chilli cultur.zeit

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NEU IM KINO: „WENN DER HERBST NAHT“

SEHNSUCHTSORTE: LITERATEN IN SÜDBADEN

Räume für die schönen Künste

ERSTAUNLICHE ENTDECKUNGEN IN FREIBURGS GALERIENGEOGRAFIE

In Freiburg gibt es viele und ganz unterschiedliche Kunsträume und Galerien. Auf kleinstem Raum oder großzügigen Etagen, in Einkaufspassagen und Hinterhöfen, in aufgegebenen Schwimmbädern oder Lebensmittelläden, in ehemaligen Fleischereien oder Fischgeschäften, auf einer Liegewiese, in einem Turm oder einem früheren Pförtnerhaus – fast überall finden findige Galeristen erstaunliche Orte für die Kunst, die ihnen am Herzen liegt. Eine Auswahl.

„NSTTTZRWHRKRFTZRSTZNG“ ist an der Tür zum Hinterhaus des Anwesens Basler Straße 13 zu entziffern. Elf Jahre lang – bis 2023 – hieß diese Galerie wie der Inhaber: Marek Kralewski. Dann ertrug er den wachsenden „Chor der Alternativlosigkeit des Kriegs“ nicht mehr. Überzeugt, dass Arbeit mit Kunst Arbeit am Frieden ist und Kunstgalerien somit „Institute zur Wehrkraftzersetzung“ sind, wählte er diesen bizarr anmutenden Namen. In seinem Institut präsentiert er in wechselnden Ausstellungen zeitgenössische Positionen der Kunst regionaler und internationaler Künstler. Dort sind ab 21. September Porträts der Karlsruher Malerin Irene von Neuendorff zu sehen.

Schon zehn Tage früher, am 12. September, beendet die um die Ecke in der Kirchstraße 32 ansässige Galerie Claeys ihre Sommerpause mit der Ausstellung „Von Wiesen und Gärten“. Mit Arbeiten von Stamm-Künstlerinnen der Galerie, die bevorzugt künstlerische Positionen von Frauen präsentiert, deren inhaltliche Schwerpunkte bei den Themen Mensch und Natur liegen.

Diese Galerie beteiligt sich, wie „NSTTTZRWHRKRFTZRSTZNG“, an der Nocturne, dem nächtlichen Rundgang durch neun Freiburger Kunsträume am 19. September. Er beginnt um 18 und endet nach 22 Uhr mit einer Party im Museum für Neue Kunst.

Mit von der Nocturne-Partie ist auch der Kunstverein in der Dreisamstraße 21. Bei den Ausstellungen des vor 198 Jahren gegründeten Vereins geht es um die Wirkung politischer, sozialer oder ökonomischer Umbrüche, ökologischer Zerstörungen und technologischer Entwicklungen auf die gegenwärtige Kunst.

In der großen und hohen Halle des ehemaligen, zum diagonal gegenüberliegenden Marienbad gehörigen Männerbads werden dann (bis 2. November) Fotografien gezeigt, die die Künstlerin und Barkeeperin Paul Niedermayer bei ihren Bahnreisen nicht nur an der Bar von Bordbistros gemacht hat.

Auch das Depot.K an der Hauptstraße 82 wird von einem Verein getragen. Dieser Projektraum zur Präsentation und Vermittlung zeitgenössischer Kunst bietet etablierten wie unbekannten Kulturschaffenden die Möglichkeit, ihre Arbeit einem

von Erika Weisser
Schöne Räume: Ausstellungen der Galerie NSTTTZRWHRKRFTZRSTZNG (o.) und im Depot.K (u.)
Sommerhaus: Die kleine Galerie der kleinen Künste lädt zum Wohnzimmerbesuch.
Foto: © ewei

interessierten Publikum vorzustellen. Bis 7. September sind dort Malereien von Bärbel Bähr und Collagen von Hege Maria Verweyen ausgestellt, ab 13. September (und bei der Nocturne) gibt es „Fragiles“, ein Gruppenprojekt der GEDOK Freiburg. Dieser Verband zur Förderung von Künstlerinnen hat inzwischen eine eigene kleine Galerie: K 5 in der Konviktstraße 5; die aktuelle Ausstellung heißt „zaubern und zeichnen“ und zeigt Arbeiten von Angelika Link und Carola Faller-Berris.

