chilli cultur.zeit

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Heft Nr. 2/18 8. Jahrgang

VOR DEM FRÜ H LING Kinostart 29. märz 2018

Gedenkstätte

Schauspiel

Musik

Freiburg bekommt ein NS-Dokuzentrum

Die Schattenspringer feiern 20 Jahre inklusion

Michael Oertel als „Soul Sailor“


kultur

Im Herzen der Stadt Was lange währt: Freiburg bekommt ein NS-Infozentrum

E

von Erika Weisser

ine Mahn- und Gedenkstätte mit Dokumentationszentrum zur Freiburger NS-Geschichte rückt näher: Die Verwaltung hat dem im vergangenen November von allen Fraktionen gestellten Antrag, zeitnah eine Konzeption für einen solchen Lern- und Gedenkort vorzulegen und auch die notwendigen Mittel einzustellen, inzwischen entsprochen. „Wir haben ein erstes Grobkonzept über den inhaltlichen, personellen und räumlichen Bedarf ausgearbeitet“, sagt Sozial- und Kulturbürgermeister Ulrich von Kirchbach auf chilli-Anfrage. Dieses wurde just am Erscheinungstag dieser Ausgabe, am 15. März, in einem Gespräch zwischen Dezernenten und Stadträten erörtert.

solle zuerst intern im Fraktionsgespräch diskutiert werden. Die endgültige Konzeption werde laut von Kirchbach „ohnehin erst in einem Beteiligungsverfahren mit allen relevanten Gruppen“ erstellt, das gleich nach dem Grundsatzbeschluss gestartet werden soll. Zu diesen Gruppen zählt er etwa die Jüdischen Gemeinden, die Stolperstein-Initiative des Ehepaars Meckel, die entsprechenden Seminare der Universität, die Landes­zentrale für politische Bildung, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes sowie Lehrerinnen und Lehrer von Schulen, die sich schon mit diesem Gedenken befasst haben. Nach deren Mitsprache werde es im

Von Kirchbach rechnet mit

Wie in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem wird es im geplanten NS-Dokumentationszentrum in Freiburg sicher nicht aussehen. Doch die Namen und Bilder der Freiburger Opfer werden auch hier ausgestellt – gegen das Vergessen. Foto: © iStock.com/BrasilNut1

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Noch vor der Sommerpause, großer Zustimmung gibt sich von Kirchbach zuversichtlich, könne mit einem Grundsatzbeschluss gerechnet werden. Gemeinderat einen Umsetzungsbeschluss Er gehe davon aus, dass die Feinkonzepti- geben, mit dem er „spätestens im zweiten on des Entwurfs „zügig vonstatten gehen“ Halbjahr 2019“ rechnet. Über einen möglichen Ort wollte sich der könne: Wie der interfraktionelle Brief an Oberbürgermeister Dieter Salomon ge- Dezernent ebenfalls noch nicht äußern: Auf zeigt habe, seien sich die Stadträte in der die Suche nach der geeigneten Immobilie Sache einig, und auch im Rathaus stehe könne man sich erst dann machen, „wenn man dem Vorschlag aufgeschlossen ge- man genau weiß, welche Räume es braucht“. genüber. Er rechnet mit „großer Zustim- Ein möglicher Eröffnungstermin sei „von der mung“ zu der Konzeption, zu deren In- baulichen Investition in die Liegenschaft“ halt er indes noch nichts sagen wollte; sie abhängig, für die man sich entscheide.


Zeitgeschichte Klar sei aber, dass alles bald angegangen werden und der Ort zentral gelegen sein müsse, damit er von allen Schulen aus gut erreicht werden kann. Das sehen die Fraktionsvertreter auch so: Der Standort müsse, unabhängig davon, ob man sich für ein vorhandenes Haus entscheide oder ein neues baue, innenstadtnah sein. Darauf legen auch Marlis und Andreas Meckel großen Wert, die den ersten Stein für eine Mahn- und Gedenkstätte bereits vor 15 Jahren ins Rollen brachten: Marlis Meckel, die im Zusammenhang mit der von ihr initiierten Verlegung der Stolpersteine seit 2002 eine umfangreiche Recherchearbeit über die in der Nazizeit verfolgten und ermordeten Freiburger leistet, schlug Dieter Salomon schon kurz nach seiner ersten Wahl zum Oberbürgermeister die Einrichtung eines Erinnerungszentrums vor. Nicht zuletzt als öffentlich zugänglichen Aufbewahrungsort für all die Dokumente über die Vertriebenen und fast Vergessenen, die sie im Lauf der Jahre zutage gefördert habe. Den nächsten Vorstoß hatte 2009 die Initiative „Freiburg braucht eine Mahn- und Gedenkstätte“ gewagt. Der hatte kontroverse Reaktionen ausgelöst: Für die jüdische Gemeinde gehöre die Dokumentation der Freiburger Nazi-Geschichte ins Stadtarchiv, es gebe in der Stadt schon genug Orte der Erinnerung. Gegen einen solchen Ort hatte sich auch die Deutsch-Israelische Gesellschaft ausgesprochen.

Standorte, die von verschiedener Seite schon favorisiert, doch von Oberbürgermeister Dieter Salomon und Regierungspräsidentin Bärbel Schäfer sofort abgelehnt wurden: Das frühere städtische Verkehrsamt (Bild oben) und der im heutigen Regierungspräsidium (Bild Mitte) befindliche ehemalige Gestapo-Keller. Einstweilen erinnern dort Stolpersteine an die Geschehnisse (Bild unten).

Die erste, wieder Jahre später vorgelegte und zunächst nur verwaltungsintern gehandelte Konzeption wurde dann 2012 beschieden – abschlägig, wegen Geldmangels. Stattdessen wurde erst einmal die große Ausstellung über Freiburg in der NS-Zeit konzipiert, die von November 2016 bis September 2017 im Augustinermuseum gezeigt wurde – und mehr als 80.000 Besucher anzog. Diese Zahlen und die vielen Schulklassen, die regelrecht hingeströmt seien, sprächen für sich, finden die Meckels. Und für die Notwenigkeit, „insbesondere junge Leute, die mit der Zeit nicht einmal mehr indirekt zu tun hatten“, nicht nur an die Gräuel der Nazi-Diktatur zu erinnern, sondern, „gerade in der heutigen Zeit, auch darzustellen, wie es dazu kommen konnte“. Kurz vor der Eröffnung der Ausstellung hatte Andreas Meckel in der Synagoge einen Vortrag zur Notwendigkeit und Ausstattung eines solchen Lern- und Erinnerungsortes gehalten; an seinen Vorschlägen, die der chilli-Redaktion vorliegen, orientierten sich die Stadträte der Fraktionsgemeinschaft Unabhängige Listen, als sie im Herbst 2017 initiativ wurden und die übrigen Fraktionen für das gemeinsame, uns gleichfalls vorliegende Schreiben an den Oberbürgermeister gewannen. „Wir sind“, heißt es darin, „verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass sich die heutigen und künftigen Generationen mit der Geschichte Freiburgs in der NS-Zeit detailliert befassen, um für eine verantwortungsvolle Zukunft eintreten zu können.“ Diese Zukunft beginnt nun mit dem Fraktionsgespräch.

