dieses Mal auf den Weg zu einem Rollhockeyspiel machte, dachte ich, im Rahmenprogramm ein paar Rollkunstlauf-Prinzessinnen sehen zu können. Das war leider nicht der Fall. Aber dennoch veranstalteten ein paar junge Damen an der Spielfeldbande ein kleines »Schaulaufen«. Sie zogen aufmerksame Blicke auf sich. Zweifellos gehörten sie zu der Gruppe der Rollkunstläuferinnen, die in unserem Ort an

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Kürzlich habe ich mir in Novalis »Heinrich von Ofterdingen« die folgende Stelle angestrichen: »Der eigentliche Sinn der Geschichte der Menschen entwickelt sich erst spät, und mehr unter dem Einfluss der Erinnerung, als unter den gewaltsamen Eindrücken der Gegenwart.«

Ganz in diesem Sinne habe ich aus unserem Familienarchiv Schriftstücke gesichtet und geordnet. Eigentlich viel zu spät, denn ich hätte gern zu bestimmten Dokumenten meine Mutter und Großeltern befragt. Beim Kramen fiel mir ein Zeugnis für meinen Vater in die Hände, das er vor seiner Einberufung als Soldat zur Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg von der Firma »Sickinger & Kämnitz« erbeten hatte. Auf dem Dokument las ich, dass die Firma für Hoch-, Tiefund Wasserbau in der Böhlitz-Ehrenberger Fabrikstraße 14 ihren Sitz hatte und mein Vater dort als Bauingenieur für die Anfertigung statischer Berechnungen zuständig war und auch für die erforderlichen Konstruktionen zur Baudurchführung, für die Kontrolle von Baustellen und anderes mehr. Ob es die Firma wohl noch gibt, wollte ich wissen.

Und so begab ich mich auf die Suche danach. Ich lief von der HeinrichHeine-Straße bis zum Lessing-Platz,

folgte dann der Südstraße bis zur Fabrikstraße. Gleich dort, wo sich die beiden Straßen kreuzen, stach mir ein Schild mit der Aufschrift »Floor Recovering« in die Augen. Dahinter verbirgt sich eine Firma für professionelle Fußbodensanierung. Nur wenige Schritte weiter entdeckte ich an einem Gebäude in großen Lettern die Aufschrift: »Home of Sicharge D fully dynamic and flexible high power charching«, was so viel bedeutet wie »Zuhause von Sicharge D – wahrhaft dynamisches und flexibles Hochladen« bedeutet. Siemens hat mit »Sicharge D« eine zukunftsweisende Kompaktladesäule für das Schnellladen von Elektroautos entwickelt. Großartig, dachte ich, in der Fabrikstraße kannst du deine Englischkenntnisse auffrischen. Aber zugleich überlegte ich, warum wir nur so wenig Respekt vor der deutschen Sprache haben! Kann die Information an dem Gebäude von Siemens nicht auch auf Deutsch stehen? Für das internationale Publikum und die Präsentation auf Messen ist das Englische wohl angebracht.

Aber noch wichtiger als diese Gedanken war es mir, die Nummer 14 zu finden. Das erwies sich als gar nicht so leicht. Zweimal bin ich an ihr vorbeigelaufen, bis ich sie schließlich an

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einem Gebäude der »Leipziger Zerspanungs Manufaktur« entdeckte. Die 14 ist an einer Halle angebracht, die etwas abseits der Straße hinter einem Tor liegt. Enttäuscht musste ich nach meiner Suche feststellen, dass an die Firma »Sickinger & Kämnitz« nichts mehr erinnerte. Ein Mitarbeiter der neuen Firma sagte mir, dass die Hallen hier alle neu gebaut worden seien.

Dennoch sah ich in diesem Moment meinen Vater, von der Stadt kommend, zur Arbeit gehen. Es war Januar wie heute. Mein Vater trug Knickerbokker (das sind wadenlange Überfallhosen), einen Ulster und eine Schildmütze mit Ohrenklappen. Vermutlich entstand das Bild in diesem Moment in mir, weil ich ein Foto kenne, auf dem mein Vater genauso abgebildet ist. Sonst kannte ich ihn ja kaum, weil er aus dem Krieg nicht wieder zurückgekommen ist.