Ums Zeichnen geht es bei der nächsten Ausstellung in der Galerie Strich und Faden ausnahmsweise nicht. Und auch nicht um Textilkunst, dem anderen Schwerpunkt des Kunstraums, den Monika Häußler-Göschl und Peter Göschl in einer früheren Fleischerei in der Klarastraße 40 eingerichtet haben. Vom 12. September bis 2. Oktober präsentieren sie Arbeiten des Freiburger Fotografen Rudolf Kalthoff. Thema: Wasser, Licht, Vergänglichkeit.

In der idyllisch in einem Hof gegenüber der Adelhauser Kirche gelegenen „Galerie der Kleinen Künste“ (Adelhauserstr. 10a) gibt es hingegen keine Pause: In dem winzigen Raum verwirklicht Johanna Urban seit Dezember 2023 ein „Herzensprojekt“

Galerie mit Galerien: In der lichten hohen Halle des ehemaligen Männerbads organisiert heute der Kunstverein Ausstellungen.

und organisiert jeden Monat neue Ausstellungen, die die Herzen aller Menschen für die Kunst öffnen sollen. In ihrem „Wohnzimmer, in das man reinbummeln kann“, präsentiert sie bis 30. August metaphysische Malereien von Luigi Anton Scatola. Und schon am 4. September beginnt die nächste Werkschau mit Bildern des kubanischen Künstlers Nelson Ramos Sandoval.

Von hier ist es nicht weit zur Stiftung E & K, einem „Space for Visual Art“, den Sandra Eades und Reinhard Klessinger in einer geräumigen Altbauwohnung in der Luisenstraße 1 etabliert haben. Sie haben die Ausstellung, die kurz vor der Nocturne eröffnet werden soll, bereits aufgebaut. „Further and even further“ heißt sie und zeigt offene Bildserien, die sich in den Gedanken fortsetzen, in denen die 15 beteiligten Künstler „keinen Anfang und kein Ende offensichtlich werden lassen“. Anders als die Ausstellung: Sie beginnt am 17. September und endet am 25. Februar 2026.

Auch in dem von einer gewölbten Decke überspannten Kunstraum Nigra Monahejo in der Passage des Schwarzen Klosters, im Skulpturenpark auf der Liegewiese des Faulerbads und einigen anderen Galerien beginnen im September neue Ausstellungen.

Vasen für die Nocturne: In derStiftung E & K ist alles für die Sequenzen-Ausstellung „Further and Further“ vorbereitet.

Figürliches: im Kunstraum Nigra Monahejo beim Schwarzen Kloster (li.) und im Skulpturenpark auf der Liegewiese (re.)

Foto: © ewei
Foto: © MIXALIS K
Foto: © Reinhard Klessinger
Foto: © Marc Doradzillo

In die Sonne schauen

Deutschland 2025

Regie: Mascha Schilinski

Mit: Lena Urzendowsky, Zoë

Baier, Luise Heyer, Laeni

Geiseler, Hanna Heckt, Lea

Drinda u.a.

Verleih: Neue Visionen

Laufzeit: 149 Minuten

Start: 28. August 2025

Rätselhafte Zeitreise

MASCHA SCHILINSKIS PREISGEKRÖNTES JAHRHUNDERT-

EPOS LÄUFT IN FREIBURG AN

Auf einem abgeschiedenen Vierseitenhof in der Altmark wird Vergangenheit spürbar, wird Zukunft vorweggenommen, verschränkt sich die Gegenwart mit beidem. Auf diesem ehemals von vielen Menschen bewohnten Hof erlebten und erleben im Laufe eines Jahrhunderts vier Generationen von Frauen ihre Kindheit oder Jugend. Dabei sind ihre Lebenswege über die ganz unterschiedlichen Epochen hinweg auf beinahe unheimliche Weise miteinander verwoben.

