Die Kaserne in Basel

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david tr´Ef´ as

die Kaserne in basel der bau und seine Geschichte Christoph Merian Verlag


Die Kaserne in Basel



david tr´Ef´ as

die Kaserne in basel der bau und seine Geschichte

Stiftung pro Klingentalmuseum Basel (hg.) Christoph Merian Verlag


Impressum Diese Publikation erscheint anlässlich der gleichnamigen Ausstellung vom 26. Mai bis zum 14. Oktober 2012 im Museum Kleines Klingental in Basel. Bibliografische Information der Deutschen National­ bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN  978-3-85616-570-3

© 2012 Christoph Merian Verlag Alle Rechte vorbehalten; kein Teil dieses Werkes darf in irgendeiner Form ohne vorherige schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Lektorat: Rosmarie Anzenberger, Basel Gestaltung: Sibylle Ryser, www.sibylleryser.ch Satz: Katrin Ginggen, Basel Fotos: siehe Bildnachweis, S. 158 Lithos: bildpunkt AG, Fredi Zumkehr, Münchenstein Druck: gdz AG, Zürich Bindung: Eibert AG, Eschenbach Schriften: Scala, Corporate S Papier: Olin Regular 150 g/m2 www.merianverlag.ch


Inhalt

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Einleitung

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Basel an der Schwelle zur Moderne

38

Die Architektur der Kaserne

66

Das Milit채r in der Kaserne

102

Die Kaserne und die Stadt

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Ein Zwischenhalt im Jahr 2012


Einleitung

Am Anfang der Geschichte der Kaserne im Jahr 1860 steht das epochale Projekt, die Stadt Basel für die Moderne zu öffnen und den Kanton Basel-Stadt in die neue Eidgenossenschaft einzubinden. Denn obwohl 1848 inmitten eines konservativen und reaktionären Europas ein liberaler Schweizer Bundesstaat entstanden war, verblieb Basel im selbst gewählten Abseits. Die Gründe dafür sind allgemein im grösseren Zusammenhang der europäischen Geschichte des 19. Jahrhunderts und speziell in den Basler Trennungswirren von 1833 zu finden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war ganz Europa geprägt vom Kampf zwischen den Kräften, welche den Ideen der Aufklärung und der Französischen Revolution anhingen, und jenen, welche die vorrevolutionären Herrschaftsformen des Ancien Régime wiederherstellen wollten. Auch in der Eidgenossenschaft hatten die Ideen der Französischen Revolution 1798 in der Helvetik eine kurze Realisierung erlebt. Doch mit ihrem Ende und dem endgültigen Sieg über das napoleonische Frankreich sowie der Neuordnung Europas am Wiener Kongress 1815 erhielten in der sogenannten Restauration konservative Kräfte politischen Auftrieb. Dennoch gärte es in den folgenden Jahrzehnten weiter, und in den liberalen Revolutionen von 1830 wurden viele Schweizer Kantone von politischen Unruhen erschüttert. Unter anderem in Zürich, Schaffhausen und Schwyz kam es beinahe oder zeitweilig zu Kantonstrennungen; der Kanton Basel jedoch brach tatsächlich auseinander. Basler Truppen hatten im August 1833 an der Hülftenschanz gegen liberale Baselbieter eine empfindliche militärische Niederlage erlitten.