Als ich mich allmählich von dem

Bild löste, fielen mir Goethes Worte im Gespräch mit seinem Privatsekretär Johann Peter Eckermann ein: »Es geht vorüber, eh‘ ich‘s gewahr werde. Und verwandelt sich, eh‘ ich’s merke.«

So ist es eben mit allen Wesen und Dingen, auch mit der Industriegeschichte unseres Ortes. Es ist ein ständiges Entstehen und Vergehen.

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lützschena hin und zurück

Es steht im Schlosspark von Lützschena, unmittelbar an der Weißen Elster – das schmucke Backsteingebäude, von dem man kaum glauben will, dass es schon zweihundert Jahre auf dem Buckel hat. Hier ist heute die Auwaldstation zu Hause, die sich als »Bildungsstätte, Begegnungsort und Kulturzentrum« versteht. Schaut man in das Jahresprogramm, dann kann man das gut nachvollziehen.

Wie lebendig sind da meine Erinnerungen an viele Besuche in diesem Haus: sei es an ein Konzert, eine Lesung oder an einen Kabarett-

abend im Kaminzimmer oder im beschaulichen überdeckten Innenhof. Es ist wirklich nicht übertrieben, wenn ich behaupte, dass wir nach jeder Veranstaltung zufrieden und mit vielen Anregungen nach Hause gegangen sind.

Sehr gut kann ich mich noch heute an einen Abend mit der Schauspielerin Astrid Höschel-Bellmann und dem Schauspieler Dieter Bellmann erinnern (vielen ist er sicherlich bekannt als Prof. Simoni in der Fernsehserie »In aller Freundschaft«). Und an einen Auftritt der Leipziger All-Stars mit Swing, Blues und Dixie-

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land. Aber auch an den guten Rotwein, den man an einem Buffet erwerben konnte.

Oftmals sind wir vor und nach den Veranstaltungen noch durch die historische Parkanlage mit ihrem auenwaldtypischen Baumbestand gelaufen. Diesen Park hatte der Kaufmann

gur, die in Einzelteilen viele Jahre im Flüsschen »Hundewasser« gelegen hat. Außerdem sind wir oft am leicht bekleideten »Wanderer« (Kronos) vorbeispaziert, dessen Torso in einem Vorgarten des Ortes gefunden worden ist. Aber auch »Flora« am Dianatempel und nicht zuletzt »Aphrodite«, die einzige, die die Kriegs- und Nachkriegszeit überstanden hat und an der Einmündung des Hundewassers in die Weiße Elster steht, zollten wir viele Male unsere Aufmerksamkeit.

und Kunsthändler Maximilian Speck von Sternburg im Jahre 1822 anlegen lassen. Vorbei gelaufen sind wir an Teichen, Flussläufen, am Dianatempel, am Schwanenhäuschen auf dem Rosenteich und an der Waldkapelle auf der Insel im Tempelteich. Hier und da eine Skulptur bewundernd. Oft begrüßten wir »Apollino« an der Weißen Brücke (die Figur ist ein Abguss aus der Dresdener Skulpturensammlung). Anderenorts bewunderten wir »Herkules«, eine Fi-

Zurück zur Auwaldstation: Dieses Haus bietet das ganz Jahr über sowohl für Erwachsene als auch für Kinder thematische Exkursionen durch den Auwald und den Schlosspark an. Darüber hinaus finden Vorträge zur Tier- und Pflanzenwelt statt. Es gibt Ausstellungen zu Fragen von Umwelt und Natur. Für Kinder haben sich die Mitarbeiter der Station noch etwas ganz Besonderes ausgedacht: Kindergeburtstage in der Auwaldstation mit Schatzsuche oder Kreativwerkstatt. Von einem Ausflug in das tolle Baumhaus hinter der Auwaldstation ganz zu schweigen!

Wie aber kommt man zu Fuß von Böhlitz-Ehrenberg in den Schlosspark Lützschena? Da bieten sich mehrere Möglichkeiten an. Wir sind meist bis zum Ende des Forstweges gelaufen, haben die kleine steinerne Luppe-Brücke überquert und dann den Weg durch das Waldgebiet »Der Forst« und anschließend durch das Waldgebiet »Der Hintere Forst« ge-

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Es war einmal… das ritterschlösschen

