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Wir Putinversteher

VON HANS-JÖRG JENEWEIN

Der Krieg in der Ukraine entsetzt Europa. Das Abenteuer ist aber auch Ergebnis einer Politik, der Russland durch Setzen militärischer Tatsachen entkommen will.

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Der Naturbursch: Wladimir Putin wird auch als Jäger inszeniert und genießt seine Präsidentschaft in der Landschaft.

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enn sich historische Ereignisse überschlagen – und der zur Stunde laufende Krieg in der Ukraine ist zweifelsfrei ein solches Ereignis – sind sowohl die Beurteilung der Lage als auch die Einordnung des eigenen Standpunktes und die Re exion der bisherigen Überzeugungen höchst schwierig und – um ein Modewort zu gebrauchen – volatil.

Wladimir Putin, Präsident der Russischen Föderation, galt schon in der Vergangenheit als Reibebaum bei jenen, deren politische Sympathien im anglo-amerikanischen Raum und dort wiederum eher im linken oder liberalen Eck zu nden war. Putin war so etwas wie die „Antithese“ zum westlichen Zeitgeist, das Gegenteil von stromlinienförmig, und seine gesellscha spolitische Ausrichtung passte so gar nicht zum „Genderzeitgeist“, zu den Problemchen der westlichen Welt, die sich in den vergangenen Jahren zwischen Lastenfahrrad, Greta unberg, #metoo-Bewegung und Diversitätsdebatte verloren hatte. An Wladimir Putin ist die westliche Identitätspolitik vorbeigegangen, der westeuropäische Zeitgeist konnte sich daher an Putin fantastisch reiben. Auch als im Jahr 2020, die Corona-Pandemie die Staaten fest im Gri hatte, war es Russland, das den ersten Impfsto auf den Markt brachte. Und ob der „Westen“ das goutierte, ob jene Geimp en, die in Russland dann als „immunisiert“ galten, in anderen Staaten anerkannt wurden oder nicht, war dem Präsidenten herzlich egal. Er machte sein Ding, er war unkonventionell, und die Kritik des Westens prallte wirkungslos ab.

Für viele der „alten weißen Männer“, wie uns die Sprache der linken Dialektik so gern abwertend nennt,

Durch Russland fühlten sich vor allem jene „Putinversteher“ repräsentiert, die an konservative Heimat- und Familienwerte glauben. Aber es ist mit Westeuropa nicht zu vergleichen. Russland ist eine Autokratie.

Foto: Peter Titmuss / Alamy Stock Foto

Matryoschkas mit Putin. Immer die Frage: Was ist drin?

war dieser Wladimir Putin auch ein Anker, denn während man in Europa für eine apsige Bemerkung sehr schnell einen „Shitstorm“ erntet, während die Meinungsmacher – auch repräsentiert durch sogenannte Alphajournalisten – mittels Moraldebatte die willkürlichen Grenzen der politischen Korrektheit mal so und mal so de nieren, vermittelt das russische Imperium, dieser staatliche und gesellscha liche Koloss, Ruhe, Gelassenheit und Konservativismus (welch abscheuliches Wort …).

Wenn wieder einmal in einer hysterisch besetzten Runde des ö entlichen Rundfunks über Putin hergezogen wurde, dann konnte man sich sicher sein: Ganz so falsch lag man mit den eigenen Beurteilungen gar nicht. Ganz im Gegenteil.

Das Messen mit zweierlei Maß

Durch Russland fühlten sich vor allem jene repräsentiert, die an konservative Heimat- und Familienwerte glauben, deren politische Agenda nicht von Alarmismus und Hysterie geprägt ist, und auch all jene, die der Ansicht sind, dass Gesellscha spolitik nicht von einer lauten politischen Minderheit verordnet und mit dem pädagogischen Zeige nger auferlegt werden darf.

Und was war mit den Menschenrechtsverletzungen in Russland? Hat die der „Putinversteher“ einfach akzeptiert? Die Au ragsmorde? Die Gefängnisstrafen für Oppositionelle? Die Verfolgung Homosexueller?

Nun, damit man mich hier nicht falsch versteht: Nein, Menschenrechtsverletzungen kann niemand akzeptieren. Und nein, man kann die russischen Verhält-

Ein Mann ist ein Mann, und man kann sich auch als erster Mann im Staate als richtiger Mann inszenieren.

nisse auch nicht mit jenen der angeblich so aufgeklärten Demokratien in Westeuropa vergleichen. Russland ist eine Autokratie. Punkt. Das hat nie jemand bestritten. Die Verlogenheit jedoch, wie im Westen mit zweierlei Maß gemessen wird, muss auch hier einmal mehr besprochen sein.