Fotos: © Erika Weisser

80.000 Besucher bei Ausstellung „National­sozialismus in Freiburg“

Info Aktuelle Informationen ab Freitag, 16.3., unter chilli-freiburg.de März 2018 chilli Cultur.zeit 53


schauspiel

Auf der Bühne sind alle gleich „Die Schattenspringer“ machen seit 20 Jahren inklusives Theater

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von Tanja Senn

ie erste inklusive Theatergruppe des Landes ist dem Teenageralter entwachsen. Seit 20 Jahren spielen bei den Schattenspringern geistig, körperlich und „normal“ Behinderte – wie sie in der Gruppe heißen – Seite an Seite. Was einst ganz klassisch mit der Aufführung eines Shakespeare-Stücks begann, hat sich mittlerweile zu einem außergewöhnlichen Konzept weiterentwickelt. Kein Autor und kein Regisseur entwickeln die Figuren, sondern die Schauspieler selbst. „Wenn ich in den Spiegel schaue, erkenne ich die Wahrheit“, sagt Stefan Boris Birk eindringlich und lässt den Blick durch den Gemeindesaal schweifen. Plötzlich weicht die ernste Miene einem verschmitz-

Foto: © Taro Herbel

Auf der Bühne sind alle gleich: Die Schattenspringer bei ihrem vergangenem Stück „Le Café D’Amour“ mit dem langjährigen Schauspieler ­Stefan Boris Birk in ihrer Mitte.

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ten Lächeln und der Schalk blitzt in den Augen des 51-jährigen Spastikers auf – ganz so, wie man es von einem Till Eulenspiegel erwartet. „Mir sitzt auch manchmal der Schalk im Nacken“, sagt der Schattenspringer der ersten Stunde, „deshalb habe ich mir die Rolle ausgesucht.“ Neben dem modernen Eulenspiegel sitzen an diesem Abend 15 Schauspieler im Proberaum. Darunter ein Detektiv, eine Flüchtlingshelferin oder eine Buchhändlerin. Aus diesen unterschiedlichen Figuren ein stimmiges Theaterstück zu machen, das

ist Aufgabe der Regisseure Wolfgang Kapp und Felix Möllenhof. „Die vielfältigen Rollen mit einem roten Faden zu verknüpfen, ist eine ganz schöne Herausforderung“, sagt Kapp. Daher dauert es auch rund zwei Jahre, bis ein neues Stück reif für die Premiere ist. Die Theatergruppe ist auch nach 20 Jahren in ihrer Form einzigartig. Während es in manch anderem Ensemble zusätzliche Proben mit den eingeschränkten Schauspielern gibt, machen die Schattenspringer hier keinen Unterschied. „Das Schöne ist, dass die Grenzen verschwimmen“, so Kapp, der seit Anfang an für die Regie zuständig ist. Mit ihrem nächsten Stück steht die 16-­köpfige Gruppe noch ziemlich am Anfang. Die Premiere soll im März 2019 steigen. Im Anschluss geht es traditionell zu Festivals in ganz Deutschland und dem nahen Ausland. Nach Aufführungsmöglichkeiten müssen die Schattenspringer nicht lange suchen. „Mittlerweile haben wir uns einen Namen gemacht und bekommen immer wieder Anfragen“, freut sich Kapp. „Dass unser Projekt mal so große Kreise zieht, darauf hätte ich vor zwanzig Jahren nicht gewettet“, zeigt sich auch Produktionsleiter Bertram Goldbach begeistert. Neue Mitglieder sind nach wie vor willkommen. „Manche schauen erst mal zu, andere sind gleich Feuer und Flamme“, erzählt Möllenhof, der, wenn er nicht gerade Regie führt, Heilpädagogik studiert. „Das ist vollkommen in Ordnung. Bei uns herrscht kein Leistungsdruck, jeder kann sich so einbringen, wie er möchte.“ Und der moderne Till Eulenspiegel alias Birk: Wird er die nächsten zwanzig Jahre noch auf der Bühne stehen? Die Antwort gibt er in bester Dinner-for-One-Manier: „Well, I’ll do my very best.“

info Jubiläumsfeier Freitag, 20. April, 18–20 Uhr ABC-Saal, Maienstr. 2, Freiburg


Bürgertreff

Alt und Neu unter einem Hut Historisches Stubenareal in St. Georgen wird zum Kultur-, Bürger- und Vereinshaus umgebaut

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er Wunsch nach Räumlichkeiten war schon lange da, bald geht er in Erfüllung: Das Stubenareal im Freiburger Stadtteil St. Georgen wird bis 2019 für 6,2 Millionen Euro als Kultur- und Vereinshaus saniert. Herzstück wird ein multifunktionaler Saal sein. Ein großer Gewinn für Vereine und Bürger, denn diese finden wieder Platz für Proben, Veranstaltungen und Bürgertreffen. Baustellenzaun und Toiletten-Häuschen, von Bauarbeiten fehlt vier Wochen nach dem Spatenstich aber noch jede Spur. In etwa 17 Monaten soll dort die neue Dorfmitte entstehen. Neben der ehemaligen „Stube“, früherer Sitz des Vogtes und des Rathauses, sollen auch das Gemeindesekretariat und die Wirte-Wohnung saniert werden. Das Erdgeschoss der Scheune ist für kleinere Läden vorgesehen. Auch ein Café mit Außenbewirtung ist geplant. Im mittleren Geschoss werden Lagerflächen für Vereine und Technik­ räume geschaffen. In das Dachgeschoss kommt ein vielseitig verwendbarer Saal mit bis zu 179 Sitzplätzen und einer gläsernen Fassade. „Für Vereine und Bürger wird dort eine neue Heimat geschaffen. Allen

Modern: So soll das Herzstück des Kultur- und Vereinshauses aussehen. Foto: © iba / Visualisierung: © Stadt Freiburg

von Isabel Barquero Beteiligten war es wichtig, mitten in St. Georgen ein zentrales Haus für die bürgerschaftliche Nutzung zu errichten“, sagt Bruno Gramich, Leiter des städtischen Liegenschaftsamtes. Das Nutzungskonzept und die Gestaltung wurden in enger Abstimmung mit dem Bürgerverein und den anderen Vereinen im Stadtteil erarbeitet. Der Bedarf nach Räumlichkeiten ist schon seit langer Zeit groß. „Der Musikverein ist am stärksten betroffen. Der Verein war in den zurückliegenden Jahren auf verschiedene Schulen angewiesen. Manchmal war nicht klar, ob die Proben dort gehalten werden konnten“, erzählt Peter Lenz, der Projektbeauftragte des Bürgervereins. Auch die Räume vom alten Bahnhöfle waren vorgesehen – bis die Mieten erhöht wurden und das Freiburger Rathaus dafür nicht mehr aufkommen wollte. 2011 stellten die Stadtteilleitlinien die Weichen für die Umgestaltung des Stubenareals. 2014 wurde der Umbau verkündet – mit der Fertigstellung im Jahr 2017. Daraus wurde nichts, auch weil sich Anwohner wegen des Lärms gegen die Baugenehmigung wehrten. Finanziert wird der Umbau zu zwei Dritteln aus dem städtischen Haushalt. Hinzu kommen zwei Millionen Euro aus der Konzessionsabgabe der Badenova. „Besonders innovativ wird das Energiekonzept für die Stube, das

Heruntergekommen: Aktuell sieht das Stubenareal noch sehr gespenstisch aus.

federführend vom Umweltschutzamt erarbeitet wurde. Wir setzen auf Photovoltaik und eine Holzpellet-Anlage“, erklärt Gramich. Dadurch könne man etwa 60 Prozent Energie sparen. Aufgrund des Denkmalschutzes bleibt die Bausubstanz des Areals, mit Ausnahme der Westseite, äußerlich unverändert. „Die Scheune bekommt eine gläserne Fassade. Diese Seite wird das architektonische Highlight und zeigt, wie man Alt und Neu gut unter einen Hut bringen kann“, sagt Lenz. Durch die Sanierung soll die Blumenstraße attraktiver gemacht werden. Lenz will aber nicht nur den Geschäften eine bessere Chance geben. Auch kulturell soll nach 20 Uhr wieder mehr Leben einkehren, aktuell sei der Stubenhof abends nur dunkel.


