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HEFT NR. 4/24 14. JAHRGANG AB 23.5. IM KINO! Von Vätern und Müttern Literatur DAS IST FREIBURGS POETRY-SLAM-CHAMPION Kino
Kultur
ELTERN-EHRGEIZ AUFS KORN GENOMMEN
FREIBURG-FESTIVAL PERFORMING DEMOCRACY

Tränen als Tauschware

PERFORMING DEMOCRACY: FREIBURG-FESTIVAL NEU GEWICHTET

Dvon Lars Bargmann

SPAfrica: Das erste „Empathiegetränk“ der Welt (o.).

Die Dakh Daughters: Schräg, wild und subtil (r.m.).

Encantado – die neue Tanzproduktion von Lia Rodrigues: Kreaturen, die die Zeit durchqueren (r.u.).

er bisherige Untertitel ist nun die Headline des Freiburg-Festivals: Performing Democracy. Das internationale Festival der darstellen Künste geht vom 6. bis 16. Juni über viele Bühnen in der Stadt. Das Theater Freiburg, das Theater im Marienbad und das soziokulturelle Zentrum E-Werk haben es kuratiert. „Wir werfen uns hier für die Demokratie künstlerisch in den Ring“, sagte Sonja Karadza vom Theater im Marienbad bei der Programmpräsentation.

53 unvollständige Demokratien. Die Zahl der autoritäre Regime ist seither von 55 auf 59 gestiegen, die der vollständigen Demokratien auf 23 gesunken.

„Diese weltweite Verschlechterung des Zustands der Demokratie wurde insbesondere durch negative Entwicklungen in Nicht-Demokratien verursacht, bei-

Weltweite Verschlechterung des Demokratie-Zustands

Während die Demokratie mehr und mehr in die Defensive gedrängt wird, sind vielerorts aggressive, rechtsextreme Akteure im Angriffsmodus. 2006, so steht es im Demokratieindex, der im selben Jahr erstmals von der englischen Zeitschrift „The Economist“ veröffentlicht wurde, gab es unter 167 untersuchten Ländern immerhin 28 vollständige und

spielsweise durch den dortigen Anstieg gewaltsamer Konflikte und autoritärer Übergriffe“, meldet die Forschungsgruppe der Zeitschrift. Es ist nachvollziehbar und auch klug, dass der Untertitel zur neuen Headline wurde. Noch klüger wäre es indes gewesen, dass Festival mit etwas mehr Vorlauf zur kommenden EU-Wahl am 9. Juni steigen zu lassen.

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Foto: © Anouk Maupu

Eröffnet wird der Demokratie-Parcours mit Encantado, der neuen Tanzproduktion der brasilianischen Choreografin Lia Rodrigues, die schon vor zwei Jahren am Freiburger Theater gastierte. Ebenfalls im E-Werk-Saal kommt SPAfrica auf die Bühne, eine Performance, die untersucht, wie Kapitalismus und Rassismus verbunden sind. Julian Hetzel und Ntando Cele zeigen Tränen als Tauschgut und loten die Grenzen der Empathie aus.

Die Dakh Daughters – die seit ihrem Auftritt auf dem Maidan-Platz 2014 Kultstatus haben und seit Kriegsbeginn im Exil leben – zeigen mit Ukraine Fire „Freak Cabaret“ aus ukrainischer Folklore, Kabarett, Prog-Rock und Klassik. „Schräg, wild und subtil“, wie die Kuratorinnen wissen.

Eindrucksvoll auch die Idee von Thomas Kruppa, der Marlen Haushofers Roman „Die Wand (360 Grad)“ neu in Szene setzt und dabei dem Zuschauer eine VR-Brille auf den Kopf setzt. Silke Huysmans und Hannes Dereere zeigen den letzten Teil ihrer Trilogie über den Bergbau – den Tiefseebergbau als umkämpften Zukunftsmarkt.

Perfoming Democracy bietet an- und aufregende Gastspiele aus den Grenzbereichen zwischen Tanz, Performance, Schauspiel, Installation und Medienkunst. Es stellt wichtige Fragen nach einem demokratischen Miteinander, nach dem Verhältnis zu Natur und Klima, Krieg und Vertreibung. Ein Desiderat wäre eine Demokratie-Dystopie, wo auf dem Erdball nur noch autoritäre Regime markiert wären, der Demokratieindex schon lange nicht mehr erhoben wird – und was daraus dann für die Menschen folgt.

INFO

Die Veranstaltungen gehen im Theater Freiburg, im E-Werk und im Theater im Marienbad über die Bühnen. Das ambitionierte und mit vielen Akteuren der Stadtgesellschaft gut vernetzte Rahmenprogramm spielt auch an anderen Orten in Freiburg, etwa im DELPHI_space.

Mehr Infos: www.performing-democracy.de Wo sie sich um Kopf und Kragen reden

Krieg aus Kinderaugen gesehen: Das zeigt „Irgendwo anders“ mit Puppenspiel, Live-Video und Kreidezeichnungen des slowenischen Ljubljana Puppet Theatre. Das Stück „vermittelt die Absurdität des Krieges aus den Augen eines Kindes“, wie Sandro Lunin vom Theater Freiburg erzählte. Eine bislang wenig beleuchtete Perspektive.

Sehens- und hörenswert sicher auch das Junge Theater Basel, das sich mit dem Zitieren von Hannah Ahrendt, Ulrike Meinhof, der Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst, der Kinderrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai oder auch Friedrich Schiller „um Kopf und Kragen“ (so der Name der Performance) redet.