Während jede Demonstration in Moskau, wo ein paar Hundert Menschen festgenommen werden, bei uns ganze Nachrichtenblöcke füllt, spricht niemand über die Repressionen der Chinesen gegenüber den Uiguren. Wenn etwa ein chinesischer Staatsbesuch in Wien statt ndet, dann wird die Demonstration der Tibeter einfach aus Sichtweite verbannt. Weil, mit den Chinesen wollen wir doch gute Geschä machen …

Wenn die USA – momentan wieder einmal die engsten Verbündeten Europas – gute Geschä e mit SaudiArabien machen, dann ist uns das keine Empörung wert. Obwohl dort Menschen ausgepeitscht, gesteinigt und ermordet werden. Wenn etwa die Punkband Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kathedrale den Ambo entert, um ihre Protestaktion dort abzuhalten, und darau in verha et wird, dann gibt es Solidaritätsadressen aus ganz Europa.

Dass durch solch eine Aktion auch religiöse Gefühle verletzt werden können, wird bei den Gutmenschen indes einfach nicht mehr zur Kenntnis genommen. Andere Länder, andere Sitten, könnte man meinen, aber bei Putin ist das eben was anderes. Da ist es „politisch korrekt“, sich zu empören, zu zeigen, dass man zu „den Guten“ gehört, dass man auf der richtigen Seite steht. Aber das war nicht immer so. Dieser Wladimir Putin hat uns jedenfalls in der Vergangenheit, muss man sich erregen, ganz schön eingekocht.

Der Russe, der perfekt Deutsch spricht

Wer erinnert sich nicht an seinen charmanten Au ritt im September 2001 im deutschen Bundestag? Erstmals sprach ein russisches Staatsoberhaupt im deutschen Parlament. Viel Süßholz wurde da geraspelt – von beiden Seiten. Spätestens, als Putin auf Deutsch zu sprechen begann, konnte man sich seiner Anziehungskra nur schwer entziehen. Endlich ein russisches Staatsoberhaupt, das Entspannung bringt. Frieden in Europa, eine o mals verwendete Phrase, war nicht nur auf lange Sicht gesichert, mit Putin als Freund der Deutschen konnte es ja nur eine gute Zukun für diesen gerüttelten Kontinent geben. Was für ein Glücksfall.

Damals war der Jugoslawienkrieg erst sechs Jahre vorbei. Jetzt war ein Ende der Nachkriegsordnung in greifbarer Nähe. Und doch sollte alles anders kommen, und zwar ganz anders.

Als Wladimir Putin bei der Sicherheitskonferenz 2007 in München die NATO-Erweiterung der Amerikaner verdammte, sagte er dort wörtlich: „Es ist o ensichtlich, dass der Prozess der NATO-Erweiterung […] ein provozierender Faktor [ist], der das Niveau des gegenseitigen Vertrauens senkt. Nun haben wir das Recht, zu fragen: Gegen wen richtet sich diese Erweiterung? Und was ist aus jenen Versicherungen geworden, die uns die westlichen Partner nach dem Zerfall des Warschauer Vertrages gegeben haben? Wo sind jetzt diese Erklärungen? An sie erinnert man sich nicht einmal mehr.“

Im Westen ist alles irgendwie Hitler, was nicht Westen ist. Da bricht es aus der woken Klientel ungebremst heraus. Am großen Bissen Ukraine scheint sich der russische Präsident freilich wirklich verschluckt zu haben.

Foto: Sipa USA / Alamy Stock Foto

Also bereits vor 15 Jahren warnte Putin den Westen – damals noch als hoch angesehener Staatschef –, dass die NATO-Erweiterung das subjektive Sicherheitsgefühl der Russen massiv einschränke. Was den russischen Präsidenten damals so erzürnt hat, kann nur vermutet werden, aber er bezieht sich in seiner Rede ausdrücklich auf den damaligen italienischen Verteidigungsminister Arturo Parisi. Putin merkte dabei an, dass „der Verteidigungsminister Italiens gesagt hat, […] dass die Anwendung von Gewalt nur dann als legitim gilt, wenn sie auf der Grundlage einer Entscheidung der NATO, der EU oder der UNO basiert“.

Eine Legitimationsdebatte auf diesem Niveau muss für einen Staat wie Russland natürlich als eine Provokation der besonderen Art wahrgenommen werden.