Unter dem Diktat der eidgenössischen Truppen, welche die innere Ordnung wiederherstellten, wurde die Abtrennung der Landschaft von der Stadt durchgesetzt. Die Kantonstrennung hatte Basel nicht nur einschneidende Verluste auf allen Gebieten beschert, sie wurde auch als massive Kränkung empfunden. In der Stadt waren fortan liberale Ideen nicht mehr salonfähig. Die herrschenden alten Familien und die Zünfte erlebten eine nachhaltige Stärkung ihrer Position, das Festhalten an der Stadtummauerung liess die konservative Haltung zu einer regelrechten Festung werden. Doch die liberalen Ideen waren nicht verschwunden: Die Bevölkerung der Stadt wuchs seit Mitte des Jahrhunderts vor allem durch liberale Zuwanderer aus dem Baselbiet und der badischen und Elsässer Nachbarschaft an, die allerdings – da nicht im Besitz des Basler Bürgerrechts – nicht wahlberechtigt waren. Gleichzeitig kündigte sich eine Verkehrsrevolution an, als die Eisenbahnen aus drei Richtungen an die Stadtmauern pochten. In den Jahren 1856/57 musste die Stadt von eidgenössischen Truppen während des Neuenburgerhandels gegen Preussen verteidigt werden. Diese drei Faktoren bewegten die Regierung letztlich zu Reformen. Mit dem Beschluss im Jahr 1859, die Stadtmauern niederzureissen, sollte die Moderne Einzug halten, Basel von einer mauerbewehrten Bürger- zu einer offenen Einwohnerstadt werden. Wenige andere Gebäude symbolisieren diese für Basel schicksalhaften Jahre so eindrücklich wie die Klingentalkaserne. Dieses noch heute markante Bauwerk an der Kleinbasler Uferpromenade erzählt eine reiche Geschichte. Erbaut wurde es in den Jahren 1860  –  1863 vom Basler Architekten Johann Jakob Stehlin d.J. auf dem Gelände des weitgehend abgerissenen Klosters Klingental. Der Bau wurde zu einem überragenden Wahrzeichen von Kleinbasel. Zusammen mit dem Pulverturm im Waisenhaus bei der heutigen Wettsteinbrücke markiert er 6 | 7


die Grenze zwischen dem mittelalterlichen Stadtkern und den neuen Quartieren aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Als Ensemble von Gebäuden, die einen grossen, freien Platz umrahmen, ist die Anlage einzigartig in einer Stadt, die nur mit wenigen grosszügigen Plätzen aufwarten kann. Zudem verkörpert das Areal – obwohl zunächst am Stadtrand gelegen – von Beginn weg den Ort einer gesellschaftlichen Avantgarde: Als reiches Frauenkloster war es im Mittelalter Burg des Gebets und zugleich Ausdruck eines alternativen weiblichen Lebens­ entwurfs, als Kaserne stand es in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts für den Anschluss des Kantons an die junge Eidgenossenschaft, als einer eigentlichen Funktion beraubtes Gelände war es ab den 1960er-Jahren der erste Ort in der Stadt, wo sich freie Kultur und zivilgesellschaftliche Initiativen entwickeln konnten. In den letzten fünfzig Jahren hat die Kaserne unterschiedliche Institutionen, kulturelle Gruppen, Ateliers, Restaurants und vieles mehr beherbergt. Aber der Betrachter kann heute noch alle drei historischen Nutzungen des Kasernenareals erleben. Sie überlappen und ergänzen sich. Das Zusammenspiel von religiöser, militärischer und kultureller Vergangenheit und Gegenwart widerspiegelt gewissermassen auch die Geschichte Kleinbasels, wenngleich die Kaserne immer das öffentliche Leben weit über Kleinbasel hinaus beeinflusst hat. Trotz ihrer kulturellen und historischen Bedeutung ist jedoch bisher eine angemessene Würdigung ausgeblieben. Dieses Versäumnis möchte das vorliegende Buch nachholen. In vier Kapiteln fragt es nach der Rolle der Kaserne in der Stadt, ihrer Architektur und ihrer militärischen und zivilen Nutzungsgeschichte.


Am Anfang steht die Beschäftigung mit dem Standort der Kaserne, der heute inmitten der Stadt liegt. Bereits der Ratschlag vom 31. März 1860, in welchem der Kleine Rat dem Grossen Rat den Neubau empfahl, zielt auf diese Fragen: «Welches sind nach unseren örtlichen und militärischen Einrichtungen die massgebenden Verhältnisse einer neuen Kaserne? Und: wohin ist eine solche am zweck­ mässigsten zu verlegen?» Bereits kurz nach der Gründung des

