chilli cultur.zeit

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Mehr als schwarze Wälder

EIN NEUES FILMFESTIVAL SOLL SICH IN SÜDBADEN ETABLIEREN

Die Kinostadt Freiburg wird um ein neues internationales Format bereichert: Black Forest Film Festival ist der Titel des Events, das vom 25. bis 29. November in den Kinos Harmonie und Friedrichsbau sowie im Emmendinger Kino CineMaja stattfindet. Damit wollen Anna Katharina Gerson, Cornelia Hammelmann und ihr Team eine Bühne schaffen, „auf der Filmschaffende, Autor·innen und Publikum gemeinsam in faszinierende Erzählwelten eintauchen“ können.

Für Südbaden ist das „zwischen realen und fantastischen Geschichten“ angesiedelte und genreübergreifende Festival eine Premiere. Es ist indessen auf Fortsetzung angelegt; die beiden Kulturmanagerinnen, die andernorts schon seit Jahrzehnten in der Branche tätig sind, geben sich zuversichtlich, dass es sich langfristig im Dreiländereck etabliert. Entsprechend ambitioniert ist das Programm: Außer Deutschland- oder Europapremieren, Kinoklassikern

Freiburger Produktionen und einem Wettbewerb gibt es bei Filmgesprächen, offenen Runden, Lesungen und anderen Begegnungen die Gelegenheit, „neue Perspektiven auf das Kino von heute zu eröffnen“.

Zu den eingeladenen „Filmschaffenden aus aller Welt“ gehört etwa Margarethe von Trotta. Die Regisseurin von Weltrang hat auch die Schirmherrschaft für das Festival übernommen und bietet im Friedrichsbau eine Masterclass für jüngere Kollegen – und das interessierte Publikum – an. Sie bringt natürlich auch einige ihrer Filme mit; sie sind in einer speziellen Retrospektive zu sehen. Ein weiteres internationales Highlight ist ein Publikumsgespräch zwischen dem legendären Rolling-Stones- und Led Zeppelin-Musikproduzenten Chris Kimsey und dem Filmfestivalmacher und -berater Adrian Wootton. Dabei geht es um die Stories, die hinter so manchem großen Hit liegen. Und um die Übergänge zwischen Film und Musik. Ein weiterer Gast ist Felix Rottberger. Der in Freiburg wohlbekannte 89-Jährige kommt als Protagonist der im „Fokus Erinnern – gegen das Vergessen“ gezeigten Dokumentati-

on „Felix – eine jüdische Odyssee“ zum Gespräch ins CineMaja in Emmendingen. Die Stadt ist nicht nur mit dem örtlichen Kino am Festival beteiligt, sondern vor allem mit dem dortigen Deutschen Tagebucharchiv. Als „Stoffemarkt“ ist es für Produzenten und (Drehbuch)Autoren zugänglich; hier finden sie in 10.000 Tagebüchern „tatsächlich gelebte Geschichten“ und können daraus möglicherwiese eigene fiktionale Geschichten entwickeln, wie Bettina Hammelmann hofft.

Selbstverständlich gehören zum Programm auch Filme, die den Schwarzwald zum Thema haben, sagt Anna Katharina Gerson. Dazu gehören neben modernen Produktionen auch Klassiker wie das romantische „Schwarzwaldmädel“ oder auch die erste Verfilmung von Wilhelm Hauffs mythischem Märchen „Das kalte Herz“. Die BerlinerKunst- und Filmhistorikerin kennt die Filme aus ihrer Kindheit: Ihrer Familie gehörte das inzwischen längst geschlossene Kino Roxy in Waldkirch.

von Erika Weisser
Bunter Mix: Beim Black Forest Film Festival sind auch Klassiker wie „The Godfather“ oder die Rockoper „Tommy“ zu sehen

Mit Liebe und Chansons

Frankreich/Kanada 2025

Regie: Ken Scott

Mit: Leïla Bekhti, Jonathan Cohen, Joséphine Japy, Jeanne Balibar, Lionel Dray, Sylvie Vartan, u.a.

Verleih: Neue Visionen

Laufzeit: 102 Minuten

Start: 27. November 2025

Auf eigenen Füßen

EINE FAST UNGLAUBLICHE LEBENSGESCHICHTE KOMMT INS KINO

Eine wahre Geschichte bringt der kanadische Regisseur Ken Scott in die Kinos: Die Geschichte von Roland Perez, der mit einem gesunden und einem fehlgebildeten Fuß zur Welt kam und der heute dank des unentwegten Engagements seiner Mutter trotz anderslautender Prognosen gehen kann wie jeder andere Mensch. Scotts sehr emotionaler Film basiert auf der Autobiografie, die der erfolgreiche Anwalt und beliebte Rundfunk- und Fernsehmoderator Perez 2021 unter dem Titel „Ma Mère, Dieu et Sylvie Vartan“ veröffentlichte.