Jahre später merkte der ehemalige KPdSU-Chef Michail Gorbatschow in einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung „Der Spiegel“ an, dass 68 % der Deutschen in der Frage der NATO-Erweiterung jedenfalls auf Putins Seite gestanden sind. Auf die Frage, ob er, Gorbatschow, von den Deutschen heute enttäuscht sei, antwortete der ehemalige Kreml-Chef wenig schmeichelha : „In Deutschland gibt es viele Leute, die sich an der Teilung [Europas] beteiligen wollen.“

Der Bruch zwischen Russland und dem Westen ist also keineswegs die kurzzeitige Laune eines völlig verrückt gewordenen Politikers, vielmehr hat – auch unter den Augen der Weltö entlichkeit – eine Entfremdung stattgefunden.

Erste große Risse bekam das Verhältnis im Zuge des Kaukasuskrieges 2008, nachdem Russland die Unabhängigkeit Abchasiens und dessen Loslösung von Georgien o ziell anerkannt hatte. Überhaupt wird im europäischen Selbstverständnis wenig Wert auf die mannigfaltigen Interessenlagen innerhalb der ehemaligen sowjetischen Teilrepubliken – wie etwa in Südossetien – gelegt. Wer etwa hat in Zentraleuropa den ständigen Kon ikt zwischen Armenien und Aserbaidschan rund um die Enklave Bergkarabach im Auge? Wo war der große humanistische Aufschrei, als im Jahr 2020 aserbaidschanische Truppen die nicht anerkannte Repubik Arzach überrannt haben? Mehrere Tausend Tote waren zu beklagen, aber hier kommt natürlich auch zum Tragen, dass gerade Aserbaidschan in der Vergangenheit viele europäische Politiker mittels nanzieller Anreize zu „Freunden“ gemacht hat. Formel-1-Rennen und VIP-Paket inklusive …

Bei aller europäischen Überheblichkeit sollten wir nie vergessen, dass es natürlich auch im postsowjetischen Hinterland geopolitische Interessen Russlands gibt, die wir – allesamt durch „Standard“, „Presse“ und „New York Times“ „gebildet“ – überhaupt nicht verstehen können und mit denen sich der Durchschnittseuropäer nicht – oder eben nur am Rande – auseinandersetzt. Als weiterführende Literatur sei in diesem Zusammenhang das Buch „Brennpunkt Berg-Karabach“ von Christoph Benedikter genannt.

Zum großen Strukturbruch und zu Putins endgültigem Rollenwechsel zum „Badboy“ führte schließlich im Jahr 2014 die Sezession der Halbinsel Krim. Auch hier sollte man immer beide Seiten sehen, und auch diese höchst umstrittene Eingliederung in den russischen

Der Bruch ist also keineswegs die kurzzeitige Laune eines verrückt gewordenen Politikers, vielmehr hat – unter den Augen der Weltö entlichkeit – eine Entfremdung sta gefunden.

Man spricht Deutsch: 2018 trinken Wladimir Putin und Angela Merkel gemeinsam ein stilles Mineralwasser. An der Westorientierung Deutschlands ändert das nichts.

Staatenverbund muss aus der historischen und der geostrategischen Lage Russlands von allen Seiten betrachtet werden. Rund 60 % der Bewohner der Krim werden den ethnischen Russen zugerechnet, dem stehen rund 25 % Ukrainer entgegen, der Rest teilt sich auf Krimtataren, Armenier, Weißrussen und sonstige Ethnien auf. Aber warum hat Putin 2014 o ensichtlich handstreichartig die Kontrolle über die Krim übernommen?

Der „Sündenfall“ Krim

Die Demonstrationen am Maidan in Kiew haben 2014 relativ rasch zu einem bürgerkriegsartigen Zustand geführt. Der Hintergrund dieser Proteste war im Umstand begründet, dass der damalige Staats- und Regierungschef Wiktor Janukowytsch die Unterzeichnung einer EU-Assoziierung o enbar auf Druck Russlands aussetzte. Das führte zunächst zu Studentenprotesten, die sich relativ schnell zu Gewaltexzessen mit rund 60 Toten entwickelten. Für Verwunderung sorgte die plötzlich ö entlich zur Schau gestellte Allianz der proeuropäischen Krä e. Neben US-Senator John McCain war etwa bei einer Kundgebung auf dem Maidan der russische Ex-Oligarch und verurteilte Steuerkriminelle Michail Chodorkowski Redner und blies von dort aus zum Sturm auf den Kreml. Kritik aus dem Ausland daran war nicht zu hören, zumal die Selbstbeschreibung von Chodorkowski als „Räuberbaron“ keinen Zweifel an seiner Vergangenheit gelassen hätte.