Musik

Segeln für die Seele Michael Oertel will mit Debütalbum Wellen schlagen

Foto: © David Hulik

S

o smooth wie möglich. Mit dem Satz beschreibt Michael Oertel seine Musik. Der 29 Jahre alte Freiburger setzt auf leise Töne, Laidback-Tracks und feinfühlige Texte. Anfang März ist sein Debütalbum „Soul Sailor“ erschienen. Im Proberaum erzählt der Blues-Folk-Pop-Musiker, warum die Produktion eine gefühlte Ewigkeit gedauert hat und er gerne mal in Sydney spielen würde.

von Till Neumann

Sucht die Balance: Für Michael Oertel ist Musik eine spirituelle Sache. Zwei Mal hat der Gitarrist ein Studium abgebrochen. Jetzt lebt er von und für Musik.

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Ein Mann. Eine Sonnenbrille. So präsentiert sich Michael „Michi“ Oertel auf dem Cover seiner Platte. Nachdenklich wirkt das, in sich ruhend. Die zehn Tracks des Albums fassen das in Töne: bluesig-folkige Gitarren, entspannte Keys, Selbstreflektion. Musik ist für den Freiburger eine spirituelle Sache. „Was sonst?“, sagt er und lacht. Wie er Gefühle und Emotionen erzeugen kann, hat Oertel in den vergangenen Jahren intensiv erprobt. Kaum ein Musiker ist in der Region so oft zu sehen wie er. Mit Gitarre und Band spielt er Bühne für Bühne, probiert Songs aus, feilt an Ideen. Schon vor rund einem Jahr stand das Release seines Erstlings im Raum, doch Fans mussten sich gedulden. „Ich habe kein Millionenbudget“, sagt Oertel beim Besuch in seinem Proberaum in Kappel-Grafenhausen. Ohne großes Geld müsse man eben kleine Schritte machen. Seine Musiker hätten auch andere Engagements. Nicht jeder sei bei „Freund-

schaftsdiensten“ immer verfügbar. Zudem wollte sich Oertel Zeit nehmen, die Lieder reifen lassen, selbst wachsen. So sind die Tracks der Platte schon drei, vier Jahre alt. Doch Oertel strahlt: „Ich bin happy, die Songs machen was mit mir.“ Sein Gitarrist Ralph Küker ist überzeugt: „Das wird vielen gefallen.“ So offensiv würde der Bandleader das nicht formulieren. Zu bescheiden ist Oertel. „Mein Talent ist hier unten, die Vision da oben“, fasst er zusammen und unterstreicht den Abstand mit einer Handbewegung. Dabei halten nicht wenige große Stücke auf ihn. So auch die Freiburger Blues-­Koryphäe Tino Gonzales. Der 67-jährige Produzent hat Oertel vor rund acht Jahren zum ersten Mal spielen sehen. Seine Reaktion: „Wow, was ein Talent.“ Über die Jahre wurde er Mentor und Weggefährte des Gitarristen. Und stand ihm für „Soul Sailor“ mit Rat und Tat zur Seite. „Michi is very honest“, betont Gonzales. Neben der Ehrlichkeit schätzt er dessen Virtuosität und Lernfähigkeit. Jetzt, wo das Album da sei, müsse der junge Musiker sich um die Vermarktung kümmern: „It’s publicity now“, betont Gonzales. Oertel weiß, dass er eine Schippe zulegen muss. Zurzeit schaut er sich nach Management und Bookern um. In Sachen Öffentlichkeitsarbeit gibt es Aktivere als ihn. Ein professionelles Video zum Album gab es bisher nicht.


pop/Rock Wichtiger ist Oertel die Balance. „Manchmal musste Tino mich antreiben, dann wieder abbremsen“, sagt er. Er wisse nicht, ob er die goldene Mitte wirklich gefunden hat, es gehe ihm aber gut. Mit diesem Gleichgewicht möchte er sich an die Vermarktung machen: „Ich will mehr ins Business kommen“, sagt der Mann mit dem Fünftagebart. Überregionale Einladungen wären toll, mit den Bandkollegen pushe man sich gegenseitig. Er sei aber vor allem dankbar, schon so weit gekommen zu sein. Der gebürtige Tuttlinger ist Autodidakt. Nach dem Abi schmiss er erst ein Informatikstudium in Karlsruhe, dann ein Ethnologiestudium in Freiburg. Die Gitarre war wichtiger. Die Eltern meinten, er solle was Gescheites machen. Er wollte jedoch morgens nicht aufwachen und sich sagen: „Wäre ich doch Musiker geworden.“ Eine Weile hielt er sich mit Nebenjobs über Wasser, arbeitete als Hausmeister in der Jazz- und Rockschule Freiburg. Seit rund zwei Jahren verdient er genug, um sich voll auf die Musik zu konzentrieren. In Freiburg fühlt sich dafür bestens aufgehoben: Hier könne er regelmäßig spielen und werde bezahlt. In Berlin sei das nicht möglich. Auch Blues-Radiomacher Arne Bicker und die Blues Association helfen ihm dabei. „Das war meine erste Anlaufstelle hier in Freiburg“, erinnert sich Oertel. So lernte er Bassist Lukas Steinmeyer kennen, der noch immer für ihn spielt.

Hübsche Tramperin aus der Ukraine inspiriert ihn Seine Musik passe in keine Schubladen – oder in viele, findet Oertel. Er mache Pop, Blues, Funk, Soul, Folk. Facettenreich zu sein, ist ihm wichtig. Genau wie Tiefgang: Der Titeltrack Soul Sailor erzählt von seiner Selbstsuche auf hoher See, „Natasha“ widmet er einer „reizenden Dame aus der Ostukraine“, die er einst als Tramperin in Italien mitnahm, und „City Lights“ beschreibt Entschleunigung und Zufriedenheit. Die stärkste Message schickt er mit dem Slow-Down-Track „Hope Love will find me“ in die Welt hinaus. Ein Appell für mehr Liebe und Zusammenhalt. Hätte er die Wahl, würde Michi Oertel gerne mal im Sydney Opera House spielen. Wegen der Location, aber auch wegen Australien. Da war er drei Mal und ist begeistert: Man kann am Strand einfach ein bisschen laufen, schon ist man alleine. Von dort aus könnte er auch in See stechen. Segeln für die ­Seele. Wohin es geht, entscheidet der Wind.

Verlosung Michael Oertel feiert am Freitag, 13. April, Releaseparty im Kulturaggregat. Dafür verlost das chilli drei „Soul Sailor“-Alben. Wer gewinnen will, schickt bis zum 2. April eine Mail mit dem Betreff „Soul Sailor“ an redaktion@chilli-freiburg.de. Die Gewinner werden per Mail benachrichtigt. märz 2018 chilli Cultur.zeit 57


e n g a a n r F ... 4

Haze

Unit Records

Alte Schule

Talk!