Entsprechend ist die filmische Erzählung ihrer Geschichten nicht chronologisch oder linear. Zwar wird erkennbar, dass Alma in der Kaiser- und Kriegszeit der 1910er-Jahre aufwächst, Erika in den Nazi- und frühen Nachkriegsjahren lebt, Angelika in der DDR der 1980er und Nelly in der Jetzt-Zeit. Doch während jede von ihnen ihre eigene, von immer weniger Angehörigen derselben Großfamilie bevölkerten Gegenwart durchstreift, offenbaren sich ihnen – und dem Publikum –immer wieder Spuren der Vergangenheit. Jede von ihnen trägt an den unbewussten Lasten der Vergangenheit, erfährt unausgesprochene Ängste, wird mit verdrängten Traumata konfrontiert, stößt auf verschüttete Geheimnisse. Alma entdeckt, dass sie nach ihrer im Kindesalter verstorbenen Schwester benannt wurde und ist überzeugt, dass sie das gleiche Schicksal ereilen wird. Die völlig unversehrte Erika leidet unter Phantomschmerzen und findet erst viel später heraus, dass ihrem bein-

fährliche Faszination auf sie ausübt, in jungen Jahren absichtlich eine schwere Verletzung zugefügt wurde, um ihn vor dem Kriegsdienst zu bewahren. Angelika balanciert zwischen Todessehnsucht und Lebensgier, gefangen in einem brüchigen Familiensystem. Nelly schließlich, die in scheinbarer Geborgenheit aufwächst, wird von intensiven Träumen heimgesucht. Sie alle ahnen – und spüren am eigenen Körper –, dass es im Laufe der Frauenleben vor ihnen immer wieder Suizide gab, dass Mägde zwangssterilisiert wurden, um sie für die vergewaltigenden Männer „ungefährlich“ zu machen. Dass so manche ihrer Vorfahrinnen an den Verhältnissen zerbrach, dass vieles von dem, was durch Schlüssellöcher beobachtet und flüsternd kolportiert wurde, Schatten bis in ihre jeweilige Gegenwart wirft. Denn besprochen – und damit aufgearbeitet – werden die sich wiederholenden tragischen Ereignisse nie. Mascha Schilinski spielt dabei ganz bewusst mit dem Zweideutigen und schwer Greifbaren, mit Traumbildern, inneren Geistern und vieldeutigen Zwischentönen. Zwischen Türspaltenblicken, Kornfeld-Szenen und vorgehaltenen Händen entfaltet sich eine Zeitreise voller Geheimnisse, ein grandioses Mehrgenerationenporträt, das gleichermaßen lebensfroh und sinnlich wie erschütternd und verstörend wirkt. „In die Sonne schauen“ ist ein beeindruckender Film, der unter die Haut geht und lange zum Nachdenken anregt. Großer Preis der Jury bei den Filmfestspielen in Cannes 2025.

FREIBURG-PREMIERE: Dienstag, 26. August, 20.45 Uhr im Sommernachtskino im

WENN DER HERBST NAHT

Frankreich 2024

Regie: François Ozon

Mit: Hélène Vincent, Josiane Balsko u.a.

Verleih: Weltkino

Laufzeit: 103 Minuten

Start: 28. August 2025

Ein dubioses Pilzragout

(ewei). Michelle verbringt ihren Ruhestand in einem großen Haus in einem Dorf in der Bourgogne. Ihre Pariser Wohnung hat sie ihrer Tochter Valérie überlassen. Diese leidet nicht nur an chronischem Geldmangel, sondern ist auch ausgesprochen biestig. Besonders zu Michelle, aber auch zu Laurent, dem getrennt lebenden Vater ihres Sohnes Luca. Der ist wiederum Michelles ganzes Glück – und sie freut sich darauf, dass er seine Herbstferien bei ihr verbringt. Doch daraus wird nichts: Als Valérie nach dem Verzehr eines von Michelle zubereiteten Pilzragouts schlecht wird, unterstellt sie der Mutter Mordabsichten, verlangt 500 Euro, untersagt ihr jeden Kontakt zu Luca und reist mit ihm ab. Michelle ist untröstlich – da können auch die beste Freundin Marie-Claude und ihr frisch aus dem Knast entlassener Sohn Vincent nicht helfen. Oder doch? Jedenfalls kommt es, als Valérie Michelle zwingen will, ihr das Haus zu überschreiben, zu unerklärlichen und unaufklärbaren Ereignissen.