Das Theaterkollektiv Rimini Protokoll kommt mit Schulbesuch Europa in die Staudinger Gesamtschule (für die Öffentlichkeit nur ein Auftritt), Soya the Cow alias Daniel Hellmann wird mit Try walking in my Hooves einen Kunstspaziergang durch Freiburg unternehmen, der palästinensische Künstler Basel Zaara erzählt mit Dear Laila eine Familiengeschichte von Vertreibung, Krieg und Exil im Alltag, not standing & Alexander Vantournhout zeigen eine chaotische Bewegungslandschaft, in der auch eine Wand zur Tanzpartnerin wird.

In Depois do silêncio (After the Silence) beschäftigt sich die brasilianische Theater- und Filmregisseurin Christiane Jatahy anhand einer Romanadaption mit den Auswirkungen der Sklaverei in ihrer Heimat.

Möglich macht das Festival mit einem Budget von 330.000 Euro nahezu allein das Freiburger Rathaus. „Das Land hat nicht die Möglichkeit gefunden, das zu bezuschussen“, kritisierte E-Werk-Geschäftsführer Jürgen Eick – in vornehmer Diplomatensprache.

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Fotos: © Oleksandr Kosmach, Sammi Landwehr

Off Spaces in Freiburg

EIN

TOURGUIDE ZU DEN

UNABHÄNGIGEN KUNSTRÄUMEN DER STADT

Kuriose Orte für Kreatives:

1 Street Art en masse in der Hilda(straße) 5.

2 „Klein, aber charmant“ – das Pförtnerhaus auf dem Ganter-Areal.

3 Nicht nur von außen ein Hingucker: die Kaiserwache am Dreisamufer.

4 Das Swamp in der Talstraße 50 bietet Kunst und Kultur in gemütlicher Kneipenatmosphäre.

ff Spaces gelten als beliebter Gegenpol zu klassischen Ausstellungsräumen. Kunstschaffende, die sich nicht in der musealen Hochglanzästhetik spiegeln, können ihre Werke in den unabhängigen Kunsträumen Freiburgs ausstellen – sei es in einem Pförtnerhäuschen mit Einschussloch oder auch in einem zweckentfremdeten Toilettenhäuschen.

Einen Steinwurf vom Ballhaus entfernt liegt das Pförtnerhaus mit seiner unverkennbaren „Macke“ – der gesprungenen Scheibe. Das Einschussloch, so Kurator Jürgen Oschwald, zeuge von einer tödlichen Auseinandersetzung am Weihnachtsabend 1990. Bevor das einsame Pförtnerhäuschen auf dem Ganter-Areal zu einem belebten Ausstellungsraum avancieren sollte, verstrichen noch 25 Jahre. Dann war es schließlich so weit: Auf der Suche nach einem Atelier stolperte der bildende Künstler Florian Tathe über die exponierte Räumlichkeit im Bauhaus-Stil, die er in Zusammenarbeit mit Jürgen Oschwald zu einem Ausstellungsort für unabhängige Kunstschaffende „umfunktionierte“.

welches in Teilen vom Freiburger Regierungspräsidium bezuschusst wird.

Oschwalds wichtigstes Anliegen sei es, den Kunstschaffenden die nötigen schöpferischen Freiheiten zu gewähren, um sich in dem „kleinen, aber charmanten Innenraum mit angrenzendem Kabinett“ kreativ entfalten zu können. Die Panoramascheibe, die das panoptische Interieur umpflügt, soll auch kunstverdrossenen Passanten „einen niedrigschwelligen Zugang zur Ausstellung bieten“.

Wer das Ausstellungskonzept auch inwendig bestaunen möchte, sollte allerdings die Facebook-Seite konsultieren, denn das Häuschen öffnet seine Pforten nur auf Anfrage.

Kunst für Kunstverdrossene

Im Laufe der vergangenen neun Jahre hat sich einiges getan; zwischenzeitlich stemmte Oschwald das Projekt sogar aus eigenen Kräften. Mittlerweile zählt sein Team vier Kunstbegeisterte aus Theorie und Praxis, von denen „drei sogar professionell kuratieren“. Um aufstrebende Talente aus der Region zu fördern, unterstütze man diese mit einem „kleinen Honorar“,

Nach diesem Prinzip agieren auch die Kurator·innen der Kaiserwache – einem Off Space, der sich als obsoletes Toilettenhäuschen aus Zeiten der Weimarer Republik maskiert. Vor drei Jahren fragte das Kulturamt die damaligen Kunststudierenden Christina Sperling und Ilja Zaharov an, ob sie Lust hätten, sich des neu eröffneten Kunstraums anzunehmen. Gefragt, getan. Seit 2023 vervollständigt die bildende Künstlerin Lena Reckord das dreiköpfige Kuratorenteam.

Die Erstausstellung im denkmalgeschützten Gebäude fand bei der Biennale für Freiburg 2021 statt. Um den Ansprüchen einer Galerieatmosphäre im White-Cube-Stil gerecht zu werden,

Foto: © Mario Wachter
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Foto: © Mario Wachter

wurden Wände der Kaiserwache weiß überstrichen.

Trotz der Frischekur sei die ursprüngliche Funktion der Kaiserwache noch immer allgegenwärtig in den Köpfen verirrter Klogänger: „Viele Leute nehmen den Ort immer noch als Bedürfnisanstalt wahr. Wenn die Tür offensteht, kommen sie reingelaufen, als wäre die Räumlichkeit noch immer eine öffentliche Toilette“, erzählt Ilja Zaharov. Um diesem Anachronismus entgegenzuwirken, setzt das Kuratorenteam verstärkt auf Öffentlichkeitsarbeit.