Die Zwielicht LP

Foto: © tln

... Debbie Ela

the swindlers

Zu wenig Frauen

Es lebe der König

Düster in die Charts

„Über den Frauenanteil sollten wir dringend mal reden.“ So kommentierte Deborah Ewert die zwölf Freiburger Tracks des Jahres im chilli. Die 30-jährige Studentin macht als „Debbie Ela“ Musik und ist die erste Frau im Vorstand der Musikerinitiative Multicore. Sie sagt: In Freiburg sind zu wenig Frauen auf der Bühne. chilli-Redakteur Till Neumann hat gefragt, warum das so ist.

(Till Neumann). Lasst uns reden. „Talk!“ ist eine Einladung zum Gespräch. Erst mal wird aber zugehört. Die Freiburger Klangkünstler widmen sich auf ihrer Platte der legendären Progressive-Rock-Band King Crimson. Die Briten gelten als äußerst virtuos und wandelbar, werden über Genregrenzen hinaus gefeiert – der kommerzielle Erfolg blieb ihnen aber verwehrt. Den peilen „The Swindlers“ auch nicht an. Die vier Musiker legen jedoch ein Album vor, das nicht nur ­Jazz-, Rock- oder Crimsonfans gefallen dürfte. Genüsslich groovt das Quartett im ersten Track „Cat Food“ vor sich hin. Kontrabass, Percussion und Saxophon umgarnen Jan F. Kurths Stimme. Im zweiten Song wird’s experimenteller: Da taucht man tief ein in die rhythmische Vielfalt der Crimsons. Das Spiel aus Reduktion und Brüchen wird Mainstreammusikhörern Spanisch vorkommen. Die Materie ist in der Tat komplex. Ein intensiver Gegenpol zu durchdesigntem Radiosound. Die vier suchen den perfekt-imperfekten Groove. Es geht über Stock und Stein, hoch und runter. Folgt man der Truppe, gibt’s viel zu entdecken: Es geht zu Nonsens babbelnden Dickhäutern („Elephant Talk“), in eine melancholische Manege („Cirkus“) und zum jazzig-schleichenden Dukaten­ esel („Easy Money“). Querkopfmusik mit nerdigen Noten.

(Till Neumann). Er zeigt sich gerne mit Pitbull. Die Videos werden nachts gedreht. Böse Blicke sind Standard. Rapper Haze lebt in Karlsruhe, hat sein Album „Die Zwielicht LP“ aber größtenteils in Freiburg gemacht, wo er einige Jahre lebte. Fernab von badischer Harmonie rappt er auf düstere Beats mit trockenen Drums, erzählt Geschichten von der Straße. Es geht um Drogen, Gewalt und Kriminalität. Als Gäste sind unter anderem Sido, Nate57 und Eazyono aus Freiburg dabei. Sein vernebelter Straßenrap kommt an. Das Album landete auf Anhieb auf Platz drei der Charts. Dabei schwimmt der badische Rapper mit kroatischen Wurzeln nicht im angesagten Trap­ strom: Sein Boom-Bap-Style klingt nach 90er-Jahre, kommt ohne Effektspielereien aus. Die Technik ist geschliffen, der Flow stabil. „Ich steh auf, atme Rauch, bisschen kämpfen mit dem Pit / meine Hände voller Bisse wie ein Emo, der sich ritzt“, rappt er in „Leise“. Lines wie diese hat David Bosnjak am Fließband, seine Endlosgeschichten gehen ins Ohr. Das Manko der Platte: Inhaltlich erfährt man nach drei Tracks nur wenig Neues. Zumal wird ein mehr als fragwürdiger Lifestyle vorgelebt. Das Leben im „Ghetto“ mag cool klingen. Pitbull-Bisse und Psychosen sind es sicher nicht.

Debbie, waren unsere Tracks des Jahres schlecht ausgewählt? Nein, aber das tat schon ein bisschen weh. Der Artikel hat schwarz auf weiß ein Problem bestätigt, das mich schon länger beschäftigt. Zu wenig Frauen auf Freiburgs Bühnen ... Genau. Ich habe mich damit in einer Hausarbeit beschäftigt. Meine Auswertung der Bands bei freiburg.stadtbesten.de hat gezeigt: Von 84 Bands waren 354 Musiker männlich, nur 26 weiblich. 22 davon Sängerinnen. Das ist richtig bitter. Beim Festival Freiburgs Beschde war auch keine Frau dabei. Woran liegt’s? Mein Eindruck ist, dass die meisten Veranstalter männlich sind. Und die meisten Bands hier eben männlich besetzt sind. Diese Dominanz schreckt Frauen ab. Viele trauen sich nicht auf die Bühne. Ich will keine Schuldfrage stellen. Sauer werde ich nur, wenn ich höre: Frauen sind einfach schlechter. Was kann man tun? Aktuell plane ich mit Kolleginnen ein Frauenfestival, bei dem nur Musikerinnen auftreten. Die meisten Reaktionen sind sehr positiv. Wenn es klappt, könnte es noch dieses Jahr realisiert werden. 58 chilli Cultur.zeit märz 2018


Naked Cameo

Sebastian Block

Futuresfuture

Timezone Records

Of Two Minds

Wo alles begann

Der Sounddreck ... ... zum verbotenen Sounddreck Headline Das Dieselfahrverbot für deutsche Städte hat uns zu der längst überfälligen Forderung nach der Durchsetzung von Auftrittsverboten für „Künstler“ gebracht, die die Mindest­ geschmacks­untergrenzen regelmäßig überrespektive unterschreiten.

Start im Spagat

Berliner Balladen

(Tanja Senn). Eine Newcomerband, die mit ihrer ersten Single gleich die Spitze der Spotify Viral Charts in Österreich erklimmt und in Deutschland Platz 6 ergattert: Naked Cameo hat mit „Luddite“ schon ordentlich von sich Reden gemacht. Das Debütalbum „Of Two Minds“, das seit Anfang März auf dem Markt ist, wird sicherlich ebenso einschlagen. Schließlich sind die vier Wiener ihrem Stil treu geblieben: englischsprachige Gute-Laune-Popsongs gemischt mit akzentuiert eingesetzten Elektro-Sounds. Mal fallen die elektronischen Elemente stärker aus, wie bei „Son House“ mit seinen flächigen Synths. Mal bewegen sich Lukas Maletzky, Maria Solberger, Patrick Pillichshammer und Jakob Preßmair eher in die R’n’B-Ecke, wie beim radiotauglichen „Coming for Me“. Alles in allem ist ein Album aus einem Guss entstanden. Dennoch ist es so abwechslungsreich, dass man es getrost in Endlosschleife laufen lassen kann, ohne dass Langeweile aufkommt. Poppig-souliger Höhepunkt ist der Song „Phony“ mit seinen treibenden Synths und Gitarrenriffs im Hintergrund, an dem man sich kaum satthören kann. Es ist nicht der einzige Naked-­Cameo-Song, der virtuos den Spagat zwischen massentauglich und unverwechselbar schafft. Respekt!

