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Kolumne

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DIE PANDEMIE ALS CHANCE FüR DIE ORGANISATIONSKULTUR

Die letzten eineinhalb Jahre waren eine extreme Belastungsprobe und rüttelten bei vielen Organisationen an den Grundfesten. So waren fast alle Organisationen gezwungen, gewohnte Arbeitsweisen und -routinen stark anzupassen oder vollständig aufzugeben. Die Pandemie war das Ende eines bislang tief verankerten Arbeitsmodells und ein Einschnitt, der bewährte Routinen und wertvolles Wissen unbrauchbar machte. Die vorhandene Zeitspanne für die notwendigen Anpassungen kann aus Organisationsperspektive leicht mit einem Wimpernschlag verglichen werden.

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Wie gut eine Organisation mit der Situation zurechtkam, hing stark von der vorhandenen Organisationskultur ab. Mit Organisationskultur ist hier ein Grundverständnis aller Mitglieder gemeint, das bei der Bewältigung von Problemen und Innovationsaktivitäten aufgebaut wurde. Die Kultur ist bindend für alle Organisationsmitglieder, wird an neue Mitglieder weitergegeben und umfasst rationale und emotionale Elemente. Kern der Kultur ist ein gemeinsames Werteverständnis. Die Organisationskultur ist folglich nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Identität oder die Seele einer Organisation.

Diese Identität bestimmte die Stärke der Resilienz von Organisationen und damit die Fähigkeit, mit der Situation umzugehen. War beispielsweise Anpassungsfähigkeit bereits Teil der bestehenden Identität, konnte schnell und angemessen reagiert werden. Betonte die vorhandene Organisationskultur hingegen die Bewahrung des Status quo, konnten große Umstellungsschmerzen die Folge sein, da so nur langsam notwendige Anpassungen vorgenommen und akzeptiert wurden.

Unabhängig von der Eignung der Kultur gelangten viele Organisationen nach dem Erreichen eines akzeptablen Arbeitsmodus an den Punkt, an dem Führungskräfte und Mitarbeiter begannen, die eigene Organisationskultur kritisch zu hinterfragen. Hatte sich die Kultur als hinderlich erwiesen, wurden Überlegungen angestellt, wie man die Kultur anpassen müsste, um in Zukunft besser reagieren zu können. War die Organisationskultur ein Schlüssel zur Lösung, stand die Frage im Raum, ob die vorhandene Kultur auch jetzt noch zukunftsfähig sei. Selbst jetzt, wo eine Rückkehr in das vorherige Arbeitsmodell wieder in den Bereich des Möglichen gerückt ist, verschwindet dieser Gedanke nicht. Schließlich sind die Auswirkungen wie das hybride Arbeiten und die gewonnenen Erfahrungen auch zukünftig bestimmend für das Geschehen in Organisationen. Neben der Eignung der Kultur für die Bewältigung dieser Turbulenz wirkten die Folgen der Pandemie wie eine Sammellinse auf mögliche Probleme der vorhandenen Kultur. So nahmen Organisationen wahr, dass sie eventuell nur bedingt in der Lage sind, ein Gefühl der Zugehörigkeit herzustellen. Dies konnte sowohl (potenziell) neue als auch existierende Mitglieder betreffen. Bei der Integration von neuen Mitgliedern bestand die Unsicherheit, wie diese zu bewerkstelligen sei. Wie sollten die Personen Teil des Teams werden und sich auch als solches fühlen. Organisationen stellten fest, dass es für neue Mitglieder oftmals keinen strukturierten Einstieg in die Organisation gab, der an den Werten der Organisation ausgerichtet war und Personen angemessen sozialisiert. Gab es einen Prozess, war dieser vielleicht nicht geeignet, um unter Pandemiebedingungen zu greifen. Eine erfolgreiche Auswahl, Integration und Sozialisation waren dann eher ein glücklicher Zufall.

In Bezug auf bestehende Mitglieder wurde augenscheinlich, dass auch hier ein Gefühl der Zugehörigkeit nicht immer geschaffen wurde. Dychtwald, Erickson und Morison heben beispielsweise in einem Harvard Business Review-Artikel das Paradoxon hervor, dass trotz der demografischen Gegebenheiten und der daraus bekannten Konsequenzen für die Altersstruktur in Organisationen ältere Menschen in Organisationen häufig (unbewusst) diskriminiert werden. Manche kommunizierten Werte der Kultur wirken auf ältere Mitarbeiter befremdlich, da gerade Qualitäten betont werden, die stereotypisch jüngeren Menschen

Prof. Dr. rer. pol. habil. Christian W. Scheiner

Institutsdirektor Universität zu Lübeck - Institut für Entrepreneurship und Business Development

zugesprochen werden. Geschaffene Strukturen der Organisation bevorzugen zusätzlich die Entwicklung und die Lebenssituationen jüngerer Mitarbeitender.

