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2014âŻÂ„âŻ9âŻâŻâŻKonzeptâŻâŻâŻâ
Eine Architektur der Zusammenkunft â Zwischen dem Einen und dem Vielen, zwischen Typus und Modell Imagining an Architecture of Assembly: Between the One and the Many, the Type and the Model Michael Merrill
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Ein Haus â zwei HĂ€user GroĂ, klein; bescheiden, ĂŒppig; stĂ€dtisch, vorstĂ€dtisch; durchprogrammiert, flexibel: So unterschiedlich die VersammlungsstĂ€tten auch sind, die dieses Heft zusammenbringt, so einig sind sie in ihrem Wunsch nach einem profunden Moment, der ĂŒber alle ihre Unterschiede hinausgeht: einen Ort zu kennzeichnen, um Gemeinschaft zu zelebrieren. In der Tat: Wenn eine zivile Gemeinschaft sich entscheidet, einen öffentlichen Raum fĂŒr sich zu bauen und diesem ein Gesicht zu geben, dann wird ihr Architekt damit beauftragt, nicht nur ein einziges Haus zu planen, sondern gleich zwei. Das erste dieser beiden HĂ€user ist sowohl grundlegender als auch schwieriger zu beschreiben. Es gehört â auf eine Art und Weise, die nur wenigen andere GebĂ€udetypen eigen ist â sowohl buchstĂ€blich als auch im ĂŒbertragenen Sinne uns allen. Dieses Haus gehört dem Reich der Vorstellung an, dem kollektiven GedĂ€chtnis, unserem Wunsch, die Grenzen des Selbsts zu ĂŒberwinden. Das zweite dieser HĂ€user gehört in die Welt des Unmittelbaren und der jeweiligen UmstĂ€nde. Dies ist die Welt des Raumprogramms, des Bud-
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gets, des Kontextes und der Bauordnung; die Welt der aktuellen Moden der Architekturstile und -theorien. Gesellschaft und Berufsstand verlangen vom Architekten, dass dieses zweite Haus standfest, funktional, ja sogar schön zu sein hat. FĂŒr viele von uns liegt jedoch der wahre MaĂstab zur Beurteilung des Architekten weniger in seiner Kompetenz, das zweite Haus bauen zu können, als in seiner FĂ€higkeit, das erste Haus in uns wachzurufen.1 WĂ€hrend es zum zweiten der beiden HĂ€user eine ĂŒberwĂ€ltigende Menge an Information gibt, ist grundlegende LektĂŒre zum ersten der beiden HĂ€user eher rar gesĂ€t. NatĂŒrlich gibt es zum Thema öffentliche Bauten, Stadthallen oder Gemeindezentren zahl lose hilfreiche Monografien. Diese beschrĂ€nken sich jedoch eher auf die spezifischen Eigenschaften des zweiten Hauses und befassen sich weniger damit, was im Sinne des ersten Hauses ĂŒbertragbar und verallgemeinerbar ist. Sie neigen dazu, uns bestimmte Modelle zu prĂ€sentieren, im ÂSinne von QuatremĂšre de Quincys formaler Definition des Begriffs, erforschen aber nicht das eher unbestimmte, jedoch fruchtbarere Potenzial des Typus, der sich hinter diesen Modellen verbirgt.2 Obwohl ein guter Architekt so viele Modelle wie nur möglich kennen sollte â in etwa so, wie ein guter Anwalt oder Arzt viele Fallstudien kennt â, es besteht dabei immer die Gefahr, dass er sich in den EigentĂŒmlichkeiten des jeweiligen Falls verliert und die eigentlichen DaseinsgrĂŒnde des jeweiligen GebĂ€udes aus den Augen verliert. Sich dem (arche-)typologischen Denken im Sinne QuatremĂšre de Quincys zu widmen, bedeutet tiefer (und damit auch weiter) zu gehen als diejenigen Schulen der Typologie, die sich unmittelbar auf Funktion oder Form grĂŒnden: Es bedeutet, sich die wesentliche Natur eines Raums vorzustellen, der von den Fesseln der Zeit und der UmstĂ€nde befreit ist.3 Diese Art des typologischen Denkens wurde oft von Pragmatikern als zu vage abgetan, als zu spekulativ oder zu idealistisch, um nĂŒtzlich zu sein. FĂŒr andere ist sie aber Bestandteil einer umfassenden Theorie der Ar-
chitektur: einer, die zu Werken fĂŒhren kann, die uns tiefer bewegen und mehr bedeuten. Um herauszufinden, wie dies nicht nur als idealistische, sondern auch als praktische Theorie aufgefasst werden kann, bietet sich an, ein wesentlich Ă€lteres Werk zu Rate zu ziehen als die oben erwĂ€hnten Monografien. Es ist sogar Ă€lter als QuatremĂšre de Quincy: Die »Zehn BĂŒcher ĂŒber Architektur«, geschrieben von Marcus Vitruvius Pollio im ersten Jahrhundert n. Chr.4 Vitruvius: Am Anfang war die Versammlung Im zweiten seiner Zehn BĂŒcher beschreibt Vitruv in neun kurzen Abschnitten den Âmythischen Ursprungsort der Architektur: ÂEine Lichtung im Wald; ein Gewitter ist soeben vorbeigezogen; primitive Menschen â sie lebten bisher isoliert voneinander und verfĂŒgen daher weder ĂŒber Sprache noch ĂŒber Kultur â versammeln sich um ein Feuer, das durch die Blitze entzĂŒndet worden ist. Die Menschen schöpfen Nutzen aus dem Feuer, bleiben und sorgen dafĂŒr, dass es nicht erlischt. Das Geheimnis wird geteilt: Bald folgen weitere Menschen; Kommunikation wird notwendig und fĂŒhrt zur Geburt der Sprache. Es folgen die ersten ZusammenkĂŒnfte und gemeinschaftlichen Handlungen. Werkzeuge werden gefertigt, Schutzbauten erstellt. Ihre Schöpfer kopieren die Arbeiten derer, die vor ihnen kamen und verbessern dabei ihre Vorbilder. In Folge haben die einstmals wilden Menschen einen Platz fĂŒr sich innerhalb der Natur geschaffen. Das Wohnen beginnt. Kaum jemand hat die Relevanz von Vitruvs tĂ€uschend einfacher Geschichte eindringlicher geschildert als die Architektin und Hochschullehrerin Robin Dripps. In ihrem Buch, »The First House«â5, enthĂŒllt sie, wie Vitruvs Geschichte ein humanistisches Paradigma des In-der-Welt-Lebens verkörpert. Es ist eine Auffassung, die die Geburt der Architektur mit grundlegenden Fragen der menschlichen Existenz verknĂŒpft und vor allem die wesentliche Aufgabe der Architektur deutlich macht: eine BrĂŒcke zwischen dem Individuellen und dem Gemeinschaftlichen zu sein.