(Clémence Carayol). Sebastian Block macht Musik seit Teenagertagen. 2006 gründet er die Band Mein Mio, 2009 wird er Profimusiker. Nun legt der Sänger mit „Wo alles anfing“ sein drittes Studioalbum vor. Zehn Songs hat der 38-Jährige dafür komponiert. Die Platte oszilliert zwischen nos­ talgischen Impulsen und eingängigen Harmonien. Neben Gesang und Gitarre mischen auch Synthesizer mit. Indie, Folk, Pop und Rock geben sich die Klinke in die Hand. Nach einem sphärischen Intro lädt „Warum rufst du nicht an?“ zum Tanzen ein. Block erzählt von Momenten des Wartens, leeren Blicken und Sehnsucht. Am Ende vibriert das Handy – sein Publikum dürfte da längst nicht mehr stillstehen. Mal flüstert Block, mal singt er träumerisch, mal wird die Stimme kratziger wie bei „Die Nacht kennt keine Farben“. Mit „Alles für mich“ liefert er eine Liebeslied-Ballade für Mondschein-Romantiker. „Mein Wille“ startet elektronisch als Slow-­ Motion-­Track. „So nah“ ist dafür jazzig und wehmütig. Die Stärke des Albums: Man weiß nie, was als Nächstes kommt. So erzählt der Berliner Geschichten aus dem Alltag eines empfindsamen Hauptstadtmusikers. Deutsch-­Pop, der berührt, ohne spektakulär zu sein.

Dies beträfe in erster Linie und zu großen Teilen die Ballermann-Après Ski- und Karnevals­musikszene, die sich in der Regel vordringlich an der Freizeitbeschäftigung Numero Uno der Deutschen, dem Saufen, thematisch abarbeitet. Knapp dahinter folgt der ebenfalls überaus beliebte Themenbereich Kopulation & Geschlechtliche Interaktion. Aktuell wären hier Ingo ohne Flamingo zu nennen „Morgens, mittags, abends, ich will saufen, der Hahn muß laufen, saufen, ich kann schon wieder laufen, ich muß saufen ...“, dann der unverbesserliche Micki Krause „Geh mal Bier holen, du wirst schon wieder hässlich“ oder auch Peter Wackel „Kenn nicht deinen Namen, scheißegal – besoffen.“ Mallorca, Sankt Anton und Freiamt ohne TeuTonidioten – ein Segen. Das Problem bei Verboten ist oftmals leider, dass sich nicht daran gehalten wird und dann wieder alles von vorne losgeht: Man wieder neue Verbote erlassen muss, die verbieten, dass man Verbote missachtet und so weiter und so fort. Ein Wahnsinn! Wir arbeiten trotzdem dran, das lassen wir uns nicht verbieten. Verbotenst, für Ihre Gemackspolizei, Ralf Welteroth


kino

In der Geschichtsstille Christian Petzold verlegt Anna Seghers’ Flucht­ roman „Transit“ von 1941 in das heutige Marseille

Transit Deutschland 2017 Regie: Christian Petzold Mit: Franz Rogowski, Paula Beer, Lilien Batman u. a Verleih: Piffl Laufzeit: 101 min. Start: 5. April 2018

60 chilli Cultur.zeit märz 2018

A

nna Seghers’ geschichtszeitloser, 1941/42 verfasster Fluchtroman „Transit“ ist in die richtigen Hände geraten: Christian Petzold hat aus dem vielschichtigen Werk einen Film gemacht, der – ganz nah am literarischen Original – eindringlich zeigt, was die Notwendigkeit zur Flucht mit den betroffenen Menschen macht, wie die damit verbundene Erfahrung von Lebensgefahr, Todesangst, Entsolidarisierung, Verfolgung und Ungewissheit das Verhalten von Flüchtenden bestimmt. Und dass, solange es diktatorische Regimes, Verteilungskämpfe, Ausbeutung und Kriege gibt, Flucht zu jeder Zeit und an jedem Ort Thema sein kann. Er bedient sich dazu eines ebenso einfachen wie verblüffenden Tricks: Er verlegt die Geschichte, die im Marseille der 1940er Jahre spielt, in das Marseille von heute: Die Flüchtlinge, die die Hafenstadt am Mittelmeer in der Hoffnung auf einen Transit nach Übersee bevölkern, gehen durch zeitgemäße Viertel mit breiten Straßen und modernen Autos; dabei wirken auch die allenthalben patrouillierenden Polizisten sowie die Bediensteten der diversen Botschaften und Konsulate wie Leute von heute. In dieser Stadt strandet nach einer risiko- und entbehrungsreichen, von Paris ausgehenden Irrfahrt durch das von den Nazis besetzte Frankreich auch der Hauptprotagonist. Der aber, anders als in Seghers’ Roman, wo er als namenloser Ich-Erzähler einer ebenfalls anonymen Zufallsbekanntschaft das Fluchtstück sei-

nes Lebens schildert, einen Namen hat: Georg. Und der ist kein Zufall: Petzold bezieht sich im Film auf den zur Emigration aus Nazideutschland gezwungenen Schriftsteller Georg K. Glaser, der in seiner Autobiographie „Geheimnis und Gewalt“ von einer „Geschichtsstille“ schrieb, die ihn plötzlich umgab. In diese Geschichtsstille gerät Georg nach seiner Ankunft in Marseille. Er hat weder Ziel noch Plan – bis auf zwei Aufgaben: Er muss die Familie seines unterwegs verstorbenen Fluchtgenossen von dessen Tod unterrichten. Außerdem will er bei der mexikanischen Botschaft ein auf den Namen des Schriftstellers Weidel ausgestelltes Visum für zwei Personen abgeben. Dieses Visum war zusammen mit Weidels Reisepass und einem unvollendeten Buchmanuskript in Georgs Hände gelangt, als er ihm kurz vor seiner Abreise aus Paris ein paar Briefe überbringen wollte. Und zu spät kam: Er hatte sich das Leben genommen. Bei der Botschaft wird Georg indessen als legitimer Inhaber der wertvollen Reisedokumente angesehen – also passt er sie sich selbst an. Und als sich die mysteriöse Frau, die bei seinen Streifzügen durch die Stadt immer wieder seine Wege kreuzt, als Weidels Frau entpuppt, reift in ihm der Plan für eine gemeinsame Emigration aus Europa. Ein ganz ausgezeichneter Film, an dem gleich zwei gebürtige Freiburger beteiligt sind: Franz Rogowski als Hauptdarsteller und Bettina Böhler als Montagechefin.

Fotos: © Schramm Film/Marco Krüger

von Erika Weisser


KINO

KINO FILMTIPPS

1000 Arten, Regen zu beschreiben

voll von der Rolle Foto: © Klaus Polkowski

Der Hauptmann

Foto: © Weltkino

Deutschland 2017 Regie: Robert Schwendtke Mit: Max Hubacher, Frederick Lau u.a. Verleih: Weltkino Laufzeit: 119 Minuten Start: 15. März 2018

Foto: © Film Kino Text

Deutschland 2017 Regie: Ilsa Prahl Mit: Bibiana Beglau, Bjarne Mädel u.a. Verleih: Film Kino Text Laufzeit: 92 Minuten Start: 22. März 2018

Kein Schnee von gestern

Vor verschlossener Tür

(ewei). „Ich bin nichts, ich kann nichts – gebt mir eine Uniform!“ Dieser Sponti-Spruch der 1980er Jahre trifft in Robert Schwendtkes Film über ein grauenhaftes Kriegsverbrechen ins Schwarze: Im Frühjahr 1945 findet ein junger, vermutlich gerade desertierter und nach geglückter Flucht vor ein paar Offizieren ziellos herumirrender Gefreiter die Uniform eines Hauptmanns. Er zieht sie an – und gewinnt unversehens eine nie gekannte Autorität: Der gerade 19-Jährige wird zum Befehlshaber einer Truppe weiterer versprengter Wehrmachtssoldaten. Rasant entwickelt er sich zu einem zynischen Sadisten; mit seinem radikalisierten, zur „Kampftruppe Herold“ aufgewerteten Haufen zieht er marodierend durch das Emsland, nimmt willkürlich Erschießungen vor und ordnet ein fürchterliches Massaker im Strafgefangenenlager Emsland II an, wobei er selbst Hand anlegt. Ein drastischer, schonungsloser Anti-Kriegsfilm, der in die Tiefen menschenmöglicher Abgründe geht – und unter die Haut.