Der Kontrast zum mitunter elitären Kunstbetrieb in Galerien und Museen ist unverkennbar – nicht zuletzt aufgrund der „inoffiziellen“ Vergangenheit des Gebäudes, das „nicht nur ein Toilettenhäuschen, sondern auch ein Cruising-Spot und beliebter Treffpunkt für Rauschgiftsüchtige war“.

Die ausgestellten Kunstwerke müssen keinen spezifischen Anforderungen gerecht werden, allerdings sollten sie mit dem „besonderen“ Naturell des Ortes vereinbar sein: „Eine Hochglanzskulptur aus Marmor wäre vielleicht fehl am Platz.“

Eine ähnliche Auffassung vertritt auch Rudi Raschke, Mitglied des Vereins „Sumpfkultur“. Letzterer habe es sich zur Aufgabe gemacht, das kulturelle Erbe des identitätsstiftenden Swamp-Gründers Carmelo „Chico“ Policicchio am Leben zu erhalten – ob in Form von Lesungen, Live-Auftritten oder Vernissagen. Der Fokus der Ausstellungen weise – Chicos Wesen entsprechend – einen popkulturellen Bezug auf: „Man kann sich sicher vorstellen, dass wir im Swamp keine Alten Meister oder die Klassische Moderne ausstellen.“

Der Verein setzt sich aus Chicos Freundeskreis zusammen und umfasst insbesondere „Leute aus Medienzusammenhängen, dem SC-Kosmos und der Kulturszene Freiburgs“. So machte sich „Chico“ nicht nur als Kneipenbetreiber einen Namen, sondern auch als Journalist sowie Kunst- und Konzertveranstalter.

Ein halbes Jahr nach seinem Ableben im Herbst 2021 hätten sich die Mitglieder von „Sumpfkultur“ entschlossen, das Kunst- und Kulturleben im Swamp mit einem breitgefächerten Programm erneut ins Leben zu rufen. Als Kultureinrichtung sei es dem Verein ein wichtiges Anliegen, die urige Kneipe weiterhin als einen Ort der Zusammenkunft und des Austauschs zu pflegen und nicht lediglich „zwei Konzerte im Monat spielen zu lassen“. Im Idealfall könne man vier bis fünf Ausstellungen im Jahresrhythmus kuratieren, wobei es längere „kunstlose“ Übergangsphasen zwischen Vernissagen zu verhindern gilt. Durch die Ausstellungen, Lesungen und Musikauftritte möchte man jungen Talente aus der Region die Möglichkeit geben, ihr künstlerisches Schaffen in einer ungezwungenen Kneipenatmosphäre zu präsentieren.

umsdiskussionen. Abgerundet wird der Kunst- und Kulturraum durch einen urigen Plattenladen, der symbiotisch mit dem angrenzenden Off Space „aggregiert“, jedoch nicht Teil des ursprünglichen „kulturaggregats“ ist.

Street Art, so weit das Auge reicht

Auch der ehrenamtliche Verein „kulturaggregat“ widmet sich der Förderung junger Kunstschaffender. Das Herzstück des Projekts bilden die weitläufigen Räumlichkeiten der Hilda(straße) 5, die auf 500 Quadratmetern alles beherbergen, was das Kunst- und Kulturleben so auszeichnet – von Vernissagen über Konzerte bis zu Lesungen und Podi-

Im Juni feiert das etwa 20 Mitglieder umfassende Kollektiv schon sein zehnjähriges Bestehen. Zeit, Bilanz zu ziehen: Nach Zwischennutzungen im Bertelsmann-Gebäude und der Atriumspassage am Augustinerplatz hat man hier den perfekten Ort gefunden, um sich kreativ ausleben zu können – ohne den Hintergedanken, zeitnah wieder ausziehen zu müssen. Dafür sind sie dem Freiburger Kulturmäzen Heiner Sanwald sehr dankbar: „Schließlich hat er sich aktiv dafür eingesetzt, dass in diesen Räumlichkeiten Kunst und Kultur stattfinden kann“, resümiert Vereinsmitglied Albert Fiebig. Mittlerweile ist das „kulturaggregat“ zu einer wichtigen Anlaufstelle für Szenekünstler·innen herangewachsen, die nicht nur aus dem Dreiländereck stammen, sondern auch aus inländischen Kulturzentren wie München oder Berlin anreisen. Dennoch versteht man sich im engeren Sinne als „lokale Kunstförderung“ für aufstrebende und ergründenswerte Talente aus der Freiburger Subkulturszene. Der stilistische Grundtenor der Ausstellungen, so Fiebig, spiegle „die künstlerischen Wurzeln der Vereinsmitglieder wider: Graffiti, Street Art und Contemporary Art.“

Foto: © Christina Sperling
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Foto: © Mario Wachter

Von Vätern und Müttern

Dänemark 2024

Regie: Paprika Steen

Mit: Nikolaj Lie Kaas, Amanda Colin, Martin & Kartine

Greis-Rosenthal, Lisa Loven-Kongsli u.a.