Im Herbst 1963 erwartet die aus Marokko nach Paris eingewanderte jüdische Familie Perez das sechste Kind – und hat somit Anspruch auf eine Sozialwohnung fernab der Banlieues. Die resolute Mutter Esther hat kaum den Umzug organisiert und für eine passende schulische und vorschulische Unterbringung ihrer Kinder gesorgt, da setzen die Wehen ein. Sie packt ihre Tasche, lässt ihrem Ehemann am Arbeitsplatz ausrichten, dass sie in die Klinik geht, und macht sich zu Fuß auf den Weg.

Als sie ihr Kind nach der Geburt nicht in die Arme nehmen darf, die betretenen Gesichter von Arzt und Hebamme sieht und sie von einer lebenslangen Behinderung raunen hört, ist sie sofort entschlossen, sich von nichts und niemandem aufhalten zu lassen: Sie verspricht sich und Roland, alles dafür zu tun, dass er auf seinen eigenen Füßen in die Schule und durch ein glückliches Leben gehen kann.

Fortan tut sie wirklich alles – und manchmal auch zu viel –, um ihr Versprechen zu halten: Sie betet, hofft auf Wunder, rennt von Arzt zu Arzt, von Orthopäden zu Heilern, von Pontius zu Pilatus. Und immer trägt sie das Kind, das größer und schwerer wird. Als schließlich die Schulpflicht und damit die Einweisung Rolands in ein Sonderinternat droht, wird Esther zur Löwin. Sie überzeugt die Dame von der Schulbehörde, Aufschub zu gewähren für eine innovative Therapie, mit der ihr Sohn nicht nur genesen, sondern auch lesen lernen werde.

Der Junge wird also regelrecht ans Bett gefesselt, mit einem Korsett und einer Zugvorrichtung, die die Stellung seines Fußes peu à peu korrigiert. Zur Ablenkung darf er pausenlos fernsehen; dabei entdeckt er die glamouröse Sylvie Vartan, die Ender der 1960er-Jahre eine kometenhafte Karriere startete. Er verliebt sich in sie und hört ständig ihre Platten, die Esther trotz des knappen Familienbudgets für ihn kauft. Bald ist die ganze Wohnung ein einziger Vartan-Fan-Club, doch alle halten zu Roland. Der hält still, singt die Chansons bald auswendig – und lernt mit der Hilfe seines Bruders, sie zu lesen.

18 Monate später geht er selbstständig zur Schule – und macht seinen Weg. Und Vartan wird Jahrzehnte später seine Mandantin. Als sie erfährt, dass sie einst – indirekt und ohne es zu ahnen –zu seiner Genesung beitrug, wird sie zu einer engen Freundin. So eng, dass sie nun selbst im Film mitspielt.

DAS LEBEN DER WÜNSCHE

Deutschland 2025

Regie: Erik Schmitt

Mit: Matthias Schweighöfer, Luise Heyer, Henry Hübchen, Benno Fürmann u.a.

Verleih: Producers United Film/Filmwelt

Laufzeit: 95 Minuten

Start: 13. November 2025

Wunsch und Verwünschung

(ewei). Eine glückliche Familie umgibt Felix: Die Kinder umarmen ihn, seine Frau schmiegt sich an den attraktiven, beruflich erfolgreichen Mann mit dem vollen Haar. Dann beginnt die Wohnung zu vibrieren, eine gewaltige Flutwelle reißt Felix aus dem Schlaf. Und dieser Felix ist ganz anders als im Traum: unauffälliger Typ, schütteres Haar und von der Alltagsroutine aufgefressen. Ein Niemand – zu Hause, in der überfüllten Hochbahn auf dem Weg zur Arbeit und auch im öden Großraumbüro selbst. Am nächsten Tag dasselbe: Keiner nimmt Notiz von ihm. Er fühlt sich aussortiert – und erinnert sich an den Werbeslogan der Agentur „Das Leben der Wünsche“. Diese verspricht all jenen, an denen das Leben vorbeizieht, das große Glück.

Felix findet diese Agentur – und trifft auf einen rätselhaften „Kipling“, der ihm die Erfüllung dreier Wünsche anbietet. Ihm reicht aber einer: All seine geheimen Anliegen sollen wahr werden. Und bald läuft alles nach Wunsch – aber auch nach Verwünschung.

LOLITA LESEN IN TEHERAN

Italien/Israel 2024

Regie: Eran Riklis

Mit: Golshifteh Farahani, Mina Kavani u.a.

Verleih: Weltkino

Laufzeit: 107 Minuten

Start: 20. November 2025

Autoritärer Kulturkampf

(ewei). Iran, 1979: Der Schah ist gestürzt, überall keimt Hoffnung auf ein freiheitliches Leben. Die Literaturwissenschaftlerin Azar Nafisi kehrt voller Zuversicht aus dem US-amerikanischen Exil zurück. Doch sie stößt bald an die von den neuen religiösen Machthabern gesetzten Grenzen; ihr Vorhaben, an der Universität Teheran englischsprachige Literatur zu lehren, scheitert: Bücher wie „Der Große Gatsby“ oder „Stolz und Vorurteil“ werden von männlichen Studierenden als moralisch verwerflich und für Frauen nicht geeignet beanstandet und gemeldet. Als sie sich weigert, den vorgeschriebenen Hijab zu tragen, wird sie suspendiert; einige ihrer gleichfalls unangepassten Studentinnen werden verhaftet. Sie führt die Vorlesung als privaten Lesezirkel in ihrem Wohnzimmer weiter, ist wegen der ständigen Repressalien aber zunehmend zermürbt und schwankt zwischen subversivem Bleiben und lebensrettender Flucht. Düsteres Drama über die zerstörende Wirkung des autoritären Kulturkampfs.