Klingentalklosters im Jahr 1274 sollte für die Errichtung des vorgesehenen geräumigen Areals die Stadtmauer erweitert werden. Diese Besonderheit ist dem Standort geblieben, denn auch der Neubau der Kaserne fiel in eine Zeit der Stadterweiterung. Nicht nur war der Entscheid zur Öffnung der Stadt im vorausgegangenen Jahr getroffen worden – bereits seit 1855 hatte sich zwischen dem alten Kleinbasler Stadtkern und dem ersten Badischen Bahnhof auf dem heutigen Messegelände ein neues Quartier entwickelt, die Stadtmauern und Stadttore wurden sukzessive abgerissen und in die alten Gewerbeareale kamen die ersten Hochöfen für die Färbereien. Heute markiert die Kaserne die Grenze zwischen der mittelalterlichen Stadt und dem im späten 19. Jahrhundert entstandenen Matthäusquartier. Ein weiteres zentrales Thema bildet die Würdigung der vielfältigen Aspekte der Architektur. So folgt die Ausrichtung der Kasernenanlage dem alten klösterlichen Gelände. Dazu gehören die gegen den Rhein und den Klingentalgraben hin teilweise durch Mauern abgeschlossene Hofanlage und ein an den Kreuzgang erinnernder, nach Osten offener Vorhof des Hauptbaus. Die Kaserne nimmt aber auch eine städtebauliche Funktion als die Stadt abschliessendes Gebäude ein, was sich unter anderem an den mit Zinnen versehenen Türmen festmachen lässt. Zugleich orientiert sich der Bau an der zeitgenössischen Schweizer Militärarchitektur, wie sie die Kasernen von Aarau, Thun oder Frauenfeld repräsentieren, und seine militärische Funktion wird in der eher kargen Ausgestaltung 8 | 9


sichtbar. Schliesslich verweisen einige Architekturelemente auf die Integration Basels in die Eidgenossenschaft, beispielsweise die Brunnentröge und die Zinnenformen auf den Türmen, welche Schweizerkreuze andeuten. Jedoch finden sich am Gebäude auch Stilelemente der Basler Neugotik. In diesem Zusammenhang wird grosses Augenmerk auf die Entstehungszeit und den Architekturwettbewerb gelegt. Denn die Kaserne repräsentiert eines der ersten öffentlichen Gebäude aus der Zeit des jungen Bundesstaates. Zudem ist sie als einziges im Stadtzentrum verbliebenes militärisches Gebäude zu würdigen. Und nicht zuletzt steht sie da als ein Frühwerk des genialen Basler Architekten Johann Jakob Stehlin, der insbesondere mit seinem ‹Kulturzentrum› mit Stadtcasino, Kunsthalle und Stadttheater in den 1870er-Jahren einen Meilenstein neubarocker Architektur in der Schweiz schuf. Primär wurde die Kaserne vom eidgenössischen Militär genutzt. Die Militärorganisation Basels, aber auch die Belegung der Kaserne waren geprägt von der jeweiligen Gesetzgebung des Bundes beziehungsweise der Organisation der eidgenössischen Truppen. Zwar fiel der Bau der Kaserne in eine Zeit, in welcher der Kanton noch bedeutende Kompetenzen in militärischen Fragen hatte. Er verlor diese schrittweise in den kriegerischen Ereignissen der nächsten achtzig Jahre: Der Neuenburgerhandel 1856/57, der Deutsch-Französische Krieg 1870/71, vor allem aber die beiden Weltkriege führten zu grundlegenden Veränderungen der schweizerischen Militärorganisation. Die räumlich engen Verhältnisse verhinderten, dass Basel im 19. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Waffenplätze der Schweiz wurde. Da die Kaserne für viele Truppengattungen nicht geeignet war, wurden hier ab den 1880er-Jahren fast nur noch Sanitäts­truppen ausgebildet.