Bis zum heutigen Tag ist die Rolle möglicher georgischer Intervention bei diesen Demonstrationen ungeklärt, und tatsächlich nden sich viele Hinweise darauf, dass Scharfschützen gezielt auf Menschen geschossen haben, um Chaos zu verbreiten und die Lage zu destabilisieren. Ein italienischer Dokumentar lm des Canale 5 aus dem Jahr 2018 hat diese Gerüchte zusätzlich genährt.

Im Jahr 2014 berichtete die Wochenzeitung „Die Welt“ darüber, dass beim Sezessionskrieg rund um die ostukrainische Provinz Lugansk Hunderte US-Söldner für Kiew im Einsatz sein sollten. Dabei berief man sich auf Informationen des Bundesnachrichtendienstes (BND). Und die englische „Daily Mail“ berichtete im März 2014, dass im Kon ikt rund um Donezk US-amerikanische „Blackwater“-Einheiten auf ukrainischer Seite zum Einsatz gekommen seien.

Ist dieser Fülle an Hinweisen, wonach der Westen versucht hat, die Ukraine bewusst zu destabilisieren, um sie auf einen distanzierten Kurs zu Moskau zu bringen, also kein Glauben zu schenken? Traut man den Amerikanern bzw. den Geostrategen der NATO so eine Intervention etwa nicht zu? Aus äquidistanter Sicht wäre eine unabhängige Prüfung zumindest notwendig, aber was heißt in diesem Zusammenhang schon „unabhängig“?

Tatsächlich war in jenen Frühjahrstagen 2014 das bipolare Gleichgewicht aus russischer Sicht massiv in Gefahr. Sewastopol, der einzige ganzjährig eisfreie Hafen der russischen Streitkrä e, liegt exponiert an der Südspitze der Krim. Eine Ukraine (inklusive Krim) als EU-Staat, eventuell sogar als Mitglied der NATO, wäre für Russland der absolute Super-GAU gewesen. Moskau stand mit dem Rücken zur Wand und handel-

DAS BUCH „Die Putin-Interviews“ sind das Ergebnis von mehr als einem Dutzend Gesprächen, die der Oscar-prämierte Regisseur Oliver Stone über einen Zeitraum von zwei Jahren hinweg mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin führte.

Oliver Stone Die Putin-Interviews

Kopp Verlag, Rottenburg 2018, 368 Seiten ISBN 978-3-86445-598-8 A € 20,60 / D € 19,99

Nicht alle Präsidenten sind so bekannt wie Putin. Die Herren im Bild repräsentieren vielleicht ein Drittel der Menschheit.

te. Sehr zum Leidwesen der Europäer und der NATOBüttel, denn das wäre die historische Chance gewesen, die strategische Marine der Russen de facto unschädlich zu machen. Dass Moskau das keinesfalls zulassen konnte, war eventuell einkalkuliert. Sanktionen und Repressionen gegen die russische Wirtscha waren die Folge.

Der Krieg der vielen Gesichter

Wer die verö entlichte Meinung dieser Tage rund um den Angri der russischen Streitkrä e auf die Ukraine verfolgt, bekommt einen kleinen Geschmack von der vermeintlich distanzierten Haltung der Journalisten des Westens. Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit, wird dem berühmten US-Senator Hiram Johnson als tre endes Zitat zugeschrieben. Und die aktuelle Entwicklung zeigt in den sozialen Medien sehr eindrucksvoll, dass in dem Zitat viel Wahrheit steckt.

Da schreibt etwa der selbst ernannte Doyen des investigativen Journalismus in Österreich, Florian Klenk, in einem Tweet: „Was für ein Kriegsverbrechen!“, und kommentiert dabei ein Video eines Pkw, der von einem gepanzerten Fahrzeug gerammt wurde. Später stellt sich heraus, dass es sich sowohl beim Pkw als auch beim Radpanzer um Ukrainer bei einem Unfall handelte. Später löschte Klenk einfach seine Meldung und tat so, als sei hier einfach ein Fehler passiert. Kann ja vorkommen, im Eifer des Gefechtes.

