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Alternsgerecht statt altersgerecht
Der Karl-Marx-Hof: Wohnungsergänzungs- und Gemeinschaftseinrichtungen
Abb. 12
Die »Gemeindebauten des Roten Wien«, große Hausanlagen wie der Karl-Marx-Hof mit oft mehr als 1000 Wohnungen, unterschieden sich mit ihren zentralen großen, grünen Höfen bereits in ihrer städtebaulichen Konzeption von der gründerzeitlichen Blockrandbebauung und ihren dicht verbauten Innenhöfen. Die Wohnungen in den Wiener Arbeitermietskasernen, die »Zinshäuser«, wurden durch lange Gänge erschlossen, an denen sich jeweils auch eine »Bassena« (Wasserentnahmestelle) befand. Im Gegensatz zu diesen viergeschossigen Gangküchenhäusern wurden in den Gemeindebauten maximal vier Wohnungen pro Geschoss erschlossen. An die Stelle der Gangküche traten natürlich belichtete und belüftete Küchen, zu deren Standardausstattung eine Spüle mit Fließwasser gehörte. In Ergänzung zu den relativ kleinen, einfach ausgestatten Wohnungen, in deren Wohnungsverband sich ein Vorraum, zwei bewohnbare Zimmer und eigenes WC, aber kein Bad oder Dusche befanden, entstanden in den Wohnanlagen – entsprechend den gesellschaftsreformerischen Überlegungen der Sozialdemokraten – vielfältige gemeinschaftliche Einrichtungen. Zu diesen gehörten u. a. Zentralwaschküchen, Badeeinrichtungen, Einrichtungen zur Kinderbetreuung, Vortragssäle, städtische Bibliotheken, Vereinslokale, Ambulatorien sowie Praxen zur medizinischen Versorgung und Geschäftslokale.
Abb. 12 Grundriss Karl-Marx-Hof, Wien (A) 1930, Karl Ehn Abb. 13 Die Anlage bot Wohnraum für ca. 5500 Bewohner. Karl-Marx-Hof, Wien (A) 1930, Karl Ehn Abb. 14 Bevölkerungsentwicklung in Deutschland Abb. 15 durchschnittliche Lebenserwartung von Männern und Frauen zum Zeitpunkt der Geburt in Deutschland
Abb. 13
12 Glaser 2009, S. 64 13 Kruse / Wahl 2007, S. 16 14 Gemittelter Durchschnitt von Männern und Frauen. Datenquelle: Statistisches Bundesamt BiB 2015
Parallel zu den Prozessen der räumlichen Ausgrenzung von Funktionen und Personen aus dem Haushalt fand ein Prozess der Eingrenzung statt. Bestimmte, vor allem die Körperlichkeit und Emotionalität betreffende Verhaltensweisen, wurden aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt und in den privaten Bereich der Wohnung verlagert. Die Wohnungstür wurde zur Schwelle, die die Privatheit und Intimität der Familie vor Dritten schützt. Mit der Reduktion der Haushaltsmitglieder auf unmittelbar miteinander verwandte Personen und der Intensivierung, Emotionalisierung und Intimisierung der innerfamiliären Beziehungen veränderte sich auch das Schamverhalten. Körperlichkeit wurde den Blicken entzogen. Bad und Schlafzimmer als eigene Raumkategorien entstanden, womit sich die Tendenz zur Separierung von Funktionen auch innerhalb der Wohnung fortgesetzt hatte.
Heute stellt die zunehmende Flexibilisierung von Arbeitszeit und Arbeitsort die strikte Trennung von Erwerbsarbeit und Wohnen wieder infrage. Die Wohnung bzw. das Wohnhaus verlieren ihren ausschließlich privaten Charakter und gewinnen als Orte des vermehrten Aufenthalts an Bedeutung. »Der Wohnraum erhält erneut vielfältige öffentliche und private Funktionen: Arbeitsplatz und Erholung, Rückzug, sozialer Austausch, Kontakte, Sicherheit sowie Identitätsstabilisierung. Unser Wohnen wird wieder zum Ort gemischter Tätigkeiten [...]«.12 Die Wohnung wird, nicht nur für Ältere, sondern auch für andere, wie beruflich Selbstständige, (temporär) Erwerbslose etc., zum räumlichen, lebensweltlichen Mittelpunkt, von dem aus einerseits Teilhabe und Interaktion erfolgen und der andererseits aber auch ein Rückzugsraum vor ungewünschten Einflüssen der Außenwelt ist.