In meiner Wahrnehmung ist BöhlitzEhrenberg ein recht ansehnlicher Ortsteil im Stadtbezirk Leipzig AltWest. Man lebt gern dort. Der Auwald ist nahe; viele Häuser sind seit über dreißig Jahren renoviert oder neu gebaut worden und vermitteln einen freundlichen Eindruck. Aber auch zu DDR-Zeiten wirkte der Ort, der damals noch eine selbstständige Gemeinde war, heiterer als die im Grau versinkende Stadt Leipzig. In BöhlitzEhrenberg hielten viele Hausbesitzer

ihre Gebäude, Vorgärten und Höfe entsprechend den gegebenen Möglichkeiten in Schuss. Stets dann, wenn wir mit der Straßenbahn oder dem Auto von der Innenstadt kommend die beiden Leutzscher Brücken hinter uns gelassen hatten, atmeten wir auf und meinten etwas scherzhaft: »Jetzt sind wir im Westen.«

Heute empfinde ich, sobald ich über die Brücken gelaufen oder gefahren bin, weniger gute Gefühle. Da »jammert« an der Ecke »Leipziger

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Straße«/»Am Ritterschlösschen« das ehemalige Etablissement »Ritterschlösschen« mit seiner abwechslungsreichen Geschichte auf dem zugewachsenen Gelände so vor sich hin und bietet wahrlich einen traurigen Anblick.

Das »Ritterschlösschen«, 1890 als Gasthaus eröffnet, war Anfang des 20. Jahrhunderts mit seinem Ballsaal, seinem Sommerfestsaal sowie seinem schönen Garten ein gern besuchter Ort. Ab 1900 führte eine Treppe hinunter in das bis dahin zu ebener Erde erreichbare Haus. Warum diese Treppe? Damals kreuzte die Eisenbahn auf gleichem Niveau die Leipziger Straße, und mit wachsendem Verkehr wurden Rampen und Brücken über die Bahngleise gebaut. Von da an musste der Wirt seine Gäste immer hinter einer fünf Meter hohen Klinkermauer im künstlich geschaffenen Grund bedienen, der durch den Brückenbau über die Bahngleise entstanden war. Und diese Gäste mussten ihrerseits von der Leipziger Straße aus die hinunterführende Treppe benutzen.

Wenn ich heute vor dem Gebäude stehe, kann ich schlecht nachvollziehen, dass hier einmal ein illustres Ballhaus gestanden hat. Schaue ich mir aber Postkarten vom »Ritterschlösschen« an, dann entstehen in meinem Kopf Bilder von wespentaillierten Damen in weiten Röcken und hochgeschlossenen Blusen mit ballonförmigen Ärmeln und mit großen feder- und blumengeschmückten Hüten die Treppe hinabsteigen. Die

Herren in Sakko und andersfarbigen Hosen, bunten Krawatten, Überröcken und mit steifen Hüten. Alle in Erwartung eines rauschenden Balles.

Im Jahre 1900 wurde der Ballsaal abgerissen und 1923 die Gaststätte wegen Konzessionsaufgabe geschlossen. Erst 1926 belebte man sie wieder.

Aus dem »Lexikon von Böhlitz-Ehrenberg« habe ich erfahren, dass die KPD und andere kommunistische Organisationen, wie der »Rotfrontkämpferbund« (RFB) und die »Rote Hilfe«, das Gebäude von der Naumann-Brauerei als Kulturstätte für gleichgesinnte Arbeiter und als Versammlungsstätte gepachtet hatten. Von einer Postkarte, auf die mich Kirsten Haasch, die Verfasserin der »Chronik Böhlitz-Ehrenberg« hingewiesen hat, habe ich erfahren, dass das »Ritterschlösschen« als ifa-Heim (ifa: Interessengemeinschaft für Arbeiterkultur) genutzt wurde.

Im »Ritterschlösschen« haben unter dem Schutz des Rotfrontkämpferbundes auch die meisten illegalen Versammlungen des Bezirks Leipzig stattgefunden.

Auf Plakaten und Bannern, die zu dieser Zeit an der Fassade des »Ritterschlösschen« angebracht waren, konnten die Bürger von Böhlitz-Ehrenberg Losungen lesen wie »KPD Liste 3«, »Einheit KPD und SPD«, »Militarismus bedroht uns«, »Jahrgang 1924 mahnt! / Gegen Wehrgesetze und Militarismus«.