Oder auch der vermeintliche EU-Spezialist und „Standard“-Journalist omas Mayer – er ist ja weltberühmt in Österreich: unterstellt einfach mal frisch von der Leber weg, dass „Putins Armee in Syrien Fassbomben gegen die Zivilbevölkerung abwerfen ließ“. Er bleibt zwar jeden Beweis für diese durch und durch wahrheitswidrige Behauptung schuldig, aber behaupten wird man es doch noch dürfen. Geht ja schließlich gegen das personi zierte Böse. Da ist jede Unwahrheit erlaubt.

Genauso, wie er tags darauf schreibt: „Denke, Russlands Präsident Putin, dessen aufgedunsenes Gesicht auf Krankheit hindeutet, hat mit diesem Aggressionskrieg gegen die Ukraine mittelfristig sein politisches Ende besiegelt. Er kann das Land vielleicht einnehmen, aber 44 Millionen Ukrainer kann er nicht beherrschen.“

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Propaganda innerhalb von Stunden die ernst zu nehmende Berichterstattung abgelöst hat. Im Falle von omas Mayer sogar so weit, als er vom Pandemie- und Virenspezialist jetzt gleichsam zum „Facharzt für Ferndiagnostik“ mutiert ist.

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch die Stellungnahme des deutschen Fernsehsenders Phoenix zu einer Aussage von Wladimir Putin: „Als Reaktion auf die #Sanktionen gegen den #Kreml versetzt der russische Präsident die Abwehr seines Landes in Alarmbereitscha . (Unser Dolmetscher sagt Atom-Streitkrä e, das ist aber wohl nicht korrekt.)“ Unabhängig davon berichten heute alle wesentlichen Medien davon, dass Putin die Atomstreitkrä e in Alarmbereitscha gesetzt habe …

Insgesamt kommt man jedenfalls nicht umhin, eine gewisse Kriegslust in Europa zu verspüren. Der Frühling, der dieser Tage seine ersten Knospen gezeigt

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Propaganda innerhalb von Stunden die ernst zu nehmende Berichtersta ung abgelöst hat.

Die Schrecken des Eises: Nagurskaja ist die nördlichste russische Militärbasis und liegt am Franz-Josefs-Land.

hat, steht zwar gemeinhin für Wärme und Neuanfang, im Jahr 2022 jedoch kann es manchen Zeitgenossen gar nicht schnell genug gehen. Da wird an die Verteidigungsbereitscha der ukrainischen Bevölkerung appelliert, und der Aufruf des Verteidigungsministeriums, sogenannte Molotowcocktails zum Kampf vorzubereiten und den nächstgelegenen Schutzraum aufzusuchen, wird durch Medienpropaganda stilisiert.

Eine neue Kriegslust in Europa

Interessant dabei ist, dass gerade all jene, die in den vergangenen Jahren die Entwa nung der Polizei gefordert haben, die das Bundesheer au ösen oder zumindest nur noch zu einer reinen Pioniertruppe umfunktionieren wollten, jetzt am lautesten applaudieren, wenn etwa der deutsche Bundeskanzler Scholz ein Sonderbudget von 100 Milliarden Euro für die deutsche Bundeswehr ankündigt.

Überhaupt scheint gerade dieser Stunden ein sogenanntes Aha-Erlebnis durch manche Köpfe zu gehen. Gerade bei den ach so aufgeklärten Liberalen, deren Naserümpfen gegenüber dem Bundesheer immer deutlich spürbar war. Der Zivildienst war in den Augen der urbanen Bevölkerung in den vergangenen Jahren jedenfalls weit attraktiver. Wer außer ein paar Reaktionären und Bauernschädeln macht denn schon freiwillig Wehrdienst, ich bitte Sie …

Die Haltung der Republik Österreich passt im Übrigen sehr gut zur völlig kopf- und strategielosen Haltung der vergangenen zwei Jahre. Die österreichische Neutralität, o belächelt und totgesagt, aber nach

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Wladimir Wladimirowitsch Putin

Putin ist seit dem Jahr 2012 Präsident Russlands, was er schon von 2000 bis 2008 war. Putin wurde im Jahr 1952 in Leningrad geboren und studierte zunächst Rechtswissenschaften. Später wurde er Offizier beim KGB, dem Auslandsgeheimdienst der Sowjetunion. Im Zuge dessen war er ab Mitte der 1980er-Jahre auf deutschem Gebiet tätig. Im Jahr 1990 kehrte er in seine Heimat zurück. Kurz danach fiel die Sowjetunion auseinander.