Verleih: mindjazz

Laufzeit: 97 Minuten

Start: 23. Mai 2024

Neben der Spur

DIE DÄNISCHE REGISSEURIN PAPRIKA STEEN NIMMT ÜBEREIFRIGEN ELTERN-EHRGEIZ AUFS KORN

Hannah ist das einzige Kind von Pernille und Ulrik. Und sie sehen ihre Tochter nicht einfach als Mädchen mit eigenen Begabungen und Interessen, sondern vielmehr als Projekt. Ein Projekt, in das man investiert und das deshalb nach Plan geraten muss. Deshalb muss die 12-Jährige immer wieder neu beginnen: Die in bourgeoisen Kreisen sehr begehrte Adlerhus Skole ist schon die vierte Schule, die die Designerin und der Arzt für Hannah ausgesucht haben, die laut Mutter sehr kontaktfreudig und so kreativ und lernbegierig ist, dass sie es nirgends lange ausgehalten hat. Schon gar nicht unter gewöhnlichen Kindern.

Überglücklich seien sie, endlich ganz oben in der Warteliste angekommen zu sein, beteuern sie im Vorstellungsgespräch dem Schulleiter. Und der bemerkt in seiner Selbstverliebtheit nicht einmal, dass die angeblich so lebhafte Hannah gar nichts sagt. Dass sie eher skeptisch dreinschaut – und offenbar gar keine Lust auf Schulwechsel hat. Auch nicht auf die vom Direktor gerühmte Gemeinschaft, an der Eltern, Lehrer und Schüler gleichberechtigt auf Augenhöhe mitwirkten. Doch sie wird ja nicht gefragt.

Von Augenhöhe ist nichts zu spüren in der Klasse 6B, in die Hannah nun geht: Sie bleibt eine Fremde, eine Einzelgängerin, die sich in der Hierarchie der der anderen Einzelkinder-Platzhirsche nicht behaupten kann – und auch nicht will. Ähnliche Erfahrungen machen auch Pernille und Ulrik: Schon am ersten Elternabend werden sie durch intrigante Machtspielchen der Miteltern gnadenlos bloßgestellt und ausgegrenzt. Doch sie kämpfen um ihren Platz an der Sonne –natürlich nur zum Wohle der Tochter. Nach vier Monaten vergeblichen Anbiederns hoffen sie, diesen Platz endlich beim jährlichen Hüttenwochenende zu erklimmen, an dem Hannah und Ulrik zunächst ohne Pernille teilnehmen. Doch schon am ersten Tag gerät der mit der trügerischen Lagerfeuer-Idylle, den sich selbst entlarvenden Lebenslügen sämtlicher Anwesender, den offensichtlichen Flirt-Angeboten einer von ihrem Ehemann in ihrer Freizügigkeit nicht gebremsten Mutter und dem Einblick in das wirkliche Seelenleben seiner Tochter überforderte Vater völlig aus der Bahn. Alkohol und andere Rauschmittel besorgen den Rest; Hannah, die endlich einen ebenso schweigsamen Freund gefunden hat, findet Papa „zum Fremdschämen“. Ehrgeiz, Heuchelei und HelikopterElternschaft werden hier scharfsinnig und dennoch komödiantisch aufs Korn genommen.

Fotos: © mindjazz pictures 52 CHILLI CULTUR.ZEIT MAI 2024 KINO

MIT EINEM TIGER SCHLAFEN

Österreich 2024

Regie: Anja Salomonowitz

Mit: Birgit Minichmayr, Oskar Haag u.a.

Verleih: Arsenal

Laufzeit: 107 Minuten

Start: 23. Mai 2024

Bildhafte Bitterkeit

(ewei). „Solange man jemanden abmalen kann, muss man nicht verhungern“, sagt Mathilde Lassnig zu ihrer Tochter Maria, als diese ihr eröffnet, dass sie lieber Künstlerin werden als Volksschullehrerin sein will.

Die aus sehr armen Verhältnissen stammende Mutter fördert die Entscheidung der unehelich geborenen Tochter – nicht ahnend, dass sie ziemlich lange „hungern“ muss. Und dass es ihr gar nicht um das „Abmalen“ geht: Maria Lassnig (1919 – 2014) wird erst sehr viel später – wenn sie die figürliche Malerei längst verlassen hat – zu einer der bedeutendsten Malerinnen Österreichs. Eine, die von sich sagt, dass sie nicht „den Gegenstand Körper“ malt, sondern dessen Empfindungen.

Der Film macht – mit einer glänzenden Birgit Minichmayr als Maria – eben diese Empfindungen bildhaft, gegen die die schwer aushaltbare und extrem egozentrische Malerin ihr Leben lang kämpfte: ihre Herkunft, ihre Verbitterung im misogynen Kunstbetrieb, ihre zahlreichen inneren Dämonen. Ein Kunststück.

ALLE DIE DU BIST

Deutschland 2024

Regie: Michael Fetter Nathansky

Mit: Aenne Schwarz, Carlo Ljubek u.a.

Verleih: Port-au-Prince

Laufzeit: 108 Minuten

Start: 30. Mai 2024

Endspiel einer Beziehung

(ewei). Als die Kollegen sie rufen, weiß Nadine: Ihr Mann Paul hat wieder eine Panikattacke. Diesmal hat er sich in der Fabrik verschanzt, in der beide arbeiten. Trotz der Warnungen der Kollegen geht sie zu ihm – und steht vor einem Rind. Liebevoll umarmt sie es und hält kurz darauf ein Kind im Arm: Versionen von Paul, die nur Nadine wahrnimmt. Doch inzwischen sieht sie ihn meist einfach als Paul. Ein Mann um die 30, in den – und alle seine Facetten – sie sich vor sieben Jahren verliebt hat. Inzwischen hat sich in ihrer Beziehung längst Routine eingestellt, zwei Kinder sind da, Familien- und Arbeitsleben gehen ihren gewohnten Gang. Dazu kommt, dass es in der Kohleindustrie bergab geht: Entlassungen drohen, Gehaltskürzungen machen das ohnehin prekäre Leben noch unsicherer. Zunehmend verzweifelt versucht Nadine, das ursprüngliche Gefühl wiederaufleben zu lassen – auch, um die Existenzangst zu lindern. Magisch angehauchtes Endspiel einer Beziehung in der Arbeiterklasse.