22 BAHNEN

Deutschland 2025

Regie: Mia Maariel Meyer

Mit: Luna Wedler, Zoë Baier u.a.

Verleih: Constantin Film

Laufzeit: 102 Minuten

Start: 4. September 2025

Über Wasser halten

(ewei). Tilda geht nicht einfach nur ein paar Züge schwimmen. Und niemals hängt sie nach ihren täglichen 22 Bahnen auf der Liegewiese des Schwimmbads ab. Wochentags geht sie direkt danach in den Supermarkt, wo sie an der Kasse arbeitet. Das tut die Studentin nicht etwa zur Aufbesserung ihrer eigenen Kasse, sondern für den Familienunterhalt: Sie muss für sich und ihre kleine Schwester Ida sorgen – und auch für die alkoholkranke Mutter Andrea.

Die „zu 66,67 Prozent intakte Familie“ lebt in einer engen Wohnung. Tilda kümmert sich neben ihrem Studium um Idas Schulangelegenheiten und ihre emotionale Suche nach Geborgenheit und einem schönen Leben. Andrea ist dazu nur selten imstande. Mit extremer Disziplin und viel Liebe gelingt es Tilda, alles über Wasser zu halten. Doch dann kommt unerwartet Viktor in ihr Leben. Und im fernen Berlin wird ihr eine lange ersehnte Promotionsstelle angeboten. Sie gerät in tiefe Gewissensnot – und die Situation zu Hause völlig außer Kontrolle.

MIROIRS NO. 3

Deutschland 2025

Regie: Christian Petzold

Mit: Paula Beer, Barbara Auer u.a.

Verleih: Piffl Medien

Laufzeit: 86 Minuten

Start: 18. September 2025

Nur

äußerlich unversehrt

(ewei). In den letzten Stunden mit ihrem Freund wirkt Laura rätselhaft abwesend und distanziert. Dann haben sie ganz in der Nähe eines einzeln stehenden Hauses einen Autounfall, den er nicht überlebt. Betty, die alleine lebende Bewohnerin des Hauses, hört den Unfall, eilt zu der Stelle und findet die leicht verletzte Laura im Gras. Die deutlich ältere Betty nimmt die junge Musikstudentin bei sich auf, bemuttert sie, bringt sie ins Bett, erzählt ihr Geschichten – und bietet Kleider an, die ihr erstaunlich gut passen. Zwar spürt die innerlich aus der Bahn geworfene und nur äußerlich unversehrte Laura schnell, dass etwas nicht stimmt. Dass nicht nur Betty, sondern auch ihr getrennt lebender Ehemann Richard und der gemeinsame, beim Vater wohnende Sohn Max an einem tiefgreifenden Schmerz leiden, über den sie nicht sprechen können. Doch sie genießt die Zuneigung und die Fürsorge, freut sich darüber, eine Zeit lang zu dieser warum auch immer zerrütteten Familie zu gehören.

Fotos: © Weltkino
Fotos: © Constantin Film
Fotos: © Piffl Medien

„Immer noch Gänsehaut“: furioser Auftritt im Tanzbrunnen bei „Freiburg Stimmt Ein“

Geballte Energie

TROMMELGRUPPE BRASILIKUM BRINGT SAMBA-EKSTASE

Rhythmus. Tanz. Power. Die Trommelgruppe Brasilikum hat sich mit mitreißenden Auftritten einen Namen gemacht. Im Tanzbrunnen versetzte sie

Hunderte in Ekstase. Die Logistik dahinter ist schweißtreibend.

Der Freiburger Tanzbrunnen lockt eigentlich kleine Gruppen an. Nicht so beim Festival „Freiburg Stimmt Ein“ im Juni: Brasilikum nutzte ihn als Bühne. Sie begeisterte mit wilden Samba-Sounds, aufwendigen Choreos und fesselte rund 1000 Fans rund um den Brunnen.

„Die Stimmung war Wahnsinn, ich krieg schon wieder Gänsehaut“, erinnert sich Brasilikum-Leiter Marc Noller (53). Dass der Auftritt ein besonderer würde, habe sich an-

gebahnt. Schon beim Warmspielen seien 150 Menschen dagesessen. Bei der Show zu später Stunde kamen rund 1000 und feierten ausgelassen.