(ewei). Der Protagonist, um den sich alles dreht, tritt kein einziges Mal in Erscheinung: Seit seinem 18. Geburtstag hat sich Mike in seinem Zimmer verschanzt und verlässt es nur noch nachts, wenn er sich unbeobachtet fühlt, um aufs Klo zu gehen. Er kommuniziert weder mit seinem Vater noch mit seiner Mutter, die bald keinen anderen Lebensinhalt mehr hat als sein Wohlbefinden – und ständig Tabletts mit liebevoll zubereitetem Essen vor seine zugesperrte Tür stellt. Der jüngeren Schwester Miriam schiebt Mike gelegentlich Zettel unter der Tür durch – allerdings geben sie keinen Aufschluss über den inneren Zustand des Eingeschlossenen: Darauf sind nur kryptische Botschaften über bestimmte und sich ständig wandelnde Erscheinungsformen des Regens zu finden. Die Familie verrennt sich gegenüber Nachbarn, Freunden und Verwandten in ein arg konstruiertes Lügengebäude über den abwesenden Sohn und Bruder; alle drei versuchen auszubrechen – jeder auf seine Art. Befremdlich.

Mit Geige und Klavier im Kino: Günther A. Buchwald

Der Mann am Klavier (ewei). Es begann vor 40 Jahren. Am 11. März 1978 spielte Günter A. Buchwald bei einem ganz neuen Projekt zum ersten Mal in seinem Leben öffentlich Live-Musik zu einem Stummfilm: Wallace Worsleys Produktion „Der Glöckner von Notre Dame“ aus dem Jahr 1923. Die Super8-Kopie dieser Literaturverfilmung flimmerte im Theatercafé über die Leinwand: Zu jener Zeit hatte das Kommunale Kino, in dessen Auftrag sich der damalige Musikhochschulstudent mit Hauptfach Geige ans Piano setzte, seine Spielstätte noch nicht im Alten Wiehrebahnhof, sondern – zweimal monatlich – in der heutigen Friedrich-Weinbrenner-Gewerbeschule. In den folgenden Jahren machte der inzwischen 65-Jährige seine bei dieser persönlichen Premiere erwachte Begeisterung für die Live-Begleitmusik zu Stummfilmen zum Beruf. Und obwohl der Interpret, Dirigent und Komponist von Stummfilmmusik inzwischen auf allen einschlägigen Festivals zu Hause ist und weltweit als Meister seines Fachs gilt, ist er den Kommunalen Kinomachern treu und verbunden geblieben: Von den mehr als 3000 Filmkonzerten, die Buchwald seither gegeben hat, bestritt er etwa 400 in dem kleinen Kino in seinem Wohnquartier Wiehre: Seine monatlichen Auftritte gehören dort zum festen Repertoire; sie sind immer gut besucht oder gar ausverkauft, die Freiburger Fangemeinde der Stummfilmrenaissance ist groß. Mit ihr feiert der Künstler nun sein 40. Bühnenjubiläum – mit einem ausgewählten Stummfilmprogramm und anschließendem „get together“ in der Galerie: Samstag, 17. März 2018, 19.00 Uhr.

März 2018 chilli Cultur.zeit 61


kino Vor dem Frühling

Foto: © Neue Visionen

Das Mädchen aus dem Norden

Foto: © temperclayfilm

3 Tage in Quiberon

Foto: © Prokino

Georgien 2017 Regie: George Ovashvili Mit: Hossein Mahjoub, Lika Babluani u.a. Verleih: Neue Visionen Laufzeit: 97 Minuten Start: 29. März 2018

Schweden, Norwegen 2016 Regie: Amanda Kernell Mit: Cecilie Sparrok, Hanna Alström u.a. Verleih: temperclayfilm Laufzeit: 110 Minuten Start: 5. April 2018

Deutschland 2018 Regie: Emily Atef Mit: Marie Bäumer, Birgit Minichmair u.a. Verleih: Prokino Laufzeit: 100 Minuten Start: 12. April 2018

Selbstzweifel als Antriebkraft

Flucht vor Diskriminierung

Balanceakt auf den Klippen

(ewei). Etwa ein Dutzend Männer bahnt sich mühselig einen Weg durch den knietiefen Schnee einer atemberaubenden Gebirgslandschaft. Rucksäcke tragen sie, manche von ihnen auch Gewehre, einer hat nur eine Aktentasche bei sich. Irgendwann gelangen sie an ein einsames Haus – und haben Glück: Der Bewohner, ein alter Mann, nimmt sie bereitwillig auf. Er gewährt ihnen Nachtasyl, denn er ist ein Anhänger des Mannes mit der Aktentasche: Swiad Gamsachurdia, der erste georgische Präsident nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion, der infolge eines Militärputschs ins Exil ging, jedoch zurückkehrte und einen Aufstand gegen seinen Nachfolger versuchte. Nach dessen Scheitern befindet er sich nun mit ein paar Getreuen und Soldaten erneut auf der Flucht. Immer weiter führt der Weg durch den Kaukasus, immer weniger Begleiter bleiben dem Mann, dessen Name nie genannt wird. Und so wird der Film zu einer beeindruckenden Studie über einen Menschen, der an sich zu zweifeln beginnt.

(ewei). Elle Marja ist 14 und will später als Rentierzüchterin arbeiten. So, wie die meisten der im hohen Norden Skandinaviens ansässigen Angehörigen ihrer Volksgruppe, der Samen, es seit Jahrhunderten mit großem Erfolg tun. Doch vorerst muss sie noch zur Schule gehen; zusammen mit ihrer Schwester Njenna besucht sie eine Internatsschule in Nordschweden. Einfach haben es die beiden dort nicht: In den 1930er Jahren keimen plötzlich allenthalben merkwürdige Theorien und Diskussionen um angeblich höher- und minderwertige Ethnien und um „Rassenreinheit“ auf; als Zugehörige zu einer behauptet rückständigen Minderheit werden sie von ihren vorurteilsbeladenen Mitschülerinnen verachtet, gehänselt und ausgegrenzt. Bei einer Lehrerin sucht Elle Marja Anerkennung und Schutz vor Diskriminierung – doch dann werden im Unterricht erniedrigende „rassenbiologische“ Untersuchungen durchgeführt. Das Mädchen entschließt sich zur Flucht nach Uppsala, will als Schwedin leben.

(ewei). Als Birgit Fritsch im noblen Sanatoriumshotel in Quiberon eincheckt, ist die Frau, derentwegen sie von Wien in das bretonische Fischerdorf gereist ist, nicht erreichbar: Zerrissen von Selbstzweifeln und geplagt von den Nachwirkungen halbherziger Entgiftungsversuche verdämmert Romy Schneider den Tag im Bett. Der Jugendfreundin schüttet sie indessen bald ihr Herz aus: Sie wolle beweisen, dass sie eine zuverlässige Mutter sei, die die Finger vom Alkohol und anderen Betäubungsmitteln lassen kann, die mit ihrem Leben verantwortlich umgeht – und mit ihrem Sohn, der sie verlassen will. Ähnlich offen ist sie tags darauf – und nach durchzechter Nacht – zu einem übergriffigen Stern-Reporter, der in Begleitung des mit Schneider vertrauten Fotografen Robert Lebeck zum Interview angereist ist. Einfühlsam und überzeugend spielt Marie Bäumer den ständigen Balanceakt, den ihre berühmte, an ihren Widersprüchen zerbrochene Kollegin lebte. Eine berührende Hommage.


