Tatsächlich scheint es derzeit – leider – kaum aktuellere Opernstoffe zu geben als die von Meyerbeer und Scribe, auch weil nur wenige Werke eine überzeugendere Verquickung von Massen- und Einzelschicksalen bieten: Der Schlüssel für das Verständnis von Meyerbeers Werk liegt eben nicht in der Identifikation mit einem Hauptakteur, sondern in der panoramischen Sicht auf gesellschaftliche Konstellationen, denen der Einzelne hilflos ausgeliefert ist. Das gilt für Raoul und Valentine in den „Hugenotten“, die von der Dynamik des Massakers erfasst werden wie von einer großen Woge; das gilt für den Propheten Jean, der letztlich erkennen muss, dass er in seinem Widerstand gegen die Willkürakte der katholischen Herrschaft nur zum Werkzeug ebenso korrupter Aufrührer geworden ist. Und das gilt auch für „Vasco da Gama“, wo kaum noch ein Unterschied zwischen dem katholischen Erobererstaat Portugal und dem ebenso fremdenfeindlichen Regime der indischen Brahmanen-Priester besteht. In all diesen Werken ist das Meyerbeer’sche Fazit für die Entwicklungsfähigkeit des Menschen bedrückend negativ – für eine Versöhnung ist in seiner resignativen Weltsicht kein Platz. Womit ein weiteres, entscheidendes Merkmal genannt wäre, das Meyerbeers Opern von einem Großteil der Opern in ihrem Gefolge unterscheidet. Dass es hier nicht allein um die geschickte Aufbereitung eines interessanten Stoffes geht, sondern mindestens ebenso sehr um eine Botschaft, um das Vermitteln einer Weltanschauung, die über die Handlungszusammenhänge der jeweiligen Werke hinausgeht. Es liegt nahe, diese lebenslange künstlerische Auseinandersetzung mit religiösem Fanatismus mit Meyerbeers Leben kurzzuschließen. In Meyerbeers Briefen und Tagebüchern und auch in den Beiträgen dieses Bandes ist immer wieder die Rede von den Ressentiments, denen er sich als Jude vor allem in Deutschland gegenübersah und die auch sein zwiespältiges Verhältnis zu seiner Vaterstadt Berlin begründeten. Bis heute, so scheint es, hat die Opernstadt Berlin nicht wirklich gemerkt, dass sie einen der größten Opernkomponisten hervorgebracht hat – dass erst vor wenigen Jahren das Geburtshaus Meyerbeers in Tasdorf bei Berlin abgerissen wurde, ohne dass überhaupt jemand Notiz davon nahm, scheint symptomatisch. Umso mehr ist es an der Zeit, dass Berlin sich endlich wieder auf Meyerbeer besinnt. Der Meyerbeer-Zyklus der Deutschen Oper Berlin und der vorliegende Band sollen einen Beitrag dazu leisten.
Es ist Zeit für Meyerbeer. 13