Dennoch stellt die Kaserne ein bedeutendes militärisches Wahrzeichen dar. Sie ist die erste Kaserne in Basel, die nur für diesen Zweck erbaut wurde – frühere waren in umgenutzten Gebäuden von ehemaligen Klöstern untergebracht gewesen. Und sie erlangte sowohl während der Grenzbesetzungen in den Weltkriegen als auch in den sozialen Unruhen des frühen 20. Jahrhunderts eine Schlüsselposition in der Stadt. Als die erstarkende Arbeiterbewegung im Bürgertum Umsturzängste auslöste, beherbergte die Kaserne jene Soldaten, die ‹Ruhe und Ordnung› durchsetzen mussten. Dieses düstere Kapitel der Stadtgeschichte hat sie auch zum Erinnerungsort für die Geschichte der sozialen Kämpfe in Basel gemacht. Nach dem Abzug des Militärs aus der Kaserne im Jahr 1966 standen Gelände und Gebäude breiten Nutzungsmöglichkeiten offen. Schon früher hatten gross angelegte städtebauliche Pläne das Kasernenareal tangiert. Tatsächlich ist der Wunsch nach dessen Neugestaltung beinahe so alt wie das Gebäude selbst, doch stritten sich die Befürworter einer kommerziellen Nutzung (die unter anderem ein Parkhaus vorsah) mit jenen einer öffentlichen Nutzung (worunter beispielsweise ein Volkspark verstanden wurde). Auch der gesuchte Kompromiss von Wohnund Geschäftsräumen, verbunden mit einer Grünfläche, löste kontroverse Diskussionen aus. Ab Ende der 1970er-Jahre begann sich die Auffassung durchzusetzen, dass man die alten Gebäude einfach weiter­ nutzen könnte – eine Idee, die auf jahrelanger Erfahrung beruhte. Denn bereits vor dem Abzug des Militärs hatte die provisorische Zwischennutzung durch Künstlerateliers begonnen. Das Gelände wurde vom Warenhaus Globus und seinem Tochterunternehmen Interio über Jahre als Provisorium gebraucht, das Basler Stadttheater nutzte Stallungen zeitweise als Kulissenmagazin. Eine Reihe weiterer Nutzungsinitiativen bereicherten das Gelände: Die erste Kinderkrippe der Schweiz, 10 | 11


eine Moschee, ein Jugendtreffpunkt, ein Quartiertreffpunkt, ein Ausstellungsraum und vieles mehr wurden verwirklicht. Die Interessengemeinschaft Kasernenareal IKA verwaltete und beherbergte eine grosse Zahl von Einzel- und Kollektiv­ initiativen. Seit ihrem Gründungsjahr 1980 setzt die Kulturwerkstatt Kaserne ihre kulturellen Schwerpunkte auf Tanz, Theater und Musik. Vor allem die freie Szene findet hier Auftrittsmöglichkeiten. Das Konzept des ‹Ent-stoh-lo› aus den 1970er-Jahren wurde in den 1990er-Jahren durch jenes des gemanagten Kulturbetriebs ergänzt. Schliesslich dient das Gelände immer mehr auch der Eventkultur: Zirkusveranstaltungen, die Herbstmesse oder in jüngster Zeit das Militärmusikfestival Tattoo. Heute beschreibt der Regierungsrat das Kasernenareal als «einzigartiges städtisches soziokulturelles Zentrum von grösster Bedeutung für das Kleinbasel, die ganze Stadt und die Region Basel». Das Areal habe grosses Potenzial, das bei Weitem noch nicht ausgeschöpft sei. Es kann als Arena verstanden werden, in der unterschiedliche Bedürfnisse aufeinandertreffen, ohne dabei das Gleichgewicht zu verlieren. Auch heute ist die Zukunft des Gebäudes politisch nicht entschieden, wobei sich die Argumentationsmuster der jüngsten Debatten historisch zurückverfolgen lassen. Längst haben die seit fast fünfzig Jahren andauernden Diskussionen gezeigt, dass die Kaserne ein für Basel zentrales Gebäude und Gelände ist. Aus diesem Grund schliesst die Darstellung mit einem Zwischenhalt, der die im Buch ausgelegten Stränge bündelt. Ziel der vorliegenden Publikation ist es, das Gebäude und das Areal in der ganzen Komplexität ihrer Bedeutung und Nutzung zu würdigen. Dabei ist die Bausubstanz als Projektionsfläche der verschiedenen möglichen Betrachtungsweisen zu verstehen. Diese unterliegen dem gesellschaftlichen Wandel. Aus diesem Grund will das Buch die unterschiedlichen Betrachtungsweisen


gleichberechtigt zur Geltung bringen, um auf diese Weise städte­bauliche Bedeutung, Architektur und Nutzungsgeschichte der Kaserne auf neue Art zu verknüpfen. Während ihrer hundertfünfzigjährigen Geschichte hat die Kaserne viele Wünsche und Nutzungen beherbergt und auch vielem widerstanden. Abgesehen von wenigen Jahren im 19. Jahrhundert stand sie niemals leer. Stets haben sich Menschen und Gruppen gefunden, die sich von den alten Gebäuden inspirieren liessen, sie belebten und bespielten. Die provisorische Zwischennutzung stellt sich aus dieser Warte als die eigentliche Konstante ihrer Geschichte heraus. Das vorliegende Buch möchte dokumentieren, erzählen und überraschen. Vor allem aber will es dazu einladen, dieses stadtgeschichtlich bedeutende Gebäude neu zu lesen und zu würdigen.

