DETAIL 1+2/2015 - Bauen mit Glas

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2015 ¥ 1/2   ∂

Gebaute Transparenz – Glashäuser des 19. Jahrhunderts Built Transparency – Nineteenth Century Greenhouses Christian Schittich

1, 2 Bicton Gardens, Budleigh Salterton, ca. 1825 3 Kibble Palace, Glasgow, 1872, Blick in die große Glaskuppel

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1, 2 Bicton Gardens, Budleigh Salterton, about 1825 3 Kibble Palace, Glasgow, 1872, view into the large glass dome

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Sie gehören zu den faszinierendsten Bauten des 19. Jahrhunderts und führen in der klassischen Architekturgeschichte doch eher ein Schattendasein: die filigranen Gewächshäuser aus Eisen und Glas, deren Form und Gestalt sich einzig aus den funktionalen und technischen Notwendigkeiten herleiten. Neue Konstruktionsmethoden und formale Innovationen, die später zu Grundlagen der modernen Architektur werden, kommen bei diesen frühen Zeugnissen des industrialisierten Bauens erstmals zum Tragen. Denn völlig unbelastet von den Konventionen der damaligen Architektur und von Fragen des Stils können deren Erbauer – meist Gärtner und Ingenieure – mit ungewöhnlichen Materialkombinationen sowie den gerade erst entstandenen Möglichkeiten der Vorfertigung, aber auch mit einer bis dahin unbekannten Ästhetik experimentieren. Und auch die Bauvorschriften lassen bei diesen reinen Zweckbauten für Pflanzen, die zunächst nicht für den dauerhaften Aufenthalt von Menschen bestimmt sind, deutlich mehr Spielraum zu. Diese Voraussetzungen, gepaart mit den gerade erst eingeführten industriellen Herstellungsmethoden von Eisen und Glas, führen in einer Zeit, als immer mehr exotische Pflanzen aus den Kolonien nach Europa kommen und beim Adel wie auch bei wohlhabenden Privatleuten das Bedürfnis entsteht, diese zu züchten und auszustellen, zu bis dahin unbekannten Räumen. Ohne die Erfahrungen mit den Gewächshäusern wären so spektakuläre wie richtungsweisende Bauten wie Joseph Paxtons Londoner Glaspalast von 1851 nicht möglich geworden. Schließlich hatte auch Paxton sich sein konstruktives Wissen beim Bau von Pflanzenhäusern erworben, von denen heute allerdings nicht mehr allzu viel erhalten ist. Noch vor Paxton erarbeitet John Claudius Loudon, wie dieser ein gelernter Gärtner, die wesentlichen Grundlagen zum Bau der Gewächshäuser. In zahlreichen Schriften und Studien setzt er sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit deren idealen »Eigenschaften« auseinander, wobei er allein von den Bedürfnissen der Pflanzen ausgeht. Um ein Maxi2 mum an Licht in den Innenraum zu lassen,

fordert Loudon, den Anteil der Konstruktion eines Glashauses so gering und deren einzelne Elemente so schlank wie möglich zu halten. Darüber hinaus entwickelt er die für die Pflanzenhäuser seiner Zeit so prägende »kurvenlineare Form«. Er bezieht sich damit auf Ideen von Sir George Mackenzie, der 1815 in einem Vortrag vorschlägt, die Außenhaut eines Gewächshauses parallel zum Gewölbe des Himmels auszurichten und somit zum Lauf der Sonne, damit sowohl bei der hoch stehenden Sommersonne als auch im Winter der größte Teil der Strahlen senkrecht auf die Glasscheiben fällt und der Anteil des reflektierten Lichts möglichst gering bleibt. Loudons Prinzipien führen in ihrer Konsequenz zu jenen dynamisch und zeitlos wirkenden Glashausformen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die wir heute am meisten bewundern. Später, als die Architekten immer mehr Einfluss auf den Bau der Glashäuser erlangen und die Stilvorstellungen ihrer Zeit mit einbringen, verlieren diese

weitgehend ihre klaren Formen. Mit Bild und Text (und in durchaus subjektiver Auswahl) werden nachfolgend einige der eindrucksvollsten Glashäuser vorgestellt. Bicton Gardens Beinahe verloren liegt das kleine, steil gewölbte Palmenhaus in den riesigen Gartenanlagen von Bicton Gardens im Südwesten Englands, nahe dem Meer. Wer am Parkeingang nach dem »alten Glashaus« fragt, wird zunächst zu jüngeren und weit weniger spannenden Wintergärten geschickt. Nicht einmal dem Personal scheint die technische Raffinesse ihres versteckten Schatzes bewusst. Denn der nur 21 Meter lange und gut 8 Meter hohe Wintergarten, der nordseitig von einer massiven Ziegelwand begrenzt wird, ist das einzig erhaltene Exemplar jener frühen Spezies von Gewächshäusern, die das zerbrechliche Material Glas nachweislich auch zur Aussteifung der Gesamtkonstruktion heranziehen. Das Ergebnis ist ein entmaterialisiertes Gebilde, das gegen den Himmel betrachtet nur noch als filigranes Netz erscheint. Dieses besteht aus ausgesprochen schlanken Eisensprossen, die das ausschließlich auf Druck belastete Glasgewölbe tragen. Die transparente Hülle selbst setzt sich aus kleinen, an ihrer Unterseite 18 cm breiten, überlappenden Schuppen zusammen, die es ermöglichen, eine gleichmäßige Krümmung ausschließlich mit ebenen Scheiben zu erreichen. Doch die einzelnen, von Hand geformten Glastafeln sind dabei nicht wirklich glatt. Vielmehr nimmt ihre Dicke zum Rand hin zu, um das herabfließende Wasser von den korrosionsempfind-­ lichen Eisensprossen fernzuhalten. Weder das genaue Baujahr noch der Entwerfer dieser technischen Minimalstruktur, die vermutlich ohne das Zutun von Architekten entstand, sind uns heute bekannt. Experten gehen aber davon aus, dass das eigenwillige Glashaus schon bald nach 1820 entstanden ist. Ebenso sprechen einige Indizien dafür, dass Loudon selbst an seiner Konzeption beteiligt war. Mit seiner massiven Speicherwand im Norden und den kugelförmigen Geometrien


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