DER GEHEIMNISVOLLE BLICK DES FLAMINGOS

Chile 2025

Regie: Diego Céspedes

Mit: Tamara Cortés, Matías Catalán u.a.

Verleih: Filmreederei

Laufzeit: 104 Minuten

Start: 4. Dezember 2025

Tödliche Gerüchte

(ewei). In einer verlassenen Wüstenbergbaustadt in Nordchile betreibt Flamingo mit seiner queeren Familie eine Bar. Dort wächst die 12-jährige Lidia auf, die keine Verwandten hat. Für das Mädchen ist die Welt in Ordnung – obwohl eine rätselhafte Krankheit Flamingo zunehmend die Kraft raubt.

Das ändert sich, als Flamingo einen der Dorfjungen, die Lidia regelmäßig belästigen, eines Tages zwingt, ihm in die Augen zu schauen, während er ihm eine Lektion über respektvollen Umgang erteilt. Später greifen der so gedemütigte Yovani und die Jungs die Bar an. Unter dem Vorwurf, Yovani durch seinen Blick mit seiner tödlichen Krankheit angesteckt zu haben, entführen und töten sie ihn.

Lidias Welt zerfällt. Doch als Yovani stirbt und die noch in der Stadt verbliebenen Bergarbeiter die queere Community überwältigen und zwingen, zum Schutz vor Ansteckung Augenbinden zu tragen, entkommt sie und findet die Wahrheit heraus.

Der Film ist offizieller Kandidat Chiles für den Oscar 2026.

Fotos: © ProU
Fotos: © Weltkino
Fotos: © Filmreederei

Erfolgsduo: Julian Erhardt und Victoria Hillestad komponieren für die global erfolgreiche Serie „Maxton Hall“

„Waren total baff“

ZWEI SÜDBADENER SIND TEIL EINES WELTHITS

Victoria Hillestad und Julian Erhardt finden ihre Story „nicht spannend“. Dabei sind sie Teil der erfolgreichsten Nicht-US-Serie auf Amazon Prime: Maxton Hall. Die zwei Lahrer haben die Filmmusik dafür komponiert. Als sie einstiegen, waren sie „Nobodies“. Heute sind sie es nicht mehr.

Party machen kann unerwartete Türen öffnen. So ging es Victoria Hillestad (37). Als sie in Berlin lebte, lernte sie auf einer Feier den Regisseur Martin Schreier kennen. Einige Jahre später schrieb er über Facebook: „Machst du noch Filmmusik? Ich hätte da ein Projekt, für das du pitchen kannst.“

Mittlerweile hatte Hillestad in Ludwigsburg Filmmusik studiert und dabei ihren Kommilitonen Julian Erhardt (31) kennengelernt. Sie schlossen sich als „Songs in Cinema“ zusammen. Kurzerhand sagten sie den Pitch zu, bekamen die ersten zehn Minuten der deutschen Serie Maxton Hall geschickt. Drei Tage hatten sie Zeit. „Wir haben über das Wochenende einfach zehn Minuten

Musik komponiert“, erzählt Erhardt. Viele Vorgaben gab’s nicht: „Wir hatten nur ein kleines Briefing, dass es modern klingen soll für junge Leute“, erinnert sich Erhardt. Große Chancen rechneten sie sich nicht aus: „Wir waren Nobodies“, sagt Hillestad. Es sei eine Ehre gewesen, überhaupt mitmachen zu dürfen. „Das war verrückt“, so Hillestad.

Sie war in den Endzügen einer Dokuserien-Musikproduktion, hatte Stress. „Ich glaube, die meisten hätten gesagt: Sorry, wir haben keine Zeit. Wir haben gesagt, wir kaufen ganz viel Mate-Tee und versuchen es“, erinnert sich die gebürtige Norwegerin.

„Haben

uns noch nicht bereit gefühlt“

Teil ihrer zehn Minuten ist auch ein Song mit dem Freiburger Kenny Joyner, Frontmann der Band Fatcat. Mit ihm entstand „First and Last“. Eine soulige Ballade, die allein auf Spotify mehr als 3,3 Millionen Streams verbucht hat. „Die zwei sind einfach super kreative Arbeitstiere, haben genaue Vorstellungen, wie die Songs klingen sollen“, erzählt Joyner. Das habe die Zusammenarbeit einfach gemacht, schwärmt der Sänger.