GOLDA – ISRAELS EISERNE LADY

USA /GB 2023

Regie: Guy Nattiv

Mit: Helen Mirren, Liev Schreiber u.a.

Verleih: Weltkino

Laufzeit: 100 Minuten

Start: 30. Mai 2024

Intensives Kammerspiel

(ewei). Er ist 50 Jahre her – und auch wegen der immer wieder entbrennenden und eskalierenden kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen Osten hierzulande in Vergessenheit geraten: Der Jom-Kippur-Krieg, der am 6. Oktober 1973 begann und 20 Tage später endete – mit einem UN-Waffenstillstand. Das darauf folgende erste Gespräch zwischen der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir und Ägyptens Staatspräsident Anwar as-Sadat leitete Verhandlungen ein, die 1978 schließlich in einem Friedensvertrag mündeten – und der Anerkennung Israels durch Ägypten. Guy Nattivs Biopic mit einer ganz herausragend spielenden Helen Mirren in der Titelrolle rekapituliert diese 20 Tage, in denen die von den hohen Verlusten schwer erschütterte und gesundheitlich bereits stark angeschlagene Politikerin um das Überleben des von zwei Seiten angegriffenen Landes ringt und dafür auch mit dem besorgt angereisten US-Außenminister Henry Kissinger pokert. Ein intensives und erhellendes Kammerspiel.

Foto: © Weltkino Foto: © Port-au-Prince
KINO
Foto: © Arsenal

Beats und Boote

3 FRAGEN AN KÄPTN HÄSSLER

Paddeln, bouncen, chillen. Am 19. Mai startet der Freiburger DJ und Veranstalter Alexander „Käptn“ Hässler mit dem Waldsee ein neues Format: Sunday Tretboot Club. Was dahinter steckt, verrät der 44-Jährige im Interview mit Till Neumann.

Tretboot Club, was verbirgt sich dahinter?

Der Waldsee Tretboot Club steht für dicke Beats von Freiburger DJs und kühle Drinks vom Waldsee-Team am Bootshaussteg des Waldsees. Die Idee dahinter ist, gechillte Musik tagsüber, von 15 bis 20 Uhr, in entspannter Umgebung unter den Bäumen und am Ufer des Waldsee genießen zu können, damit man mit Freund·innen und auch den eigenen Kids eine gute Zeit zu feiner, primär elektronischer Musik genießen kann.

Wie wird das vor Ort ablaufen?

Wir bauen ab sofort von Mai bis Oktober einmal monatlich am Ufer des Waldsees eine kleines DJ-Pult auf, mit der Möglichkeit, zu tanzen oder auf der angrenzenden Wiese zu den Beats zu chillen. Daneben wird es im Bootshaus natürlich die Möglichkeit geben, die Tret- und Ruderboote zu leihen und einen leckeren Apérol Spritz, Sekt oder ein antialkoholisches Special zu erstehen. Und wer Lust auf Pommes etc. bekommt, kann sich im Waldsee auch mit leckeren Snacks versorgen.

Das Event steigt umsonst & draußen. Welche DJs werden auflegen?

Es werden monatlich wechselnde Freiburger DJs spielen, die wir nach und nach anfragen. Musikalisch soll die Bandbreite von House, Disco und Funk über Melodic Techno bis Techno gehen – alles draußen, wenn das Wetter hält. Am 19. Mai spielen DJ Schlauch und ich als Käptn Hässler.

Ringelreiten durch die Republik

(pt). Auf seinem zweiten Album nimmt Liedermacher Oliver Scheidies seine Hörerschaft 65 Minuten lang mit in sein „Karussell“. Bitte einsteigen, Hände und Füße im Wagen behalten, die Ohren dürfen derweil gespitzt werden. Denn musikalisch bedient sich die Karussellfahrt zwischen improvisiertem Jazz und einem modernen Mark Knopfler –sicherlich nicht das schlechteste musikalische Vorbild.

Verspielte Gitarrenklänge, begleitet von Klavier, Bass oder Akkordeon unterstreichen locker gesprochene Texte voll bildhafter Prosa. Gelassen bis schmachtend, immer eingängig, aber nicht frei von textlichen Platitüden. „Glaube, Liebe, Hoffnung war schon immer ein starkes Elixier / Keine Sorgen, Hey wir bleiben hier bei dir“, vertröstet Scheidies mit warm-sonorer Stimme auf „Alle lieben Lollo“, einem Stück, das dem Freiburger Loretto-Bad gewidmet ist.

Es ist nicht die einzige Anspielung. Karussell ist ein musikalisches Ringsum durch die Republik: vom Freiburger Bad zu Mannheimer Wettbüros, weiter bis in die Spätis von Berlin.

Die Scheibe wird ihrem Namen folglich gerecht: Hier und da drehen sich die Songs im Kreis. Allerdings ist immer Bewegung drin.