Schließlich wurde die Gaststätte 1933 wegen baulicher Mängel ge-

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Auf dem Kilometerweg im Auwald

Ein wunderbarer Märzmorgen. Nur wenige Wölkchen ziehen am Himmel vorüber. Ich bin unterwegs auf dem Kilometerweg, der vom Waldspielplatz nach rechts abbiegt und an der Nahle, einem kurzen Flusslauf im Elster-LuppeSystem, endet.

Es ist Sonntag. Ein Tag, an dem man hier vielen Wald- und Lufthungrigen begegnet, Spaziergängern, Joggern und Radfahrern.

Ich laufe ganz bewusst langsam, um mich an dem sich vor mir ausbreitendem »Wald-Raum«, der an das Mittelschiff einer gotischen Kathedrale erinnert, zu erfreuen. Er wird von den hohen Bäumen gebildet, die den Weg säumen und ihre Kronen einander zuneigen. In dieser »Auwald-Kathedrale« erlebe ich zudem einen vielstimmigen Vogelgesang:

Sti-tsi-tsi-ssit (die Stimme einer Blaumeise), pink-pink-drä-dzä (den Gesang einer Kohlmeise), kliöh, krrrikrrri-krrikrri (das Rufen eines

Schwarzspechts), düdlio (den Gesang eines Pirols). Und dazu noch das laute, schallende »Lachen« des Grünspechts. Ein wundervolles Konzert. Konkurrenz zu einer Aufführung im Gewandhaus. Tut mir sehr gut, weil meine Seele seit dem Morgen aufgewühlt und fuchsteufelswild war.

Aus dem grünen »BärlauchMeer« leuchten mir Buschwindröschen mit ihren weißen und rosafarbenen Blüten entgegen, aber auch das Scharbockskraut mit seinen goldgelb glänzenden Blütenblättern sowie das rauhaarige Lungenkraut mit seinen blauvioletten Blüten.

Die Frühlingsblüher »erobere« ich nur mit meinen Augen. Dagegen pflücke ich vom Bärlauch eine Handvoll saftiger Blätter. Einige für den Eigenbedarf, einige für meine Freundin in Jena. Im vergangenen Jahr hatte ich ihr schon einmal Bärlauch geschickt. Damals sagte sie mir, es sei der beste Bärlauch der Welt gewe-

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sen. Auch dieses Mal werde ich das Kraut in Folie wickeln und in einem Brief von Sachsen nach Thüringen befördern lassen. Wenn die Empfängerin dann ihren Briefkasten öffnet, weiß sie sofort Bescheid: Aha, Allium ursinus aus dem Auwald bei Leipzig. Auf meinem Spaziergang beobachte ich links und rechts des Weges auch einige alte verrottete Baumstämme, die mich einladen, meiner Phantasie freien Lauf zu lassen. Bei näherem Hinschauen entdecke ich eine ganze Reihe von Fabelwesen: Drachen, Einhörner, Hexer und Hexen und andere Gestalten. Plötzlich werde ich aus meinen Gedanken ge-

rissen. Eine Radfahrerin, die den Kilometerweg offenbar als Rennstrecke benutzt, bremst hinter mir scharf ab. Eine Klingel hatte sie nicht betätigt. Beinahe wäre ich in einen Unfall verwickelt worden. Also werde ich in Zukunft immer links laufen. Das nehme ich mir fest vor.

Am Ende des Weges lege ich am Wanderpilz unweit der Nahle eine Pause ein. Der Kaffee aus meiner kleinen Thermosflasche tut mir jetzt gut. Dann laufe ich den Kilomterweg zurück nach Böhlitz-Ehrenberg. Die Frühlingsboten im »grünen Bärlauch-Meer« winken mir zu und der würzige Duft des Waldes umspielt meine Nase.

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Immer wieder haben Fußwanderungen angeregt, die Eindrücke mit Worten festzuhalten. Diese Wanderungen müssen nicht Pilgerreisen sein, sie müssen auch nicht vom Leipziger Umland aus nach Syrakus führen oder von Göttingen zum Brocken im Harz.

Manchmal reicht es, in der nächsten Umgebung, sozusagen vor der Haustür, sich umzuschauen, So entstehen zauberhafte Miniaturen wie die von Irene Zoch. Und vielleicht wird der Leser angeregt, diesen Pfaden zu folgen, selbst Neues zu entdecken und hat dann zum Genuss des Lesens noch die Freude am Schauen.

Poetische Spaziergänge II –Band II
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