Das Lahrer Duo ging mutig ans Werk. „Wir haben mit Streichern gearbeitet, auch wenn sie keine hören wollten“, berichtet Hillestad. Und das wurde belohnt: Die Zusage kam. Das Filmteam orderte sogar noch mehr Cello, Geige und Co. Ihre Reaktion auf den Coup? „Wir waren sehr aufgeregt und sind abends essen gegangen“, erzählt Erhardt. Sie mussten erst mal überlegen, was auf sie zukommt. „Wir haben uns eigentlich noch nicht bereit gefühlt für eine Prime-Video-Produktion.“ Schon in Studienzeiten hatten sie für Filme Musik produziert und erste Kontakte geknüpft. Doch für eine Serie und in dieser Dimension, das war Neuland. Mittlerweile haben sie für die erste Staffel mehr als zwei Stunden Musik produziert. Das Format ist global eingeschlagen: „Deutsche Serie wird weltweiter Streaming-Hit“, titelte zdfheute.de 2024. Die College-Serie „Maxton Hall – Die Welt zwischen uns“ mit Harriet Herbig-Matten und Damian Hardung habe in der Start-

von Till Neumann

woche „die größte globale Zuschauerzahl eines nicht-amerikanischen Titels“ in der Geschichte von Prime Video erzielt. Sie sei in mehr als 120 Ländern auf Platz eins der Prime-Video-Charts gelandet.

Auch Songs in Cinema verblüffte das: Als sie erfuhren, dass die für den deutschen Markt produzierte Serie in unzählige Sprachen übersetzt wird, staunten sie ordentlich: „Wir waren total baff.“

Sie haben offenbar einen großen Anteil am Erfolg. „Die Zusammenarbeit mit Victoria und Julian ist eine ganz tolle Erfahrung“, sagt Produzentin und Headautorin Ceylan Yildirim. „Sie schaffen es immer wieder, uns mit ihrer Vielseitigkeit und ihrem besonderen Sound zu überraschen.“ Ihre Musik sei ein außerordentlich wichtiger Bestandteil des Maxton-Hall-Kosmos und verleihe den Szenen eine subtile Magie.

Mittlerweile leben Hillestad und Erhardt ausschließlich von ihrer Musik. Und haben den nächsten dicken Fisch an Land gezogen: Sie komponieren die Musik für eine „Traumschiff“-Folge. Für die ARD haben sie zudem Musik für „Der Flensburg-Krimi“ geschrieben.

Der nächste Coup: Sie komponieren fürs Traumschiff

Die Arbeit für Maxton Hall geht weiter: Im Oktober waren sie bei der Premiere der 2. Staffel in Berlin. Sie ist am 7. November auf Amazon angelaufen. Eine dritte ist in Arbeit. Für beide gibt’s erneut Musik von Songs in Cinema.

Was sie besonders macht? Zwei Dinge fallen ihnen dazu ein: Zum einen, dass sie ein Faible fürs Songwriting haben. Also nicht nur auf Musik setzen, die Filmszenen begleitet, sondern auch abgeschlossene Titel einreichen. Zum anderen, dass sie als Duo arbeiten. „Es hilft, als Team zu agieren“, betont Hillestad. So könnten sie sich gegenseitig ergänzen und seien strapazierfähiger.

„Die erste Staffel von Maxton Hall war ein Bootcamp für uns“, erzählen sie. Sie hätten viel über Filmmusik und Musikproduktion gelernt. Das Ziel ist, auf dem Level weiterzuarbeiten.

Wenn sie sich einen Film aussuchen könnten?

„James Bond“, sagen beide. Oder was sci-fi-mäßiges wie Interstellar oder Dune. Und ein NoGo?

„Reality-TV vielleicht“, sagt Erhardt und lacht. Dort würden aber selten Filmomponisten gesucht.

Ob sich der Welthit Maxton Hall finanziell gelohnt hat? „Die regulären Sätze für freiberufliche Musiker bleiben die gleichen“, erzählen sie. Die Serie mache da keine Ausnahme.

Das Livegeschäft kennen die beiden gut: Sie sind Teil der Freiburger Indie-Band We Are Alva. So können sie ihre Leidenschaft für Musik auch auf der Bühne ausleben.

Trap und Melodie

FREIBURGER RAPPER A2X WILL DURCHSTARTEN

Der Freiburger Rapper A2X will den Durchbruch schaffen. Seine Songs mischen Melodisches mit Trap, die tiefe Stimme sticht heraus. Im Netz macht der Künstler zunehmend Welle. Jetzt möchte Alex Nebe noch tiefer in die Musik eintauchen.