Samba-Feeling wie in Rio? „Eher wie in Salvador de Bahia”, korrigiert Noller. Ihre Musik orientiere sich mehr an den Klängen des Sambas aus der Stadt im Nordosten Brasiliens als an dem aus Rio. Statt mit einer Pfeife wird mit den Händen dirigiert. Das Tempo ist langsamer. Die Musik klingt afrikanischer, erdiger.

reos der Riesen-Truppe setzen eins obendrauf. Stillstehen? Unmöglich. „Wir sind wahrscheinlich die größte Trommelgruppe Süddeutschlands“, schätzt Noller. Für Freiburg gelte das ohnehin. Rund 80 Menschen zählt der gemeinnützige Verein. Zirka 70 sind aktive Trommler·innen. Nur sieben waren es 2011. Seit dem

„Wahrscheinlich größte Trommelgruppe in Süddeutschland“

Seit fast 20 Jahren sind Brasilikum in und um Freiburg zu sehen. Zuletzt traten sie beim African Music Festival in Emmendingen auf. Beim Freiburg Marathon heizten sie den Läufer·innen beim Hauptbahnhof ein. Auffällig: Der Sound schiebt mittlerweile mit geballter Power, die Cho-

Jahr leitet Noller die Gruppe. Im Vorstand sitzt er mit Rafael Schmitt und Doris Filippi.

Für Noller, berufstätig als Lehrer, ist Brasilikum Passion und Nebenjob. Er schreibt Stücke, organisiert Proben und Auftritte, dirigiert gemeinsam mit Schmitt die Shows. Bei großen Auftritten sind 40 bis 50 Musiker·innen am Start

von Till Neumann

Allein für die Proben braucht es Platz und die Möglichkeit, laut zu sein. Fündig geworden sind sie im Club Hans-Bunte. Dort üben sie wöchentlich, aufgeteilt in vier Level. Zudem gibt es eine Choreo-Gruppe für die Tanzschritte.

Nächstes Jahr könnte die Gruppe auf 100 Menschen gewachsen sein. Nicht alle wünschen sich das, berichtet Noller: „Viel Zulauf ist eine totale Überforderung für die Leitung und die Einsteigergruppe.“ Es brauche Zeit, um sich zu finden.

Das Besondere an Brasilikum? „Für mich ist es die Vielfalt“, sagt Doris Filippi (36). In Sachen Alter, Herkunft und musikalischem Hintergrund sei die Gruppe breit gefächert. „Es gibt Menschen wie mich, die reingekommen sind ohne irgendwelche Erfahrungen und einfach gesagt haben: Boah, was für eine tolle Atmosphäre. Da will ich Teil von sein.“ Noller ergänzt: „Für mich ist es auch die Bereitschaft, etwas zu investieren, um das nächste Niveau zu erreichen.“ Brasilianische Kultur werde mit der deutschen kombiniert und mit World-Music-Grooves angereichert.

So entsteht ein wilder Mix, der auch Hits wie „Schüttel dein Speck“ von Peter Fox im Programm hat. Noller hat ihn adaptiert und bindet das Publikum je nach Stimmungslage mit ein. Auch einen Technosong hat er für Brasilikum arrangiert. Andere Tracks kommen von der „BahiaConnection“, eine Percussion-Gruppe, die Stücke aufbereitet und mit anderen teilt.

Noller und Filippi sehen eine wachsende Fanbase. Aber manchmal auch fehlende Wertschätzung für ihre Musik, da sie weniger auf Stimme und Melodien setzt als andere Genres. Auf einem großen Festival der Region zu spielen, das würde Noller freuen. Filippi würde den magischen Abend im Tanzbrunnen gerne noch mal erleben. Die eigene Messlatte haben sie mit dem Auftritt hochgelegt. Und machen sich damit selbst auch etwas Druck. Bei so viel Power und Spielfreude stehen die Chancen aber sicher gut, so ein EkstaseEvent noch mal zu schaffen.

„Die Welt retten“

AUSZEICHNUNG FÜR KOMPONIST BENJAMIN SCHEUER

Stolze 20.000 Euro bekommt der Komponist Benjamin Scheuer. Das Preisgeld ist Teil der Auszeichnung mit dem Hindemith-Preis. Den hat der 37-jährige Hamburger gerade bekommen. Promoviert hat er in Freiburg, bekannt gemacht hat ihn sein Hang zu außergewöhnlichen Inszenierungen.