DVD Helle Nächte

Die Nile Hilton Affäre

Gauguin Frankreich 2017 Regie: Édouard Deluc Mit: Vincent Cassel, Thei Adamse u.a. Verleih: Arthaus/ Studiokanal Laufzeit: 97 Min. Preis: ca. 13 Euro

Deutschland 2017 Regie: Thomas Arslan Mit: Georg Friedrich, Tristan Göbel u.a. Verleih: Indigo Laufzeit: 86 Min. Preis: ca. 17 Euro

Schweden 2017 Regie: Tarik Saleh Mit: Fares Fares, Mari Malek u.a. Verleih: Eurovideo Medien Laufzeit: 106 Min. Preis: ca. 16 Euro

Kein Ende des Schweigens

Die Reise nach Tahiti

Tödliche Verstrickung

(ewei). Michael ist ein ziemlich spröder und schwer zugänglicher Mensch. Er lebt alleine in Berlin, hat nur sporadische, oberflächliche Kontakte und sieht auch seinen bei der Mutter lebenden Sohn Luis nur sehr selten. Doch er sehnt sich nach einer Intensivierung der Beziehung – und als sein ebenfalls einsam in Nordnorwegen lebender Vater stirbt, nimmt er Luis mit auf die Reise zum Begräbnis. Doch die erhoffte Annäherung ist schwieriger als erwartet. Silberner Bär 2017 für Georg Friedrich.

(ewei). Édouard Delucs Biopic konzentriert sich auf einen kleinen Ausschnitt im Leben des Malers Paul Gauguin (1848–1903). Der farbenprächtige Film stützt sich auf Reiseberichte, die er nach seinem ersten Aufenthalt auf Tahiti im Jahr 1893 geschrieben hat. Vincent Cassel überzeugt darin als ein von der Wildnis angezogener Maler, der trotz Einsamkeit und Armut, trotz Hunger und Krankheit an seinem künstlerischen Lebenstraum festhält. Auch wenn das vermeintliche Paradies manchmal zur Hölle wird.

(ewei). Der Kairoer Polizist Noredin ist mit einem mysteriösen Todesfall befasst: Die schöne Tänzerin Lalela, der eine Affäre mit einem einflussreichen, in enger Verbindung zum ägyptischen Präsidenten stehenden Politiker nachgesagt wird, wurde in einer Luxussuite des Nile Hilton Hotels gefunden – mit durchgeschnittener Kehle. Noredins Chef spricht von Selbstmord, doch der Cop ermittelt weiter und gerät in einen lebensgefährlichen Sumpf von Machtgier und Korruption. Erstklassiger Noir-Film.

Magical Mystery Deutschland 2017 Regie: Arne Feldhusen Mit: Charly Hübner, Annika Meyer u.a. Verleih: dcm Laufzeit: 107 Min. Preis: ca. 13 Euro

Django – ein Leben für die Musik

Maudie Kanada/Irland 2016 Regie: Aisling Walsh Mit: Sally Hawkins, Ethan Hawke u.a. Verleih: Eurovideo Medien Laufzeit: 116 Min. Preis: ca. 14 Euro

Frankreich 2017 Regie: Etienne Comar Mit: Reda Kateb, Bimbam Merstein u.a. Verleih: Weltkino Laufzeit: 117 Min. Preis: ca. 15 Euro

Kultiges Road-Movie

Lichte Farben in de Hütte

Virtuoser Lebenskünstler

(ewei). Karl Schmidt hat allem abgeschworen: seinen alten Kumpels, dem Alkohol, den Drogen. Und während er sechs Jahre lang clean und unauffällig in Hamburg lebte, sind seine Westberliner Freunde seit der Maueröffnung zu regelrechten Stars am Techno-Himmel aufgestiegen – mit allen in dieser Szene üblichen Nebenwirkungen. Als sie sich zufällig wiedertreffen, steht die Truppe vor einer Tour durch das Land – und braucht einen Fahrer, der nie betrunken ist. Ein unglaublicher Trip beginnt ...

(ewei). Eigentlich ist Maud Dowley mit dem Job als Haushälterin des Handlungsreisenden Everett Lewis überfordert: Sie leidet an rheumatischer Arthritis und verfügt nicht über genügend Kraft für die schwere körperliche Arbeit, die ihr stets mürrischer Arbeitgeber von ihr verlangt. Dafür bringt die unentwegt optimistische und willensstarke zierliche Frau ihr künstlerisches Talent zur Entfaltung: Sie bemalt jede verfügbare Fläche – und bringt Licht in die karge Hütte und Everetts Herz. Hinreißend.

(ewei). Während die Nazis in Deutschland, im besetzten Frankreich und im übrigen Europa Jagd auf Sinti machen und sie in Vernichtungslager deportieren, führt der Musiker Django Reinhardt 1943 in Paris noch ein relativ unbeschwertes Leben: Zu berühmt ist der Lebenskünstler, zu beliebt – auch bei so manchem Besatzer – sein GipsySwing. Außerdem wird er von einem Wehrmachtsoffizier namens „Dr. Jazz“ protegiert. Als es auch für ihn gefährlich wird, versucht er zusammen mit seiner Familie die Flucht. märz 2018 chilli Cultur.zeit 63


Literatur

Malerin der Worte Die Freiburger Autorin Iris Wolff steht an einem Wendepunkt

B

Erika Weisser

Iris Wolff So tun, als ob es regnet Otto Müller Verlag, Salzburg 2017 4. Auflage März 2018 166 Seiten, gebunden Preis: 20 Euro

„Drachenhaus“ in: Michaela Nowotnick & Florian Kühler-Wielach (Hrsg.) Wohnblockblues mit Hirtenflöte – Rumänien neu erzählen Verlag Klaus Wagenbach März 2018 240 Seiten, broschiert Preis: 13,90 Euro 64 chilli Cultur.zeit märz 2018

eachtlicher Erfolg für Iris Wolff: Ihr vor einem Jahr erschienener Roman „So tun, als ob es regnet“ kommt am 21. März schon in der vierten Auflage in den Handel. Die 40-jährige Freiburger Autorin entwickelt darin auf nur 166 Seiten eine ganz besondere, über vier Generationen und vier Ländergrenzen reichende Familiengeschichte. Mit feinem Gespür für die sprachliche Erfassung auch der kleinsten Geste und anhand von Protagonisten, deren Familienbande nur an wenigen Stellen sichtbar werden. Zunächst lässt Wolff in einem Winter des Ersten Weltkriegs den österreichischen Soldaten Jacob in einem Truppentransportzug nach Siebenbürgen fahren, „durch Dörfer, an Häusern vorbei, die ihre Dächer wie Hüte trugen“. Dort wird er bei einer sächsischen Bauernfamilie einquartiert. Henriette, die ein Dreivierteljahr danach geborene Tochter dieser Familie, gesellt sich als junge Frau zu einer (Männer-) Gesellschaft der Schlaflosen, zu Schnaps und „Geschichten, die nur nachts erzählt werden können“. Ihre Ruhelosigkeit spiegelt sich eine Generation später in dem leidenschaftlichen Motorradfahrer Vicco wider, der mit seiner Freundin Liane eine 600 Kilometer weite Fahrt ans Meer unternimmt – um ein paar Stunden mit ihr allein zu sein, fangfrischen Fisch zu essen und eine verlassene Bucht zu finden. Diese beiden lässt Wolff schließlich den Weg so vieler Siebenbürger Sachsen – auch ihrer eigenen Familie – nach Deutschland gehen. Mit der Tochter Hedda, die Schriftstellerin wird und auf eine Kanarische Insel zieht. Und immer noch so tut, als ob es regnet. Der „Roman in vier Erzählungen“ begeisterte nicht nur die Leser, die dafür sorgten, dass er innerhalb eines Jahres dreimal nachgelegt wurde. Er wurde auch von Literaturkritikern in ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz hoch-