Im Oktober ist er im Kulturaggregat aufgetreten. Dann im Club Heimatbasel in Basel. Jetzt arbeitet A2X an neuen Songs. Ob er von der Musik leben möchte? „Safe“, sagt der 24-Jährige. Das Jahr 2025 habe sehr geholfen: „Ich habe ziemlich viel hinbekommen“. Nur vier, fünf Shows waren es. Aber finanziell sei es sehr gut gelaufen. Es fehlten zwar noch einige Prozente, um von der Musik zu leben. Doch er sei „auf dem besten Weg dahin“. Geholfen hat ihm dabei sein bisher erfolgreichster Song „Das letzte Versprechen“. Auf einen düsteren Piano-Beat erzählt er von einer verflossenen Liebe. „Abstand, ich brauch Abstand, weil du mir einfach nicht gut tust / und so langsam verlieren wir die Verbindung, es ist Bluetooth“, rappt A2X. Mehr als 230.000 Streams hat der Song auf Spotify, erschienen im Januar 2024. „Wach2koma“ heißt das Album, das er im Februar 2025 veröffentlicht hat. Auf sieben Tracks zeigt A2X eindrucksvoll, wie er Emotionen in Texte packen kann. Im Track „Distanz“ singt er auf einen spacigen Beat im Laid-Back-Modus über eine gescheiterte Beziehung. Die Connections, die er bei Liveshows knüpfen kann, bedeuten ihm viel. „Neben Business-Partnerschaften sind Freundschaften entstanden.“ Sein Ziel sei, Brücken zu bauen. Auch mit Sprachen: Er textet auch auf Französisch, viele englische Wörter mischen sich zwischen das Deutsche. Angefangen mit Rap hat er 2019. Damals als Schüler des Deutsch-Französischen Gymnasiums in Freiburg. Er textete rein auf Französisch, der Flow klang trappiger. Seinen Sound zu finden sei eine Reise. Dafür steht auch A2X: „Von A zu X, der Weg ist das Ziel“, erklärt er. Da A2X vergeben war, nennt er sich auf Intagram A2X098. Seinen Bachelor in Musikmanagement an der Macromedia hat er in der Tasche. Jetzt möchte er die Qualität seiner Songs weiter erhöhen. „ Ich probiere, so viel Energie wie möglich reinzuputten.“ Das nächste Release ist in Arbeit. Dabei hilft auch seine markante Schlafmaske. Warum er sie als Rapper trägt? „ Ich schlafe wenig und es gibt viele Sachen, die ich nicht sehen will.“ Till Neumann

Markenzeichen Schlafmaske: der HipHop-Musiker A2X

Schlagzeug-Tag

3 FRAGEN AN DRUMMER MAX BÜTTNER

Der Freiburger Drumday steigt am 7. Dezember im Artik. Veranstalter Max Büttner (33) nennt ihn „Drum Clinic“. Wer da verarztet wird, das erzählt der Schlagzeuger im Interview mit chilli-Redakteur Till Neumann.

Das Event heißt „Drum Clinic“. Warum? Das Event ist für jeden etwas. Für die kleinen Trommelbegeisterten ist extra eine familienfreundliche Zeit gewählt worden: 16 bis 20 Uhr. Außerdem gibt‘s Familientickets. Dennoch sind mit Drummern wie Christin Neddens krasse Profis am Start, die sich durch Skills am Instrument und clevere Vermarktung einen guten Lebensstandard gesichert haben. Das wird auch für Nicht-Schlagzeuger·innen interessant. Nach jeder Performance kann das Publikum Fragen stellen.

Warum lohnt es sich, dabei zu sein?

Der Freiburg Drumday ist in der Region einzigartig und findet in seiner 3. Auflage statt. Letztes Jahr war Anika Nilles dabei, die nun die Weltbühnen mit der legendären Prog-Rock Band „Rush“ bespielt. Wer weiß, wo es die diesjährigen Dozent·innen hinverschlägt? Der intime Rahmen ist ein großes Plus.

Was ist dein Highlight beim Drumday?

Ein Event zu gestalten und zu organisieren, das ich seit Jahren in unserer Region vermisse. Durch das Tamburi-Mundi-Festival ist Freiburg in der Rahmentrommelwelt ein absoluter Top-Name geworden. Das soll in den kommenden Jahren durch die populäre Musik am Drumset bereichert werden.

Mehr Infos: bit.ly/drumday25

Träume und Groove

(tln). Die Freiburger Band Somas hat gerade ihre erste EP herausgebracht. Auf sechs Songs liefern sie verträumt poppigen Rock mit spanischen Texten. Schon das Cover stellt klar, dass es gemütlich wird: „Child Advisory Dreamy Content“ lautet die nicht ganz ernst gemeinte Warnung auf den klassischen schwarz-weißen Balken.

Aufgenommen haben die vier Musiker ihre Songs schon 2024. Es folgten Auftritte auf dem ZMF, bei Freiburg Stimmt Ein und dem Schlossbergfest. Jetzt gibt’s das Ganze zum Nachhören. Und das macht Laune: Gitarren geben den Ton an, mal smooth treibend, dann akustisch gediegen. Musik, um die Seele baumeln zu lassen.

Der eine Song, der lange im Ohr bleibt, ist auf die Schnelle hier nicht zu entdecken. Aber handgemachte Tracks mit gefühlvollem Gesang und ein paar überraschenden Wendungen.

Die Gruppe um Juan Graziani (Gitarre, Gesang), Sacha Plaza (Gitarre, Gesang), Jerome und Simone Ravo hat Wurzeln in Argentinien, Italien und Deutschland. Ein Melting Pot, der Experimentierfreude mit sich bringt. Die vielleicht stärkste Nummer: „Fabio“ klingt nach Roadtrip und Freiheit. Wenn ihre Musik eine Suche nach dem richtigen Sound ist, dann ist das Quartett auf einem guten Weg. Das Freiburger Publikum steht auf Latino, Bühne frei für Somas.

