Alle wollen wohnen

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Von der Familienwohnung zum Clusterwohnen. Wohngrundrisse im Spiegel des gesellschaftlichen Wandels Gerd Kuhn

Das Postulat der Weimarer Verfassung, jeder deutschen Familie eine gesunde Wohn- und Heimstätte zu sichern, war ein Meilenstein der sozialstaatlichen Wohnungspolitik und führte zur Form des abgeschlossenen Wohnens in der Kernfamilie, die uns noch heute so vertraut erscheint. Erstmals war es in der Weimarer Republik für Arbeiterhaushalte nicht mehr notwendig, familienfremde Menschen in die kleinen Wohnungen aufzunehmen. Dadurch konnte die Wohnung zum intimen Ort der Familie werden. Arbeit und Konsum fanden außer­ häuslich statt. Der in der Weimarer Verfassung formulierte Vorrang für abgeschlossene Familien-Kleinwohnungen war keineswegs nur durch die Notwendigkeit zum kostengünstigen Bauen begründet, sondern auch aus der Struktur der städtischen Bevölkerung. Bereits Mitte der 1920er Jahre lebten über 60 Prozent der Menschen in Kleinfamilien mit bis zu vier Personen.1 Die Suche nach angemessenen Grundrissen für die Kleinwohnungen spiegelte somit den gesellschaftlichen Wandel in der Industriegesellschaft. Die funktionale Wohnung

Wichtige Impulse für die Entwicklung der modernen Kleinwohnung gingen in den 1920er Jahrenvon der neuen Grundrisswissenschaft aus. Der Architekt habe, so einer der profiliertesten Vertreter

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Küche. Diele. Bad

der neuen Wissenschaft, Gustav Wolf, nicht mehr nur Hohlräume und das Knochengerüst des Hauses zu entwerfen; der Architekt dürfe auch nicht mehr nur in Zimmern und Fluren denken und planen, vielmehr solle er „das Wohnen, die Lebensform selbst“ entwerfen.2 Es ging in dem sozial­ orientierten Wohnungsbau der Zwischenkriegszeit um eine Verwissenschaftlichung der Grundrissbildung, die auf einer Objektivierung der Grundrisseigenschaften beruhte. Die funktionale Wohnung im sozialen Wohnungsbau wurde jetzt zum wissenschaftlichen Laboratorium der Architekten. Sie führten Bewegungsstudien durch, um möglichst kurze Wegstrecken zu ermitteln. Dies hatte zur Folge, dass die für vielfältige Nutzungen offenen Wohnküchen häufig durch funktionale Küchen ersetzt wurden. Während heute Wohnküchen oder offene Wohnsphären eine neue Wertschätzung erfahren und von den exklusiven Küchenherstellern als Orte des Erlebnisses und der Kommunikation ästhetisiert werden, blieben die funktionalen Küchen ausschließlich Orte der Nahrungszubereitung. Die Haushaltswissenschaftlerin Erna Meyer, die eng mit Bruno Taut zusammengearbeitet hatte, forderte eine „innere Umstellung der Hausführung durch Erziehungsarbeit an uns selbst“3. All diese Bestrebungen der Architekten wurden durch Wohngesetze und Förderrichtlinien gestützt. Die Standardwohnung hatte nun eine In­ nen­­­toilette und ein kleines Bad zur Körperrei­


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