DAS AUS DER JUGEND WIR ZÜNDEN PAPAS AUTO AN Punk

Grimmiger Humor

(tln). Das Punk-Trio „Das Aus der Jugend“ aus Freiburg hat zuletzt den Bandcontest Rampe im Jazzhaus gewonnen. Jetzt gibt’s die erste EP der drei: „Wir zünden Papas Auto an“. Okay, hier gibt’s Krawall.

„Rock zum Schubsen und Schmusen“, so beschreiben die Jungs ihre vier Tracks. Und es geht sanft los. Mit „Boule“ gibt’s eine Minute Entspannung. „Die Vögel zwitschern und die Sonne lacht“, singen sie. Dann fauchen Gitarren und die Boulekugel wird offenbar nicht mehr nur zum Spielen gebraucht: „Boule, wir spielen Boule / pack die Stahlkugeln und ein und das Schwein“.

Die Jungs schrauben den Soundtrack für die nächste Demo. Und das Schlechte ist beim Aus der Jugend oben: „Eat the rich“, poltern sie im nächsten Song. Statt Tiefkühlpizza gibt es Bourgeoisie zum Essen. Gitarre und Drums wüten grimmig dazu. Bei aller Sozialkritik: Die Texte bringen auch zum Grinsen. Zum Beispiel, wenn sie mehrstimmig „Mama“ singen – und sie fragen, warum alles schlecht ist. Oder wenn sie Wut im Bauch haben – „und Pestonudeln auch“.

Die Energie und Unverfrorenheit der Band beeindrucken. Nicht alle werden diesen kratzig-rotzigen Punk mögen. Aber hier haben sich eindeutig drei gefunden, die mit ihrer Musik auffallen. Ein guter Start.

MUSIK OLIVER SCHEIDIES KARUSSELL (ALBUM) Pop-Rock
Foto: © Felix Groteloh
Platte desMon a st 54 CHILLI CULTUR.ZEIT MAI 2024

JIMBO & YETUNDEY

IMMER NOCH HIER (SINGLE)

Deutschrap

Melodisches Vermissen

(tln). Rapper und Producer Jimbo hat Wurzeln in Freiburg und lebt in Berlin. Sein neuester Tune „Immer noch hier“ dreht sich um Sehnsucht. Das Thema ist aber wohl weniger der Breisgau als vielmehr eine verflossene Liebe. Im Duett mit der Rapperin Yetundey erzählen die beiden von Gefühlen, die wehtun. Von Momenten des Zweifels und der Fragezeichen.

Der Beat von „enchpannt“ kommt mit einem drivigen Gitarrensample aus den Boxen. Das geht nach vorne und hat trotzdem was Lässig-Melodisches. „What’s wrong with you?“, fragt Greta Thunberg im Intro. Schon ist klar: Gefühlstechnisch wird’s jetzt kühl. Jimbo rappt von Dingen, die ihn an die Ex erinnern: „Jede Stimme klingt noch immer nach dir / als wärst du immer noch hier.“

Stabiler Flow, klare Stimme, starke Bilder. Der Wahlberliner liefert sauber ab. Und hat als Gast mit Yetundey einen weiblichen Gegenpart ins Boot geholt. Auch das matcht. Die Berlinerin segelt mit deutsch-französischem Rap und Gesang durch Strophe zwei. Produziert ist das mit Auge fürs Detail. Effektspielereien und Vocalflächen sorgen für den 2024er-Vibe. Etwas abrupt kommt aber das Ende um die Ecke. Da hätte eine Idee mehr dem Track gutgetan. Abgesehen davon: Ein Song für alle, die Urbanes mögen und mit Gefühlschaos kämpfen.

KENYATTA JOYNER

COLD HOT (SINGLE)

Deutsch Pop

... zum Dankeschön

Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen –nicht nur, aber vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

(pb). Durch seine Band „Fatcat“ hat sich Kenny Joyner einen Namen gemacht. Jetzt macht der DeutschAmerikaner auch eigene Sache. Seine neueste Single „Cold Hot“ hat er unter seinem amerikanischen Namen Kenyatta Joyner veröffentlicht. Während er bei „Fatcat“ ausschließlich auf Englisch zu hören ist, probiert er sich als Solo-Künstler auch in seiner zweiten Muttersprache: Deutsch. Doch nicht nur die Sprache ändert sich – auch das Genre. Während „Fatcat“ in die Funk- und Soul-Richtung geht, macht die neue Single einen Abstecher in die deutsche Rap- und Pop-Szene . Der Song beginnt mit Drumbeats und den Backingvocals „cold – hot“, welche das Lied die ganze Zeit begleiten. Danach startet Joyner mit einem Rap über die Beziehung zwischen ihm und einer Frau. Die beiden fühlen sich voneinander angezogen, aber irgendwas scheint zwischen ihnen zu stehen: „Wir bewegen uns im Kreis und am Ende ist dir kalt – mir ist heiß.“ Im Refrain dann wieder: „You’re cold I’m hot.“

Schon beim ersten Hören macht der Song Laune. Der Text ist eingängig, die Melodie gut zum Tanzen und Mitsingen. Allerdings könnte vor allem der Refrain etwas mehr Abwechslung vertragen. Obwohl die Lyrics dadurch leicht zu merken sind, wird es gegen Ende etwas monoton.

Wir sagen Dankeschön. Für was? Genau, für was eigentlich? Für das Lied „Dankeschön, 40 Jahre die Flippers“? Sicher nicht. Obwohl: Ohne die Flippers, den Olaf, den Andi, die Helene, die Amigos, den Micki und all die anderen Gesetzesbrecher wären wir als Geschmackspolizei nicht das geworden, was wir nie werden wollten – und aber gerade dadurch wurden.