TINA TURNUP INTRO Deutschrap P

Düster und sexy

(tln). Mit dem Female Rapduo Palas machte die Freiburger Künstlerin Tina Turnup vor vier Jahren von sich reden. Dann wurde es still um die beiden Rapperinnen und ihren „Witch Trap“. Jetzt meldet sich Tina Turnup mit ihrem ersten Solotrack zurück. Er heißt schlicht „Intro“, könnte aber auch den Namen „Heilige Wasser“ tragen. Denn die Line „mit heiligen Wassern gewaschen“ hat Turnup als Kurzvideo auf Instagram gepostet – und viel positives Feedback bekommen.

Auf einen düsteren Trap-Beat von Young Frenchy rappt sie mit eiskaltem Charme: „Schau wie die Wolken verblassen / ich warte auf dich in den Schatten“. Im Instavideo fließt Wasser über ihren Körper, sexy Pose im Bikini. Mit gehauchter Stimme segelt sie über den Trap-Beat. Das hat was. Turnup möchte mit ihrer Musik die Welt verändern: „Mit basslastigen Beats, Dancehall-Elementen und hymnischen Vocals schafft sie einen Sound zwischen Härte und Zartheit – mit dem Anspruch, nicht nur zu unterhalten, sondern zu transformieren“ heißt es in ihrer Künstlerbio. Das Witch ihres Trapsounds stehe für alle, die historisch verfolgt, kontrolliert oder zum Schweigen gebracht wurde.

„Intro“ ist eine wuchtige Produktion, die ins Ohr geht. Und lässt vermuten, dass da bald mehr kommt. Ab dafür.

Foto: © Privat

Gegen Winter-Blues

(dim). Mit „I don’t wanna wake up / ’cuz I’ve been feeling blue“ startet die neue Single der Freiburger Indie-PopBand The Rehats. Ganz so trist wie es der erste Satz vermuten lässt, geht es aber nicht weiter. „I don’t wanna“ handelt vom Loslassen einer Beziehung und den unerwarteten Freuden des Neuanfangs. „I don’t wanna be your maybe / I’d rather be your past“, singt Frontmann Johannes „Jojo“ Stang in der ersten Strophe. So wird im Laufe des Songs aus dem ursprünglichen Herzschmerz eine Chance, sich neu zu erfinden und schließlich „lighter than before“ zu fühlen.

Ebenso eingängig wie die Message ist die Melodie: Der poppige Refrain und die für die Rehats typischen Folk-Elemente laden direkt zum Mitwippen ein. In Kombination mit dem farbenfrohen Musikvideo wirkt „I don’t wanna“ so, als würde sich die Band den Sommer wieder herbeiwünschen – ähnlich wie in ihrem Song „Summertime Cries“ aus dem vergangenen Herbst.

Das Erscheinen ihrer neuen EP im Frühjahr 2026 dürfte den Winter für die vier Bandmitglieder und ihre Fans wohl etwas verkürzen. Wer die Rehats live sehen möchte, kann das am 5. Dezember im Storchenhof in Teningen. Die nächsten Gigs folgen Anfang kommenden Jahres in Emmendingen und Freiburg.

ZIMT&ZORN

YOU&I (TONPONY SESSION)

Indie-Pop-Rock

Stark und frei

(jsj). „Zimt&Zorn“ gelingt es, einen runden deutschsprachigen Indie-Pop-Rock hervorzubringen. Das Ensemble hat im Frühjahr dieses Jahres drei Songs in einer Live-Session in den Tonpony-Studios aufgenommen. Nun endlich sind die drei Singles released worden.

Die starke Stimme von Sängerin Franzi bringt dem Publikum SongTexte, die aufrütteln und empowern. Der handwerklich extrem gut gemachte Indie-Rock der Band sorgt für den notwendigen Impact. Mitgerissen und hingerissen ist der geneigte Zuhörer.

So etwa bei der Single „You&I“. Die Zeilen „Du machst mich nicht klein / steh auf eigenen Beinen“ verraten: Das ist hier kein platter LoveSong. Der Refrain sagt: „Nie mehr you and I“. Zimt&Zorn verbinden auch hier persönliche Themen und politisches Engagement.

Mit der Live-Session entsteht eine besondere Eindringlichkeit, und als Zuhörer kann man sich schwer dagegen wehren, Kraft zu schöpfen und aufzuatmen. Es ist Musik, die einen innerlich die Faust ballen und lächeln lässt. Und hinterher ist man froh: Denn die Band hat auch gerade ihr Debüt-Album „Sandburgen“ releast. Man kann also direkt weiterhören.

... zu Amore

Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen, vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Kommissar Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Es wurde schon immer viel Schindluder mit der Liebe, oder auch Amore, wie die Italo-Affinen hierzulande gerne sagen, getrieben. Was reimt sich eigentlich alles auf Amore? Klar, Tore. Und sonst? Amphore, Empore. Und, richtig: Lago Maggiore.