gelobt. Von gemalten Worten ist da etwa die Rede; Denis Scheck sprach auf der ARD-Bühne der Frankfurter Buchmesse gar von dem Eindruck, „als habe Herta Müller eine schreibende Tochter“. Mit der ebenfalls in Rumänien gebürtigen Literaturnobelpreisträgerin von 2008 ist die aus dem siebenbürgischen Hermannstadt stammende Iris Wolff nicht verwandt. Doch sie freut sich über so viel Lob – und darüber, dass ihr dritter Roman „weitere Kreise zieht“. Erwartet habe sie das nicht, ebenso wenig wie das mit 12.000 Euro dotierte Literaturstipendium des Landes Baden-Württemberg, das sie vor wenigen Wochen erhielt.

Den Job beim Kulturamt hat sie gekündigt

Iris Wolff liest im Nürnberger Zeitungs-Café Foto: © Inge Alzner Hermann Kesten.

Dieses Stipendium ermögliche ihr, „das Schreiben noch mehr in den Mittelpunkt meines Lebens zu stellen“. Ende März will sie mit ihrer Arbeit beim Kulturamt der Stadt Freiburg aufhören, um sich intensiv ihrem vierten Roman zu widmen, von dem sie nur verrät, dass er im Banat beginnt. In diesen Tagen ist sie bei der Leipziger Buchmesse, wo sie mit anderen Autoren die Anthologie „Wohnblockblues mit Hirtenflöte“ präsentiert. Und mit Michael Kaiser vom Jungen Theater nach Autoren sucht, die im Oktober zum Lirum Larum Lesefest nach Freiburg kommen wollen.


FRezi

Romeo oder Julia

von Gerhard Falkner Verlag: Manhattan, 2015 496 Seiten, Taschenbuch Preis: 22 Euro

Der groSSe Plan

von Wolfgang Schorlau Verlag: Kiepenheuer & Witsch, 2018 448 Seiten, broschiert Preis: 14,99 Euro

Reue

von Sascha Berst-Frediani Verlag: Gmeiner, 2018 247 Seiten, gebunden Preis: 18 Euro

Zerbrochene Liebe

Detektiv mit Midlifecrisis

Blick nach innen

(dob). Der Buchtitel legt es nahe. Es geht hier um die Liebe, in diesem Fall um die zerbrochene, um die, an die man mit Schauder, Hass oder auch Gleichgültigkeit zurückdenkt. Und das Wörtchen „oder“ besagt, dass wohl nur einer wird überleben können: Romeo, hier der Schriftsteller Kurt Prinzenhorn, oder Julia, die unbekannte Stalkerin, die in dessen Hotelzimmerbadewanne in Innsbruck schwarze Haare zurücklässt, einen Schlüsselbund stiehlt und auch danach in Moskau und Madrid, den nächsten Stationen Prinzenhorns, für Verwirrung und Verstimmung sorgt. Gerhard Falkner, Jahrgang 1951, hat mit „Romeo oder Julia“ – der Roman schaffte es auf die Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2017 – eine gut komponierte, spannend erzählte, obsessive und mit vielen Verweisen auf Kunstgeschichte und Popkultur gespickte Erzählung vorgelegt. Weshalb liegen überall Zettel mit einer gestammelten Sprache, die vom Tod künden? Warum wird dem überaus eitlen Schreiber, dem Alter Ego Falkners, der immer zwei Flaschen Wein im Reisegepäck hat und immer den Verführer gibt, nachgestellt? In welchen Abgründen navigierte er? Und wie viel Leid hat er dabei hinterlassen? In Madrid passiert dann etwas, doch da ist Herr Prinzenhorn schon wieder im heimischen Berlin und bekommt Besuch – allerdings von keiner Schönheit, sondern von zwei muffigen Beamten der Kriminalpolizei.

(ewei). Das Warten hat für die auch in Freiburg recht umfangreiche Fangemeinde von Georg Dengler ein Ende: Bestsellerautor Wolfgang Schorlau hat dieser Tage den ursprünglich für November 2017 angekündigten neunten Fall seines Stuttgarter Privatermittlers auf den Buchmarkt gebracht. Nach der Aufdeckung grober Ungereimtheiten in den NSU-Ermittlungen ist Dengler nun mitsamt seiner nicht immer ganz legal agierenden Partnerin Olga verborgenen Machenschaften im Zusammenhang mit der milliardenschweren, sogenannten Griechenland-Rettung auf der Spur. Und stößt bei seinen Recherchen zum Entführungsfall einer Mitarbeiterin des Auswärtigen Amts auf Verstrickungen von Wirtschaft, Banken, Politik und Verbrechen, die bis in die deutsche Besatzungszeit in Griechenland von 1941 bis 1945 zurückreichen. Diese Verstrickungen sind indessen so komplex, dass Dengler, der überdies in einer für den Roman reichlich überflüssigen handfesten Midlifecrisis steckt, die Aufklärung der eigentlichen Hintergründe der Entführung der Griechenland-Expertin Anna Hartmann schlichtweg vermasselt: Er sucht zunächst auf der falschen Spur und kann sie nicht retten. Dafür gewinnt er – ­ und die Leser – verblüffende Einblicke in ein dubioses internationales System von Verschuldung, Entschuldung und Umschuldung. Und die sind nicht ungefährlich.

(tas). Sabine duftet nach Zitrone und Mai. Thomas ist der hübscheste Junggeselle im Dorf. Eigentlich würden die junge, karriereversessene Bank­angestell­ te und ihr Untermieter gut zu­sam­ men­­passen. Wenn da nicht noch Sabines Ehemann wäre. Ein alkoholabhängiger Soldat, der immer wieder jähzornige Ausbrüche hat. Als dieser Wind von der Affäre bekommt, nimmt die Tragödie ihren Lauf. Es folgen eine verscharrte Leiche, eine Verhaftung und ein Zusammenbruch. Eigentlich alles Zutaten für einen klassischen Regiokrimi. Doch Berst-Frediani, der mit seinem Erstling „Fehlurteil“ den Freiburger Krimipreis gewonnen hat, legt auch mit seinem zweiten Werk einen Roman vor, der sich deutlich abhebt. Denn hier stehen weniger die Ereignisse selbst im Vordergrund, als das Gefühlsleben der Protagonisten und Gegenspieler. In nüchterner, klarer Sprache zeichnet der Freiburger Autor und Rechtsanwalt Charaktere, von denen keiner nur Opfer oder Täter ist. Diese Innenschau nimmt leider stellenweise etwas Schwung aus der Erzählung. Und doch schafft sie es, plausibel auf ein Ende hinzuleiten, das eigentlich absurd daherkommen müsste. Denn tatsächlich gibt es nur ein Gefühl, das in diesem Krimi trotz seines Titels kaum eine Rolle spielt: die Reue. märz 2018 chilli Cultur.zeit 65


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