Schon Sänger Tim Bendzko wollte „kurz die Welt retten“. Das versucht auch Benjamin Scheuer: Der Hamburger Komponist mit Freiburger Wurzeln hat in Hannover Notfallkonzerte veranstaltet. Zum Beispiel ließ er eines seiner Stücke von einem Streichquartett vor einem Geflügelschlachthof aufführen. „Ein Requiem für jedes getötete Huhn“, erzählt er am Telefon. Scheuer ist überzeugt: „Klassische Musik kann die Welt retten.“ Mit den Notfallkonzerten oder einem Stück mit 600 Blasmusiker·innen im Fußballstadion von Hannover hat er von sich reden gemacht. Aufsehen erregt zudem sein humorvoller Ansatz: Bei Auftritten kommen sprechende Kuscheltiere zum Einsatz, Möwe Horst oder auch ein Schweinchen. Musikerinnen können auch mal schreien oder komische Laute von sich geben. Zeitgenössische experimentelle Musik ist sein Zuhause. Doch Scheuer möchte ausbrechen aus dem Elitären: „Ich will mich mit etwas Anspruchsvollem beschäftigen, aber gleichzeitig natürlich auch Spaß haben.“ Humorvolle Elemente oder merkwürdige Objekte einzubauen, das seien Wege, eine Art direkte Menschlichkeit und Sinnlichkeit reinzukriegen. „Sie macht die Musik unmittelbar verständlich“, betont Scheuer. So vermittelt er Komposition auch bei Workshops mit jungen Menschen. Dafür bringt er einen Koffer voller Klangobjekte mit und schafft damit einfache Zugänge. „Man hat einfach Lust, zuzugreifen und auszuprobieren“, erklärt Scheuer.

Die Jury des Hindemith-Preises lobt ihn für diesen Ansatz: „Auf der Suche nach ungewöhnlichen Klängen hat er seine eigene Stimme gefunden.“ Den hoch dotierten Preis verleiht sie 2025 zum 36. Mal an zeitgenössische Komponist·innen. Für Scheuer kam die Auszeichnung „aus heiterem Himmel“. Sein Wunsch: „Dass ich die tollen Zusammenarbeiten mit inspirierenden Menschen weiterführen kann.“ Till Neumann

zugänglich:

Leitet das Riesen-Ensemble: Marc Noller
Macht Experimentelles
Benjamin Scheuer

Ohne Männer sehr harmonisch

3 FRAGEN AN FENJA OSSWALD VON HURRYBIRD

Vergangenes Jahr beim ZMF gegründet – dieses Jahr der erste Auftritt: Die Newcomer-Band Hurrybird sorgt für frischen Wind. Im Interview mit chilli-Redakteur David Pister erzählt Bassistin und Sängerin Fenja Osswald (2. v.r.), warum keine Männer in der Band sind und wie der erste Auftritt beim ZMF war.

Eure Besetzung ist komplett weiblich – zufällig oder geplant?

Geplant! Ich wollte unbedingt eine reine Frauenband gründen, Männerbands gibt es wirklich schon genug. Ich möchte, dass sich mehr Frauen zutrauen, auf die Bühne zu gehen. Ohne Männer ist die Stimmung im Proberaum außerdem sehr harmonisch.

Wie ist eure Band entstanden?

Wir haben uns 2024 beim ZMF gegründet. Magdalena und ich saßen auf der Wiese und überlegten, ein neues Hobby anzufangen. Erst stand Tanzen im Raum, dann meinte ich, dass ich schon immer eine Band wollte – und sie auch. Später kam ihre Freundin Marit dazu, die Schlagzeug spielt, und war sofort dabei. Da uns noch melodische Instrumente fehlten, suchten wir weiter. Ende Mai stellte uns ein Freund Kathi und Sol vor – es hat sofort gepasst.

Wie war der erste Auftritt auf dem ZMF?