In den 1990er-Jahren stieg Putin im neuen Russland politisch immer weiter auf, bis er im Jahr 1999 von Präsident Boris Jelzin zum Ministerpräsidenten gemacht wurde. Wenige Monate später verzichtete Jelzin auf das Amt des Präsidenten und Putin wurde sein Nachfolger. Im Frühjahr 2000 wählten ihn die Russen erstmals zu ihrem Präsidenten.

Acht Jahre später durfte Putin laut Verfassung nicht mehr zur Präsidentschaftswahl antreten. Für die kommende Amtszeit wurde Dmitri Medwedew gewählt, der wie Putin zur Partei „Einiges Russland“ gehört. Als Ministerpräsident konnte Putin aber auch in dieser Zeit viel mitbestimmen. 2012 durfte er wieder zur Wahl antreten. Einige Mitbewerber wurden als Kandidaten ausgeschlossen. So wurde Putin erneut zum Präsidenten gewählt.

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RÜCKZUG DES WESTENS

Sanktionen gegen Russland sind so eine Sache. Die Amerikaner haben immer kritisiert, dass Europa sich mit Russland arrangiert hat. Jetzt geht es schnell, und wichtige Firmen ziehen sich aus Russland zurück: von McDonald’s bis Prada, von H&M bis zu Baukonzernen und Banken.

Foto: Sipa USA / Alamy Stock Foto

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Das Bundesheer wurde durch die SPÖ und die ÖVP in den vergangenen Jahrzehnten auf eine Statistenrolle runtergespart: Warum sollte es für irgendwelche NATOFantasien bluten?

wie vor Teil unserer Verfassung und Teil des innerstaatlichen Selbstverständnisses, wird ganz plötzlich völlig neu interpretiert. Denn wie hat Bundeskanzler Karl Nehammer im Zuge einer Medienstellungnahme so deutlich festgehalten: „Die militärische Neutralität hat ja eine interessante Geschichte, sie wurde uns aufgezwungen von den Sowjetkommunisten als Preis dafür, dass wir die Freiheit wiedererlangen konnten.“ Das heißt also: Eigentlich wollen wir gar nicht neutral sein, ja wir warten nur darauf, dass wir endlich ein bisschen mitspielen können im Konzert der Großen. Nur, womit sollen wir eigentlich spielen?

Das Bundesheer wurde durch die SPÖ und die ÖVP in den vergangenen Jahrzehnten auf eine Statistenrolle runtergespart: Wenn es Hochwasser geben sollte, dann brauchen wir Pioniere, beim Skiwochenende in Kitzbühel benötigt der Veranstalter billige Arbeitskrä e, und unsere Landeshauptleute legen besonderen Wert auf die Militärmusikkapellen. Das war es dann aber auch schon. Um tatsächlich Teil einer Interventionstruppe sein zu können, braucht es jedoch ein wenig mehr als ein paar verrostete Panzer und ein paar kastrierte Euro ghter. Nicht nur, dass wir die Budgetmittel für eine halbwegs funktionierende Armee gar nicht aufbringen wollen, brauchen wir dazu eben auch jene Wa en, die ordentlich „Bumm“ machen. Aber wollen wir das überhaupt? Hat irgendjemand die Bevölkerung gefragt, ob wir „Partei“ sein wollen in so einem Kon ikt? Glaubt irgendjemand, dass es für einen österreichischen Soldaten nichts Schöneres gibt, als für amerikanische Interessen oder NATO-Fantasien auf irgendeinem Schlachtfeld zu verbluten?

Die Schweiz könnte hier einmal mehr Vorbild sein, denn auch bei der Neutralität war die Schweiz – zumindest in den Sonntagsreden der politischen Eliten – immer jenes Vorbild, dem man nachzueifern versucht hat.

Die Sache mit dem Gas …

Und dann wäre da noch die Sache mit dem Gas und dem Öl und der Kohle. Ja, auch das ist ein sehr heikles ema, zumal Österreich und Europa zwar seit einigen Jahren aus all diesen fossilen Brennsto en aussteigen möchten und deswegen halbgebildete Schülerinnen und Schüler jeden Freitag – außer es ist kalt oder es regnet (oder beides) – auf die Straße gehen. „Fridays for Future“ heißt die Veranstaltung, wo Pubertierende mit Smartphone in der Hand und Plastik aschen im PVCRucksack vor der Erderwärmung warnen und für eine bessere Zukun demonstrieren. Jo eh …

Tatsächlich ist Österreich zu rund 40–50 % von russischen Energieimporten abhängig. Und das soll momentan auch so bleiben. Denn bis wir so viele Windräder aufgestellt haben, um als Alpenrepublik völlig autark zu sein, sind die letzten Störche geköp und die letzten unberührten Grün ächen versiegelt worden. Also was tun?