Probleme der Organisationskultur traten durch die Pandemie auch in Bezug auf Eltern zu Tage. Auch bei diesen konnte das Gefühl der Zugehörigkeit zur Organisation durch die Organisationskultur geschmälert sein. Bestehende Routinen und Rituale der Organisation waren vielleicht nur schwer in Einklang mit dem Familienleben zu bringen. Besprechungen nach 16 Uhr oder gemeinsame Team-Events in den Abendstunden sind hier nur sehr einfache Beispiele aus der Vor-Pandemiezeit. Manchmal verhinderten auch Falschannahmen in Bezug auf die Produktivitätsleistung von Vätern und Müttern, dass sich diese, gemessen an ihren tatsächlichen Leistungen, in der Organisation entwickeln konnten. Stattdessen wurden Personen in Führungspositionen berufen, die sich schlicht einfacher in den geforderten Arbeitsrahmen einfügten. Dass hier tatsächlich Falschannahmen existiert haben können, kann am Beispiel einer großzahligen Forschungsstudie mit über 9000 Teilnehmenden der Federal

Welche Organisationskultur besitzen wir? Den Ausgangspunkt bildet die Überprüfung der aktuellen Kultur; und so einfach diese Frage zu beantworten scheint, so selten sind sich Personen bewusst, welche Organisationskultur tatsächlich gegeben ist. Zu leicht kann man glauben, dass die offizielle und kommunizierte Kultur die gelebte ist. Ein einfacher Test liefert hier einen guten Hinweis: Fragen Sie Kolleginnen und Kollegen unvermittelt nach den Werten der Organisation und beurteilen Sie die Antworten. Reserve Bank of St. Louis verdeutlicht werden. In der Studie wurde über einen Zeitraum von 30 Jahren der Zusammenhang zwischen Elternschaft und Produktivitätsleistung untersucht. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass Väter mit zwei und mehr Kindern produktiver waren als kinderlose Männer und Väter mit einem Kind. Bei Müttern waren die Ergebnisse noch eindeutiger. Mütter wiesen fast über den gesamten Zeitraum eine höhere Produktivität als kinderlose Frauen auf. Die produktivste Gruppe waren Mütter mit zwei Kindern. Eine Studie der Beratungsfirma Valoir kam weiterhin zu dem Ergebnis, dass der Produktivitätsverlust bei Eltern im Vergleich zu kinderlosen Personen während der Pandemie im Homeoffice geringer ausfiel. Auch wenn diese Erkenntnisse um die Unvollständigkeit der eigenen Organisationskultur im ersten Moment unangenehm klingen und eine Abwehr- oder Abwertungsreaktion hervorrufen können, stellen diese Erkenntnisse eine großartige Chance dar. Führungskräfte und Mitarbeitende können das gewonnene Wissen nutzen, um eine zukunftsfähige Organisationskultur zu entwickeln und zu implementieren. Hier empfehle ich, sich mit vier Fragen selbstkritisch auseinanderzusetzen.

1.

3. Ist die Vermittlung der Werte und der Kultur noch zeitgemäß? Auch wenn die Werte- und Kulturvermittlung in der Vergangenheit ein Erfolgsmodell war, bedeutet dies nicht, dass dies auch für die Zukunft gilt. Durch die Pandemie wurden Instrumente geschwächt oder sogar obsolet. Als Beispiel kann hier das Bürolayout genannt werden. Wenn sich die Mitglieder der Organisation nur noch selten oder gar nicht mehr am Arbeitsplatz aufhalten, verliert dieses Instrument an Wert. Vielleicht sind auch die gewählten Geschichten zur Vermittlung der Kultur nicht mehr schlagkräftig.

2. Weist die Organisationskultur (unbewusst) benachteiligende Elemente auf? An den genannten Beispielen konnte man sehen, wie schnell eine etablierte Kultur hinderlich für einzelne Gruppen oder für die gesamte Organisation sein kann. Man sollte daher die Kultur mit vielen unterschiedlichen Personen besprechen und sensibel auf Hinweise achten. 4. Sind alle Mitglieder der Organisation angemessen eingebunden? Das Design der Organisationskultur und ihre Umsetzung können als ein absolutes Meisterstück gesehen werden. Zum Gelingen des Meisterstücks braucht man aber sowohl in der Entwicklungs- als auch der Implementierungsphase alle Personen der Organisation. Man sollte sich deshalb fragen, ob der Prozess tatsächlich integrativ und umfassend ist. Ist dies nicht der Fall, läuft man Gefahr, Wichtiges zu übersehen.

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