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Basel an der Schwelle zur Moderne

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Verfassung und politische Kräfteverhältnisse, 1833–1875

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts stand Basel – wie viele europäische Städte – vor bedeutenden Umwälzungen. Die Niederlassungsfreiheit als Ergebnis der Bundesverfassung von 1848 und die zunehmende Industrialisierung brachten der Stadt eine rasant wachsende Bevölkerung. Diese beanspruchte die bestehende Infrastruktur und zeigte die Grenzen ihrer Belastbarkeit auf. Insbesondere die sanitarischen Verhältnisse in der alten Stadt wurden untragbar und führten zu Epidemien. Zugleich etablierte sich die Eisenbahn als effizientes neues Verkehrsmittel, das auch das Fortschreiten der Wirtschaft beeinflusste. Als Ergebnis dieser Entwicklungen musste der alte Festungsgürtel dem Wachstum der Stadt weichen. Zudem wurden die politischen Strukturen im Zuge der Anpassung an die totalrevidierte Bundesverfassung von 1874 umfassend modernisiert. Vor diesen Umbrüchen hatte das politische System von Basel-Stadt auf der Verfassung von 1833 beruht, die der Kantons­ trennung folgte und die Dualität von Kantons- und Stadtbehörden beibehielt. Die Legislative des Kantons bildete der Grosse Rat mit 119 Mitgliedern, welche teils in Bezirksversammlungen gewählt, teils von Zünften gestellt wurden. Die Exekutive nahmen die dreizehn Ratsherren und die beiden im Jahresturnus wechselnden Bürgermeister des Kleinen Rates wahr. Beraten wurde dieser durch zehn Hauptkollegien, welche grossen Einfluss auf die Politik des Kleinen Rates ausübten. Dieses sogenannte Ratsherrenregiment war stark geprägt von einer kleinen, homogenen und wenig durchlässigen Oberschicht. Die Zahl der politisch aktiven Bürger war eng begrenzt;1 Ende der 1850er-Jahre waren noch immer die alteingesessenen Familien tonangebend. Dies zeigte sich unter anderem darin, dass von den insgesamt 134 Mitgliedern von Grossem und Kleinem Rat die ‹Partei des Fortschritts›, wie sich die Radikalen nannten, lediglich vierzig Vertreter zählte. Seit 1841 besassen


die Radikalen (von einer Partei im heutigen Sinn kann man nicht sprechen) mit der ‹Schweizerischen Nationalzeitung› beziehungsweise seit 1860 mit dem ‹Schweizerischen Volksfreund› eine kämpferisch eingestellte Zeitung, die zugleich Sprachrohr des Schweizerisch-Patriotischen Vereins Helvetia war.2 Die herrschende Schicht dagegen las entweder die konservativ eingestellte ‹Basler Zeitung› oder die eher gemässigten ‹Basler Nachrichten›. Entzweit waren die beiden Lager unter anderem bezüglich ihrer Haltung gegenüber dem jungen Schweizer Bundesstaat. Dieser war ein Projekt der Radikalen oder Freisinnigen, die in der Mehrheit der Kantone an die Macht gekommen und nach dem Sonderbundskrieg von 1847 stark genug waren, die liberale Bundesverfassung durchzusetzen. Basel stand lange Zeit in der Eidgenossenschaft abseits. Dies war vor allem dem Trauma der Kantonstrennung geschuldet, die letztlich von der Tagsatzung gegen den Willen der Stadt durchgesetzt worden war. Basel war denn auch einer der wenigen Kantone, die den eidgenössischen Truppen im Sonderbundskrieg kaum militärischen Beistand gewährten. Fortan, so heisst es bei Edgar Bonjour, blieben die Beziehungen Basel-Stadts zur Eidgenossenschaft für lange Zeit gespannt: «Von den lauten Kundgebungen der schweizerischen Liberalen, die sich in jenen Jahren zu Radikalen wandelten, hielt die Stadt kühl Abstand.»3 Die