Nun, die US-Amerikaner haben schon angeboten, dass wir amerikanisches Frackinggas beziehen können. Das soll ja besonders bekömmlich sein, und die Umweltschäden durch die Förderung … Nun, da darf man in Zeiten der Krise eben nicht zimperlich sein. Schließlich müssen wir Putin besiegen. Außerdem, wer kümmert sich um Umweltschäden, wenn die E-Mobilität zum Bau von Hochleistungsakkus beim Kobaltabbau ganze Landstriche vergi et? Der Tesla ist trotzdem nach wie vor DAS Prestigeobjekt des erfolgreichen Yuppies.

Sanktionen – aber jetzt richtig!

Aber unabhängig davon hat natürlich die Sanktionsbegeisterung mittlerweile auch dazu geführt, dass man russische Banken vom SWIFT-System ausgeschlossen hat. SWIFT steht für „Society for Worldwide Interbank Financial Telecommunication“ und ist im Grunde ein Netzwerk zum Austausch elektronischer Informationen zwischen Banken. Wer allerdings glaubt, dass alle russischen Banken von diesem System ausgeschlossen wurden, der irrt. Rund 30 % der russischen Banken wurden eben nicht ausgeschlossen. Warum eigentlich? Könnte es damit zu tun haben, dass man sonst den Energiehandel nicht weiterführen könnte? Und damit ist nicht einmal zwingend der Energiehandel mit Europa gemeint. Nachdem sich Deutschland ja jetzt endgültig vom Projekt Nord Stream 2 verabschiedet hat, hat man nun endlich den dringenden Wunsch der Amerikaner erfüllt.

Übrigens ist es ein Treppenwitz der Geschichte, dass das Rechenzentrum von SWIFT im Kanton urgau in der Schweiz steht. Die Schweiz macht beim Boykott der russischen Banken bislang jedenfalls (noch) nicht mit. Denn in der Schweiz ndet ja zu rund 80 % der Rohsto andel mit Russland statt. Teilweise mit russischen Banken, die längst eine Schweizer Lizenz haben. Aber das ist eine andere Geschichte.

DAS NETZWERK Als Ende der 1980erJahre die Sowjetunion zusammenbrach, ahnte niemand, dass ein ehemaliger KGB-Agent sich über Jahrzehnte als russischer Präsident behaupten würde. Doch ein Alleinherrscher ist Wladimir Putin nicht. Seine Macht stützt sich vor allem auf ein Netzwerk früherer KGB-Agenten, dessen Einflussnahme weit über Russland hinausreicht.

Catherine Belton: Putins Netz

HarperCollins, Hamburg 2022, 704 Seiten ISBN 978-3-7499-0328-3 A € 26,95 / D € 26,00

Im FREILICH-Buchladen erhältlich: freilich-magazin.at/buchladen

Was bedeutet das alles für den klassischen „Putinversteher“? Krieg ist undenkbar. Und das, was derzeit in der Ukraine passiert, ist eine Völkerrechtsverletzung und inakzeptabel.

Zuletzt im März 2021 hat US-Außenminister Blinken die Deutschen aufgefordert, die Abhängigkeit von Russland zu beenden und das Projekt einzustellen. Bei den eigenen Moralvorstellungen sind die Amerikaner meist weit weniger zimperlich. So weisen die Zahlen der US-Energiestatistik-Behörde EIA im Jahr 2021 aus, dass das Volumen russischer Rohöllieferungen in die USA von Jahr zu Jahr massiv ansteigt. Russland, so die Experten der EIA, belegt Platz drei unter den Öllieferanten der USA – noch vor Saudi-Arabien. Die Plätze eins und zwei belegen Kanada und Mexiko.

Während also die Europäer einem gewissen Risiko ausgesetzt sind, dass der nächste Winter eher kühl wird und die Heizkörper manchmal kalt bleiben, importieren die Amerikaner eißig russisches Öl.

Was jetzt?

Also, was bedeutet das jetzt alles für den klassischen „Putinversteher“? Ist der Krieg in der Ukraine jetzt zu akzeptieren? Ist Putin ein Irrer, ein Despot, oder will er den dritten Weltkrieg?