Danke für alles, was ihr Schlimmes getan habt, danke für eure Beats – immer verlässlich voll auf die Eins und so was von daneben. Für eure Outfits, die Fans, immer, wirklich immer haben sie euch in nichts nachgestanden und uns das Leben, wenn man es überhaupt so nennen kann, schwer gemacht. Danke für eure Texte, nie gab es ein Niveau, das sich nicht noch hätte unterbieten lassen.

Wir sagen Dankeschön, für all die schönen Momente, die wir über die Jahre nie hatten, aber was soll‘s, man lebt nur drei Mal, vielleicht werden wir im nächsten Leben selbst als singende Cops unser Unwesen treiben, danke schon mal auch dafür. Danke für unsere Arbeitsstelle, hieß es so schon im Kirchenlied-Evergreen von Martin Gotthard Schneider, danke. Danke Merkel, danke Scholz, ein Dankeschön auch an Claudia Roth, unsere Kulturstaatsministerin, die uns regelmäßig die Hemden bügelte, wo sie uns doch den Rücken hätte stärken sollen – aber man kann eben nicht alles haben.

Dankeschön, auf die nächsten 40 Jahre!

Ihre Geschmackspolizei Freiburg

KOLUMNE
Coole Vibes

Potente Poeten

DER FREIBURGER DOMINIK HEISSLER IST JETZT LANDESMEISTER IM POETRY SLAM

DPoetry Slam Freiburg

Das zweite Buch

Hrsg.: Cäcilia und Ansgar Hufnagel

Verlag: Dichterwettsreit deluxe, 2024

170 Seiten, Paperback

Preis: 12,95 Euro

Dieser Sammelband mit Poetry von 24 Freiburger Autor·innen enthält auch einen Text von Dominik Heißler zum Thema „Heimat“.

er große Bühnensaal des E-Werks ist auch auf dem letzten Platz besetzt. Vorwiegend junge, aber auch einige ältere Menschen wollen das Finale der heuer in Freiburg angesiedelten Poetry-Slam-Landesmeisterschaften erleben. Aus ganz Baden-Württemberg sind potente Poet·innen angereist; nach den Viertel- und Halbfinals slammen hier gleich acht Kandidat·innen um die Wette. Und um die drei Plätze, die die Tür zur deutschsprachigen Meisterschaft öffnen. Gleich drei Freiburger·innen sind unter den Finalisten. Und nach umjubelten Vorträgen und einer spannenden DreierStichrunde macht schließlich einer von ihnen das Rennen: Dominik Heißler. Mit 64,7 von 70 möglichen Punkten. Dicht gefolgt von der ebenfalls in Freiburg lebenden und dichtenden Marie Lemor, die sich den zweiten Platz mit Evelyn Krutsch aus Reutlingen teilt. „Gebt alles!“, fordert Moderator Ansgar Hufnagel das Publikum zu tosendem Applaus auf: Gleich zwei Freiburger·innen fahren zum deutsch-schweizer-österreichisch-luxemburgischen Spoken-Word-TitelWettbewerb, der im November in Bielefeld über die Bühne geht.

„Einfach fantastisch“ findet das auch der frischgebackene Landesmeister dieses literarischen Genres, das laut Bundesverzeichnis des immateriellen Kulturerbes „an die hohe Kunst der antiken und mittelalterlichen Dichter- und Rednerwettstreite anknüpft“. Der 33-Jährige, der als Lehrer in Waldkirch und als freier Journalist in Freiburg arbeitet, ist auch Tage nach dem Titelgewinn noch „einigermaßen verwirrt“. Gerechnet hat er nicht damit: „Für mich war es schon die höchste Adelung, überhaupt ins Finale zu kommen. Mehr habe ich gar nicht erwartet. Deshalb war ich in der Schlussrunde richtig entspannt. Vielleicht lag’s daran; es ist ja immer irgendwie ein Glücksspiel“, bescheidet sich der glückliche Gewinner.

Natürlich komme es aber auch aufs Können an. Die besagte „hohe Kunst“ des Vortrags spiele eine Rolle, sicher auch die überzeugende Kombination von Inhalt und

Dominik Heißler (o.) ist baden-württembergischer Landesmeister im Poetry-Slam. Ansgar Hufnagel (u.r.) und zwei weitere Dichter warten auf ihren Aufrritt bei der ersten Freiburger Buchmesse

literarischer Qualität eines Textes. Dieses „Komponieren von Worten“ mag er besonders, sowohl in der Poetry als auch im Journalismus. Er recherchiere viel, erzählt Heißler, der als Jugendlicher erste Gedichte verfasste und 2016 zum ersten Mal auf einer Bühne stand. Und dann feile er so lange an den Texten, bis sie ihm gefallen – oder auch Kolleg·innen in der „sehr bunten, vielfältigen und lebendigen“ Freiburger Poetry-Szene, in der er sich regelmäßig bewegt. Oft, sagt der Vater eines einjährigen Sohns, verarbeite er persönliche Erfahrungen. Etwa das langsame Sterben seines Vaters vor einem Jahr – mit diesem Text bestritt er die schließlich gewonnene Stichrunde im E-Werk. Oder seinen Alltag als Deutsch-als-Fremdsprache-Lehrer – mit dieser Abhandlung über die Tücken der deutschen Sprache kam er ins „Dreierstechen“. Nicht nur rhythmisch und zungenbrecherisch, sondern auch witzig, spitzfindig und ziemlich treffgenau beschreibt er die Verwirrung, die diese fallstrickreiche Sprache bei jenen auslösen kann, die sie erlernen (müssen).