in Basel herrschenden Konservativen standen dem Kampf der Radikalen um eine Neuverteilung der politischen Gewalt sehr kritisch gegenüber, in Bonjours Worten: «Aus den Äusserungen der Radikalen hörten die Basler das gefährliche Dogma der immerwährenden Revolution. Sie wehrten sich gegen das Überschäumen der radikalen Flut, indem sie sich nur immer fester an den Damm des geltenden Bundesvertrags klammerten. Dieser schien ihnen ihre kantonale sowie kulturelle Eigenstän­ digkeit und ihre Christlichkeit zu sichern. Beide ihnen so hochstehenden Güter hielten sie durch den Radikalismus für schwer bedroht.»4

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Diese politischen Verhältnisse, die noch die Traditionen des Ancien Régime widerspiegelten, änderten sich erstmals in den Grossrats-Erneuerungswahlen von 1858: Nun erhielten bei den Konservativen die Jungkonservativen, die das starre Festhalten an allem Althergebrachten ablehnten, die Mehrheit. Das Organ der Altkonservativen, die ‹Basler Zeitung›, musste in der Folge im Jahr darauf ihr Erscheinen einstellen. Schliesslich legten auch die Radikalen unter der energischen Führung von Wilhelm Klein bedeutend zu.5 Eine endgültige Modernisierung der politischen Vertretung brachte aber erst die Verfassungsänderung von 1875, die der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 folgte. Die neue Basler Verfassung hob die Dualität der Kantons- und Stadtbehörden auf und gewährte das Stimmund Wahlrecht auch zugezogenen Schweizer Männern. Die Wahlzünfte wurden durch Wahlkreise ersetzt. Waren bis dahin die Radikalen oder Freisinnigen in der Minderheit gewesen, so stellten sie nun die Mehrheit und sammelten die Stimmen der bisher von der politischen Teilnahme ausgeschlossenen Neuzuzüger. Erst jetzt konnten umfassende Modernisierungsprojekte wie eine Kanalisation an die Hand genommen werden. Überbevölkerung und hygienischer Notstand

Die ansteigenden Bevölkerungszahlen spiegelten die weitreichenden Konsequenzen der in der Bundesverfassung von 1848 verankerten Niederlassungsfreiheit. Bereits zur Jahrhundertmitte war Basel mit 30 000 Einwohnern die grösste Stadt auf dem Gebiet der Eidgenossenschaft. Aber in den folgenden Jahrzehnten nahm die Bevölkerung vor allem durch Zuwanderung rasant zu: Im Jahr 1860 zählte Basel 40 680, 1870 47 040, 1880 bereits 64 207 Einwohner, 1910 waren es 135 918.6 Beispielhaft lässt sich die Bevölkerungsexplosion in Kleinbasel beschreiben. Dort stieg die Zahl der Einwohner von 6000 im Jahr 1847 auf 10 200 im Jahr


Kloster Klingental Im

ehemaligen Kloster Klingental wurden seit dem 17. Jahrhundert immer wieder Soldaten untergebracht. Anlässlich der Einquartierung von eidgenössischen Soldaten während des Neuenburger­ handels 1856/57 zeigte sich, dass die Ausstattung der Kaserne den Anforderungen nicht mehr genügte.

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1860; um 1900 lebten bereits rund 42 000 Menschen rechts des Rheins. Dem Wachstum der Bevölkerung entsprach dabei das Anwachsen des bebauten Geländes, wenngleich die Bautätigkeit in den neuen Quartieren ausserhalb der alten Mauern nie mit dem Tempo der Zuwanderung mithalten konnte. Bevölkerungszunahme, Industrialisierung und wachsender Verkehr strapazierten die Infrastruktur der Stadt bis über die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit hinaus. Die Wohnungen waren überbelegt, die Strassen zu eng, die hygienische Lage verzweifelt. Dies betraf nicht nur den wohlbekannten Birsig auf der Grossbasler Seite, der oft zu wenig Wasser führte, um all die Abfälle und Fäkalien wegzutragen, sondern auch das Fehlen von Dohlen und die ungenügenden Senkgruben. In Kleinbasel «gab es sozusagen gar keine unterirdischen Abflüsse, son­ dern sämtliche Abgänge aus den Häusern wurden entweder den Teichen übergeben oder offenen Bächlein, die – aus jenen abgeleitet – träg durch die Strassen flossen und ebenso viele Kloaken darstellten inmitten der Wohnungen, die auch auf verpestetem Boden standen. Der Uebelstand war um so grösser, als es meistens ganz von der Willkür der Teichberechtigten abhing, die Bächlein, wann es ihnen beliebte, nur spärlich rinnen zu lassen oder auch völlig abzustellen.» 7 Nur zaghaft wurden Kehrichtwagen