Das ist auch Gerhard Müller in den Sinn gekommen, der uns vor Längerem bereits unangenehm aufgefallen ist und deshalb in der Vergangenheit auch schon Gegenstand von Ermittlungen war. Sein „Amore, Amore-Lago Maggiore“ ist allein textlich mehr als nur fragwürdig:

„Endlich Wochenende, Du ich weiß was für uns zwei Pack deine Sachen, Dann bist du mit dabei Komm‘ wir fliehen heut‘ in die Sonne, fühlen uns mal wieder richtig frei Amore Amore am Lago Maggiore, Amore Amore ein schönes Gefühl, Amore Amore am Lago Maggiore, Amore Amore, das gibt uns so viel“

Um allerdings das kriminelle Ausmaß in seiner gesamten Tragweite erkennen zu können, sollte man sich wohl oder eher übel dieses Machwerk mit Ton und Bild zu Gemüte führen – zu finden auf einschlägigen Seiten im Darknet, Triggerwarnung unsererseits inklusive.

Die Austro-Pop-Band Wanda hat beispielhaft vorgemacht, wie es richtig geht: „Wenn jemand fragt wofür du stehst, sag für Amore“. Bologna – unsere Stadt.

Amore, amore!

Ihre Polizia di Gusto Maggiore

Gelebte Mondialität

REINHOLD-SCHNEIDER-PREIS 2025 FÜR DIE LITERATURÜBERSETZERIN BEATE THILL

Schon seit 1960 vergibt die Stadt Freiburg den Reinhold-Schneider-Preis – als Kulturpreis für die Bereiche Bildende Kunst, Literatur, Musik, Darstellende Künste sowie Fotografie/Film/Neue Medien. Heuer werden Freiburger Literaturschaffende ausgezeichnet: Der mit 15.000 Euro dotierte Hauptpreis geht an die literarische Übersetzerin Beate Thill.

Sie hatte schon immer den Blick über alle möglichen Grenzen, sprach schon immer zwei Sprachen – in Zeiten, da dies alles

Freude über die Anerkennung:

Die literarische Übersetzerin

Beate Thill ist in mehreren Sprachen zu Hause und wird mit dem Reinhold-Schneider-Preis der Stadt Freiburg für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.

andere als selbstverständlich war: Beate Thill wuchs in den 1950er-Jahren in der Ortenau auf; ihre Mutter stammte aus der Nähe von Colmar, ihr Vater aus Berlin. In der Familie wurde Französisch und Deutsch gesprochen. Regelmäßige Besuche bei den Elsässer Verwandten und das frühe Engagement des Vaters in grenzüberwindenden partnerschaftlichen Projekten ließen in ihr die Überzeugung wachsen, dass Menschen und ihre Kulturen näher zusammengebracht werden sollten. Und dass sich Sprachen und Identitäten vorwiegend durch Beziehungen untereinander bilden und weiterentwickeln.

Vor mehr als 50 Jahren kam sie zum Studium der Anglistik und Geographie nach Freiburg – und blieb: Es gefiel ihr in

diesem „Außenposten Deutschlands in Richtung Frankreich“. Und da sie sich schon während des Studiums für den „globalen Süden“ engagiert hatte, arbeitete sie nach dessen Abschluss als Redakteurin bei der Zeitschrift Blätter des iz3w. Im Zusammenhang mit dieser Arbeit lernte sie auch die bis dahin wenig beachteten Literaturen aus Afrika und der Karibik kennen und fasste „irgendwann“ den Entschluss, sie zu übersetzen und so hiesigen Lesern nahezubringen.

Zunächst beschäftigte sie sich mit englischsprachigen Texten, merkte dann aber, dass sie mit ihrer schon immer vorhandenen zweiten Sprache weiterkam als mit der in Schule und Studium gründlich erlernten. Dank dieser war sie in der Lage, auch die oft in den regionalen Kreolsprachen verfassten oder zumindest davon beeinflussten Werke zu lesen und die Bedeutung dieser Sprachen zu erkennen.

Sie seien nämlich ein lebendiges und inzwischen selbstbewusstes Erbe des „Kompromisses, den versklavte Menschen notgedrungen mit der Sprache der Kolonialherrn eingingen“. Und so Elemente weit zurückreichender Wurzeln enthalte.

Seit 40 Jahren arbeitet Thill als freischaffende Übersetzerin, ist dabei „unglaublichen und großartigen Menschen“ wie etwa dem Philosophen und Dichter Édouard Glissant aus Martinique oder dem haitianischen Schriftsteller Dany Laferrière begegnet und hat deren Werke übersetzt. Und dabei „gelernt, mit einem ganz neuen Blick auf die Welt zu schauen“. Teilweise lebt sie in Paris, empfindet Freiburg aber bis heute als „Ort gelebter Mondialität“.

Bei der Feierstunde am 21. November im Historischen Kaufhaus werden zudem noch zwei Schreibstipendien mit je 3000 Euro an Fatma Sagir und Kai Weyand vergeben. Und ein Ehrenpreis: Er geht posthum an Marie T. Martin, die in ihrer kurzen Lebenszeit ein ungewöhnlich umfassendes und eigenwilliges literarisches Werk geschaffen hat.

von Erika Weisser
Foto: © Britt Schilling

VOM VERSUCH, EINE BREZEL GERADE ZU BIEGEN MOSCOW MULE

von Maya Rosa

Verlag:

Penguin, 2025

320 Seiten, Hardcover

Preis: 24 Euro

In den falschen Betten

(ewei). Moscow Mule ist ein Cocktail, zu dem es außer Limettensaft und Ginger Beer jede Menge Wodka braucht. Was bestens zu Maya Rosas Debütroman passt: Darin streunen die Protagonistinnen Karina und Tonya oft ordentlich alkoholisiert durch ihr universitäres Moskauer Leben.