von Erika Weisser Foto: © ewei
56 CHILLI CULTUR.ZEIT MAI 2024 LITERATUR
Foto: © Tobias Heyel

von Ruth GleissnerBartholdi

Verlag:

Lauinger, 2024

244 Seiten, Paperback

Preis: 16 Euro

Lachen im Hospiz

(ewei). Einen „Trostroman“ nennt Ruth Gleissner-Bartholdi ihr neues Buch, dessen Handlung in einem Hospiz spielt, in dem gelacht, musiziert und gefeiert wird: in der Villa A. Die ehemalige Politikredakteurin der Badischen Zeitung hat diese fiktive Villa in der nächsten Umgebung ihres Wohnorts Badenweiler angesiedelt: zwischen Wald und Reben im Markgräflerland.

Hier hat der alte Medizinprofessor Sam ein Gästehaus gegründet, in dem immer acht Menschen – alte und junge – die letzte Phase ihrer Leben verbringen. Gut umsorgt, selbstbestimmt und ja, manchmal auch verliebt. Eben gemäß Sams Maxime, dass ein Arzt das Leben verlängern soll, nicht das Sterben. Dass auch ein Haus des Abschieds der Daseinsfreude zugewandt sein soll – und allem, was dieses Dasein ausmacht: Träume, Wünsche, Ängste, Erinnerungen, Liebe.

Als der Professor aus Gesundheitsgründen eine Weile ausfällt, übernimmt sein inzwischen selbst in die Jahre gekommener früherer Student Adam die Vertretung. Und dieser Doc Adam macht sich Sams Maxime auf ganz besondere Art zu eigen. Mit Einfühlung, Geduld und viel Humor bringt er die Menschen dazu, sich mit ihrem Leben zu versöhnen. Und, so getröstet, die Angst vor dem Tod zu überwinden. Und zu erkennen, was noch in ihnen steckt.

FREZI

KAFKA. UM SEIN LEBEN

von Rüdiger Safranski

Verlag:

Hanser, 2024

256 Seiten, Hardcover

Preis: 26 Euro

Schreiben als Existenz

(ewei). Am 3. Juni 1924 starb Franz Kafka. Der Schriftsteller, der als einer der bedeutendsten – und rätselhaftesten – des 20. Jahrhunderts gilt, wurde nur 40 Jahre alt. Anlässlich des 100. Todestags des zu Lebzeiten kaum beachteten, später zu Weltruhm gelangten und bis heute kultisch verehrten Autors gibt es eine Reihe von Büchern und Filmen.

Unter den teilweise weit interpretierenden Veröffentlichungen in Wort und Bild fällt Rüdiger Safranskis „Kafka. Um sein Leben schreiben“ angenehm auf: Der in Badenweiler lebende Philosoph schildert Kafkas Leben ganz aus seinem Schreiben heraus. „Dieses Buch verfolgt eine einzige Spur im Leben Franz Kafkas, es ist die eigentlich naheliegende: Das Schreiben selbst und sein Kampf darum“, schreibt er im Vorwort.

Anhand von Briefen und Tagebüchern zeigt Safranski, dass das Schreiben Kafkas Existenz war, dass „die ekstatischen Zustände des Schreibens“ ihm mehr bedeuteten als ein vollendetes Werk. Dabei zitiert er etwa aus einem Brief des späteren Weltliteraten an seine Verlobte: „Ich habe kein litterarisches Interesse sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.“

Er beobachtet Kafka förmlich beim Schreiben – und schafft so eine gut lesbare Biografie samt Werkdeutung.

FREZI

EINER FEHLT

von Thommie Bayer

Verlag:

Piper, 2024

176 Seiten gebunden

Preis: 24 Euro

Sound der Freiheit

(ewei). Es ist lange her, dass Georg und Paul – nach einer gemeinsam ertragenen Schulzeit in einem Internat im Norden Deutschlands –im Süden Europas unterwegs waren, um per Anhalter die große Freiheit zu finden. In den wilden 70ern war das, und auf ihrer Italienreise trafen die beiden Freunde auf den Musiker Schubert, der mit seinem mitreißend unangepassten Wesen ein großes Stück von dieser Freiheit verkörperte.

Als engste Freunde kehrten die drei damals von der Reise zurück –und blieben es für immer. Trotz unterschiedlicher Lebenswege und Wohnorte. Und trotz Carolin, in die sie alle drei verliebt waren. Und mit der sie nacheinander zusammen waren. Carolin teilte ihr Leben zunächst mit dem Jüngsten (und Genialsten) im Freundesbunde. Ja, und auch trotz Malin, Georgs Frau, die seine Freunde nicht leiden konnte. Und umgekehrt.

Doch jetzt ist Malin gestorben –und Georg spurlos aus Wien verschwunden. Und so machen sich Schubert und Paul – von Berlin und vom Markgräflerland aus – ziemlich besorgt auf den Weg dorthin. Und von dort wieder einmal nach Italien, diesmal allerdings in Pauls komfortablem Jaguar. Der in Staufen lebende Autor Thommie Bayer legt eine gleichermaßen beschwingte und nachdenkliche Reise zwischen Gegenwart und Vergangenheit vor.

SCHREIBEN
MAI 2024 CHILLI CULTUR.ZEIT 57
FREZI DER ZWEITE MOND
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