Unvergesslich! Wir haben ein Jahr lang darauf hingearbeitet. Seit Mai zu fünft haben wir riesige Fortschritte gemacht. Es war großartig: 200 Leute – viele Freunde, Kinder aus der Grundschule, in der ich arbeite, und auch völlig fremde Menschen. Klar, ein paar Fehler sind passiert, aber das gehört dazu. Ein Meilenstein, den wir nicht vergessen werden.

Starkes Duo

(tln). Zwei starke Freiburger Stimmen haben sich für einen Track zusammengetan: Rapper Chabezo und Sänger Kenyatta Joyner haben „Blutbahn“ rausgebracht. Chabezo hat mit der Band Otto Normal jahrelang Furore gemacht. Joyner ist vielen bekannt als Frontmann „Kenny“ von der Power-Funk-Crew Fatcat.

Früher rauften sich die beiden Gruppen um den Ruf als erfolgreichste Band in Town. Jetzt machen die beiden auf Solopfaden gemeinsame Sache. Kenny weiterhin in Freiburg, Chabezo verstärkt in Berlin. Man fragt sich: Warum ist so eine Collabo nicht schon früher passiert?

Blutbahn kommt als schiebende Boombap-Nummer durch die Box. Mit einer Hook, die hängen bleibt: „Du bist MDMA für meine Blutbahn, nanananaaaa / nur du gibst mir Goosebumps, ja verdammt das fühlt sich gut an“, singt Kenny zum Auftakt. Später gibt’s den Chorus auch von Chabezo. Und das klingt bei beiden richtig gut.

Die E-Gitarre versprüht Feuer und die zwei Stimmen matchen einfach: Kenny mit souligem Timbre und Chabezos Reibeisen-Rap. „Das perfekte Paar wie Jay-Z und Queen B“, heißt es im Text. Da geht’s um die Liebe. Passt aber auch zu dieser gelungenen Kombo. „Wir wollten bleiben bis zum Ende, doch wir beide sind am Ende“, heißt es am Ende im Song. Musikalisch sicher nicht. Gerne mehr davon.

Mitreißender Up-Beat

(pid). Es treibt und treibt und treibt. Umpta-Umpta-Umpta. Wandernder Bass, mal steht das Klavier im Vordergrund, mal die Gitarre – mit einem verdammt cleanen Solo. Irgendwie Ska-mäßig klingt die neue Single von Elektrosauna, die mit 6 Minuten und 52 Sekunden in Zeiten von maßgeschneiderten Tiktok-Songs ein echter Longplayer ist.

Chamäleon heißt der Song und ist die erste Single des ersten Albums der Band mit den tausend Gesichtern. Hardrock, Punk, Indie, Psychedelic –mischen sie zu ihrer ganz eigenen Soße zusammen. Beim Songcontest Die Rampe holten sie den zweiten Platz –Chamäleon ist ein Einser-Kandidat: reißt mit, vielseitig und mit einem richtig geilen Breakdown.

Auf der Textebene geht’s um Anpassung – Veränderung der Anderen zu Liebe. Wie ein Chamäleon sich an seine direkte Umgebung anpasst, machen’s auch viele Menschen, ohne auf sich und mal in sich selbst zu hören. „Am Ende bist du eh allein, dann kannst du auch verdammt bunt sein“, schreit Sängerin Muriel Herth am Ende des Songs heraus. Und dann kommt endlich die Pointe, es löst sich auf: Aus „für dich schmeiß ich mich täglich in neue Farbtöpfe rein“ wird „für mich“. Schluss mit dem Anpassen, den gesellschaftlichen Zwängen, Schluss mit dem so sein, wie es andere gern hätten.

Foto: © madeleine

FLRRN

NIE WIEDER TEXTIL

Elektro-Pop

Plädoyer gegen Kleidung

(pid). Sie kratzt, zwickt, fusselt, scheuert. Und vor allem: Sie stört bei Zweisamkeit. „Ich will nie wieder textil. Kein Zentimeter Raum zwischen uns. Nicht mal ein Molekül. Nur Haut auf Haut auf Haut“, singt Newcomer flrrn zu tremolierenden Synth-Akkorden und poppigem Schlagzeug.