eingeführt.8 Erst eine drohende Choleraepidemie nötigte im Jahr 1855 zur Verbesserung der sanitarischen Verhältnisse, die Epidemie verhindern konnten diese Massnahmen nicht mehr. Besonders schlimm wütete diese im übervölkerten Quartier um die Rheingasse. Dort, wo die Abwässer noch immer in Bächlein durch die Strassen flossen, wurde im Sommer 1855 durch den hohen Wasserstand des Rheins der Abfluss der wenigen Dohlen zurückgestaut. So kamen zu Gestank und Unrat auf der Strasse auch noch die Verunreinigung der Sodbrunnen und damit die Verseuchung des Trinkwassers.9


Das Wirken von Karl Sarasin und Johann Jakob Stehlin d.Ä.

Doch die Stadt stand nicht nur vor massiven innerstädtischen Problemen, sie wurde auch von aussen herausgefordert. Im Jahr 1844 erreichte die elsässische Eisenbahn von Mülhausen her die Grenze bei St. Louis. Für ihre Verlängerung nach Basel hatten sich – durchaus vorausschauend – die hiesigen Handelsleute eingesetzt. Doch der ummauerten Stadt fiel es schwer, ein geeignetes Gelände zur Verfügung zu stellen. Man entschied sich endlich für das Gebiet des Schällemätteli, das damals noch ausserhalb der Stadtmauern lag. Für diesen ersten Basler Bahnhof wurde die alte Mauer abgerissen und um das Areal herum eine neue mit einem Eisenbahntor von Melchior Berri erbaut. Im Jahr 1855 erreichte dann die badische Bahn von Norden her die Stadt. Ihr Bahnhof wurde auf dem Areal der heutigen Mustermesse angelegt, was den Abriss des Clara­bollwerks und den Neubau der Clarastrasse als Verbindung mit der Innenstadt nach sich zog. Hier verzichtete man bereits auf die Erstellung eines neuen Stadttors. Die Schweizerische Centralbahn schliesslich erhielt ihren behelfsmässigen Bahnhof vor dem Aeschentor. Es war nur eine Frage der Zeit, bis über die Verbindung der drei Eisenbahnlinien innerhalb der Stadt entschieden werden musste. Trotz heftigem Für und Wider war die verkehrspolitische Schlüsselstellung Basels allen klar und sein Aufschwung zur modernen Industrie- und Handelsstadt vorgezeichnet. Doch noch immer war die Stadt von ihrem Mauergürtel umgeben. Es bedurfte der Vision einer Handvoll Männer, die es wagten, Basel nicht nur politisch, sondern auch baulich und räumlich zu öffnen. Dazu gehörten der Fabrikant Karl Sarasin (1815  –  1886), der seit 1856 für das Bauwesen im Kleinen Rat zuständig war, und der Zimmermann und Architekt Johann Jakob Stehlin d.Ä. (1803  –  1879).

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Standestruppe Als

Resultat der Trennungswirren war in Basel 1835 eine sogenannte Standestruppe eingerichtet worden, die erst 1856 als letzte stehende Truppe in der Schweiz wieder aufgehoben wurde – zeitgleich mit den Torsperren. Die ‹Stänzler› waren in der Stadt wenig angesehen.