Auf der Suche nach legalen Wegen aus einem Land, dem von der ohnehin labilen Demokratie nur der beschönigende Name geblieben ist, stolpern die Freundinnen durch Büros für Auslandsstipendien, durch Botschaften visumgebender Länder, durch die Betten angeblich einflussreicher Party-Bekanntschaften.

Und nicht immer sind ihre Erlebnisse so amüsant wie in der Eingangsszene, in der sich die beiden mit allen Mitteln der Fingerkunst vergeblich damit abmühen, „von ihm eine ordentliche Erektion zu bekommen“. Und hernach vielleicht das Geld für einen Passierschein. Doch mit dem nötigen Wahnsinn meistern sie jede Situation, kommen ihrem Ziel sogar näher.

Dass sie sich dabei voneinander entfernen, ist für Karina zwar schmerzhaft, doch sie gibt nicht auf. Aus dem orientierungslosen Spiel ist echter politischer Freiheitsdrang geworden, den sie konsequent verfolgt. Witzig und klug erzählt die Autorin, die seit 2011 in Berlin lebt, von einer Achterbahnfahrt der Selbstermächtigung.

FÜR IMMER SEHE ICH DICH WIEDER

von Yannic Han Biao

Federer

Verlag:

Suhrkamp, 2025

180 Seiten, Hardcover

Preis: 20 Euro

Worte der unsagbaren Trauer

(ewei). Yannic Han Biao Federer kam in Breisach zur Welt, wuchs in Staufen auf und lebt als freier Autor in Köln. Und hier wird für ihn und seine Frau Charlotte der größte Albtraum werdender Eltern Wirklichkeit: Kurz vor seiner Geburt stirbt ihr Sohn Gustav Tian Ming. Sie können die Katastrophe nicht fassen, können nicht über ihren Schmerz sprechen. Und inmitten hilfloser Tröstungsversuche von Verwandten und Freunden, endloser Auseinandersetzungen mit bürokratischen Abläufen und der kaum zu bewältigenden Vorbereitung der Bestattung des toten Kindes beginnt Federer aufzuschreiben, was um ihn herum geschieht. „Plötzlich“, notiert er, „fühlt sich alles falsch an, wie ausgedacht“. Wie ver-rückt, wie andere Menschen betreffend.

Sein sehr persönliches und soeben mit dem Buchpreis „Familienroman 2025“ der Stiftung Ravensburger Verlag ausgezeichnetes Werk ist ein Versuch zu begreifen, was geschehen ist. Eine Sprache zu finden für ihre unsagbare Trauer. Es ist ihm gelungen. Mehr noch: Über das Schreiben gelingt es Federer, auch den Tod des Sohnes zu akzeptieren, ihn als Familienmitglied an einem anderen Ort wahrzunehmen: Als die Morgensonne durchs Fenster scheint, sind die verwaisten Eltern sich einig, dass „Gusti sie uns geschickt hat“.

von Klaus Ruch

Verlag:

Gmeiner, 2025

284 Seiten, Paperback

Preis: 20 Euro

Unbändige Lebensfreude

(ewei). Als Klaus Ruch seine Mutter Liselotte fragt, wie es denn sei, nach langer Zeit wieder regelmäßig Schach zu spielen, ist diese weniger gesprächig als sonst. Da sie aber versonnen lächelt, schließt er daraus, dass sie wohl mehr als nur die Spielkunst des neuen Nachbarn in ihrer Freiburger Seniorenresidenz ins Herz geschlossen hat.

Er freut sich für Liselotte, die „trotz ihrer mehr als 90 Jahre wie ein Mädchen ist“ – verliebt und „mit einer unbändigen Lust auf das Leben“. Er kennt sie, die als Tochter des Dorfbecks in Hausach aufwuchs und zur Ausbildung allein nach Freiburg zog, nicht anders als neugierig, herzensgut, eigensinnig – und gegenüber anderen ohne Vorbehalte. Aus ihren Erzählungen weiß er von ihrer Freundschaft zu dem Sinti-Mädchen Sulamith, dessen Familie ab 1940 ihr Lager nicht mehr im Dorf aufschlug.

Und von ihrer Trauer über den Verlust ihrer Tante Pauline, die lange versteckt wurde, dann aber in einem der berüchtigten grauen Euthanasie-Busse verschwand. Ruch zeichnet ein bemerkenswert authentisches Porträt einer Persönlichkeit, die sich ebenso wenig geradebiegen ließ wie die Brezeln in Vaters Bäckerei. Einer Frau, die ihren Weg beharrlich selbst gestaltete und ein Stück regionale Zeitgeschichte mitschrieb.

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