Nein! Krieg ist undenkbar. Und das, was derzeit in der Ukraine passiert, ist eine Völkerrechtsverletzung und inakzeptabel. Was soll man also tun? Das Einmaleins der Diplomatie wäre, dem Gegner (manche sagen: dem Feind) Putin die Möglichkeit zu geben, aus der Sache ohne Gesichtsverlust rauszukommen. Auch um den Preis, dass dabei eigene Überzeugungen nicht zu 100 % befriedigt werden können. Frieden in Europa kann und wird es nur geben, wenn man miteinander und nicht übereinander spricht. Das dämliche Gequatsche von wegen „Putin muss nach Den Haag!“ ist nicht nur kontraproduktiv, es wird weder der Ukraine helfen, noch wird es Wladimir Putin au alten. Zumal Putin mit Sicherheit nicht den Verstand verloren hat. Der russische Präsident weiß genau, was er tut. Und wenn ihm die Europäer die Türe vor der Nase zuknallen, dann dreht er sich einfach um und orientiert sich Richtung China, Indien und den restlichen Wachstumsmärkten. Europa braucht Russland nämlich weit mehr, als Russland Europa braucht. Das scheinen nur manche bislang nicht so recht verstanden zu haben. Eventuell verstehen es unsere Politgiganten dann, wenn der Liter Benzin an der Zapfsäule drei Euro kosten wird. Nur dür e es dann schon zu spät sein.

Die unsägliche Kriegspropaganda der NATOBüttel hil uns auch keinen Millimeter weiter. Tatsächlich wäre Österreich gut beraten (gewesen), eine äquidistante Haltung einzunehmen. Natürlich muss man Dinge als das benennen, was sie sind. Im Falle des Einmarsches in die Ukraine ein völkerrechtswidriger Krieg. Aber das entlastet die Regierung in Kiew auch nicht von dem Vorwurf, dass in den vergangenen acht Jahren rund 10.000 Tote beim Bürgerkrieg im Donbass zu beklagen waren. Auch dass die Ukraine den Nord-Krim-Kanal blockierte und damit der Halbinsel Krim rund 85 % des Trinkwassers entzog, ist keine Rechtfertigung für den nunmehrigen Krieg. Und auch, dass man den autochthonen Russen die Ausübung und Verwendung der eigenen Sprache verbieten wollte, kann den Einmarsch der Russen nicht rechtfertigen. Es hätte gelindere Mittel für Russland gegeben. Tatsächlich hört man aber im westlichen Mainstream davon überhaupt nichts. Es kann nur einen Schuldigen geben. Und wer das ist, ist auch klar.

In diesem Kon ikt darf es keine zwei Seiten oder gar Neutralität geben. Hier kann es nur die Seite der Guten, nämlich der „westlichen Wertegemeinscha “ geben. Jede Relativierung macht sich verdächtig, im Au rag Moskaus zu handeln. Jeder Flugzeugabschuss der ukrainischen Heimatverteidiger wird zu einem heroischen Akt stilisiert, jeder Tag ohne russische O ensivmaßnahme gilt dagegen als Fanal für die drohende militärische Niederlage des Aggressors. Der „Endsieg“ zeichnet sich also schon ab.

Und doch sollten all jene, die ein wenig in die Zukun denken, eine Perspektive dafür in der Schublade liegen haben, wenn wider Erwarten Putin nicht in den kommenden 14 Tagen bedingungslos kapituliert und irgendwo in Moskau Suizid begeht. Und es tut mir leid, den Kritikern des Putin-Regimes die brutale Wahrheit mit auf den Weg geben zu müssen: Es wird nicht in unserer Hand liegen, welchen Weg Russland in Zukun einschlagen wird. Die Russen werden auch nicht in einer der westlichen Zeitungsredaktionen um Erlaubnis fragen.

Durch die lange Friedensperiode sind wir in Mitteleuropa mit Krisen nicht mehr vertraut. Vermutlich hatten wir deswegen auch die Zeit, uns mit GenderStudies und Lastenfahrraddebatten auseinanderzusetzen. Tatsächlich lehrt uns „Das abenteuerliche Herz“ aber, dass wir „auf der Hut sein müssen“. Nämlich „vor der größten Gefahr, die es gibt – davor, dass uns das Leben etwas Gewöhnliches wird“. Die europäische Geschichte war jedenfalls nie „gewöhnlich“ und wird es auch niemals sein.

Hans-Jörg Jenewein

war langjähriger Pressesprecher, acht Jahre Landesparteisekretär der FPÖ Wien, neun Jahre Parlamentarier in Nationalrat und Bundesrat mit verschiedenen Sprecherfunktionen (Medien, Inneres, Sicherheit).

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