Der Seidenbandfabrikant Karl Sarasin wurde 1856 in den Kleinen Rat gewählt. Als Leiter des Sanitätswesens beschäftigte er sich mit den drängendsten Fragen der Hygiene nach der gerade ausgestandenen Choleraepidemie. Zwei Jahre später wurde er Leiter des Bauwesens und blieb in diesem Amt mit kurzer Unterbrechung bis 1875. Sarasin führte die ‹Entfestigung› und Erweiterung der Stadt durch. Gräben wurden eingefüllt und mit ausgedehnten Grünanlagen ersetzt, was zur Verbesserung der Raum- und Lichtverhältnisse, aber auch der Luft beitragen sollte. Von Beginn an arbeitete er an der Einführung der Kanalisation, die 1876 jedoch in einem ersten Anlauf an der Urne scheiterte. Erst um die Jahrhundertwende wurde die Kanalisation in Basel flächendeckend eingeführt.10 Johann Jakob Stehlin d.Ä. gehörte zu den Republikanern in der Stadt. Die aus dem basellandschaftlichen Benken gebürtige Familie wurde in der Helvetik eingebürgert, Stehlins Vater war ein Neffe von Johann Georg Stehlin, einem bekannten radikalen Politiker der Helvetik und Mediationszeit. Auch er selbst war ein freisinniger Politiker und stand in ausgesprochenem Gegensatz zur pietistischen und konservativen Basler Ratsmehrheit.11 Stehlin war jedoch ein Basler Patriot: Er nahm an der verlorenen Schlacht an der Hülftenschanz 1833 teil und wirkte von 1837 bis 1858 im Rang eines Majors im Militärkolle­ gium mit, das er ab seiner Wahl in den Kleinen Rat im Jahr 1847 auch präsidierte. Im Jahr 1858 wurde er zum Bürgermeister der Stadt ernannt und blieb es bis 1873. In diesen Ämtern hatte Stehlin d.Ä. massgeblichen Anteil an der baulichen und infrastrukturellen Modernisierung, die Basel den Weg zu einer modernen Grossstadt öffnete. Daneben amtete er als langjähriger Repräsentant Basels im alten und im neuen Bundesstaat. Im Jahr 1848 wurde er vom Grossen Rat als erster Basler Ständerat gewählt, von 1853 bis zu seinem Rücktritt 1875 sass er im Nationalrat, wobei er 1855 die Wahl zum Bundes­ 22 | 23



rat ablehnte. Als Liberaler setzte er sich für die Stärkung des Bundesstaates ein, trat jedoch zu stark unifizierenden Tendenzen entgegen.12 Nach seiner Wahl in den Nationalrat 1853 übernahm sein Sohn Johann Jakob Stehlin (1826–1894) das väterliche Architekturbüro und löste 1858 den Vater im Baukollegium ab, dem er bis 1875 angehörte. Johann Jakob Stehlin d.J. sollte als begabter Architekt das Bild seiner Vaterstadt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts prägen, mit Bauten wie dem Gerichtsgebäude an der Bäumleingasse, dem Missionshaus, dem ‹Kulturzentrum› am Steinenberg und der Kaserne. Das Gesetz zur Erweiterung der Stadt – das Projekt von Sarasin und Stehlin d.Ä. – wurde 1859 dem Grossen Rat vorgelegt. Es hatte nicht nur die Beseitigung eines in die Jahre gekommenen Bauwerks zum Inhalt, vielmehr vermischten sich in diesem Gesetz politische, wirtschaftliche, städtebauliche und militärische Aspekte. Die Niederlegung des Festungsgürtels wurde mehrfach begründet: mit der Bevölkerungszunahme und mit der notwendigen Verbindung zu den vor der Stadt liegenden Bahnhöfen; auch mit dem gestiegenen Bedürfnis für «wohlfeilere und zugleich luftigere und bequemere Wohnungen».13 Überdies solle mehr Vertrauen in eine funktionierende öffentliche Ordnung gesetzt werden als in die Unüberwindbarkeit der Stadtmauer – ein Argument, das als Zeichen für die Herausbildung einer funktionierenden modernen Verwaltung gewertet werden kann.14 Tatsächlich hatte die zunehmende Bebauung ausserhalb der alten Stadt die Schutzfunktion der Mauer längst

Schwelle zur Moderne

1845 präsentierte sich die Stadt Basel vor allem in idyllisierenden Stichen von Stadttoren und Sakralgebäuden. Dennoch wurden unter den Sehenswürdigkeiten auch das Hotel Drei Könige sowie der neue Bahnhof der Elsässerbahn auf dem Schällemätteli aufgeführt. Basel wandelte sich zur modernen Einwohnerstadt.

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