Wäre der Schlafzimmerblick eine Single, sie würde genau so klingen: verführerisch, sexy mit Augenzwinkern – und ganz viel nackter Haut. Natürlich darf auch das erotischste aller Instrumente nicht fehlen: Am Ende haucht und säuselt das Saxophon ein Solo, das die Hymne der Zärtlichkeit zum Höhepunkt bringt. Ohrgasmus inklusive.

Hinter flrrn steckt Joël Beierer, der mit „Nie wieder Textil“ seine erste Single veröffentlicht hat. In Freiburgs Kulturszene ist Beierer allerdings kein Unbekannter – Performer, Komponist, Sound-Designer – ein echter Tausendsassa. Der Multi-Instrumentalist spielt alles selbst. Sein Sound: poppig-überdreht mit Hang zum Assoziativen. Sein Text: eindeutig-mehrdeutig, anzüglich, nachdenklich-frech. Auch live konnte flrrn schon überzeugen: Mit Loops und ausdrucksstarker One-Man-Show zeigt er, dass noch einige Singles folgen werden. Wir sind gespannt.

ZWEIERPASCH

RHEINPERLEN

Rap

Flowt wie der Rhein

(pt). Was haben Heinrich Heine, Bayer Leverkusen und Zweierpasch gemeinsam? Sie haben den Rhein lyrisch verewigt. Im Falle der deutsch-französischen Hip-HopBand erst kürzlich und in Form der Single „Rheinperlen“. Und die glänzt als Liebeserklärung an die verbindende Kraft des Wassers über Grenzen hinweg.

Während der Beat mit entspannten Drums noch so vor sich hintröpfelt, hat Neumann-Zwilling Felix bereits den Wind in den Segeln und singt seiner Wahlheimat Straßburg ein Ständchen auf Französisch: „Dans mon port à l’est – havre d’espérance - Ma perle alsacienne, t’est ma petite France“. Abgelöst wird er von Pyro, der als Basler eine gewisse Autorität in Rhein-Angelegenheiten genießt, das gerappte Schweizerdeutsch mag mancher Hörer zuerst für Seemannsgarn halten. Beim zweiten Hören ist die Botschaft allerdings klar: „Zwei Wältkrieg häns nid geschafft uns usenand z bringe - Mr zeige Kannte geg dr Hass und sini Maschine“.

Als Freiburger muss sich Till Neumann ein paar Brücken zum Rhein bauen: „Sehe die Sachen klar immer wenn ich zur Mündung fließ – jede Klangwelle im Rhein wird meine Sinfonie.“ Das ist nicht Heine, aber auf jeden Fall poetischer als die Vereinshymne von Leverkusen.

... zum ZDF-Fernsehgarten

Die Freiburger Geschmackspolizei ermittelt schon seit 20 Jahren gegen Geschmacksverbrechen, vor allem in der Musik. Für die cultur.zeit verhaftet Kommissar Ralf Welteroth fragwürdige Werke von Künstlern, die das geschmackliche Sicherheitsgefühl der Bevölkerung empfindlich beeinträchtigen.

Das gebührenfinanziert-geriatrische UnterhaltungsSchlachtross ZDF-Fernsehgarten mit Frontfrau Andrea „Kiwi“ Kiewel stellt den Ballermann-Clan gehörig in den Senkel – und dieser wehrt sich. Allen voran dessen Pate Ikke Hüftgold (verantwortlich für z. B. Dicke Titten, Kartoffelsalat oder auch Bumsbar). Das birgt Sprengstoff. Soll es doch bei Auftritten von Ballermann-Größen im TV-Garten Alkoholverbot, Minigagen, Playback und zensierte Lieder gegeben haben. Wo ist das Problem? Endlich macht das ZDF wieder positiv von sich reden. Keinen Alkohol auszuschenken, ist einerseits völlig nachvollziehbar, weil die ganzen Fanhorden vor Ort gerne die Drei-Promille-Grenze durchbrechen und dann eben auch sich er-brechen.

Also Apfelschorle. Andererseits wäre Alkohol schon auch wichtig für alle, die sich das antun müssen. Bei der Gage gibt’s richtigerweise kein Entgegenkommen. Mit Fernsehgebühren sollte verantwortungsvoll umgegangen werden. Dass überhaupt Gelder fließen, ist eigentlich schon ein Skandal. Von Zensur kann keine Rede sein, das ist im Zuge der Geschmackssicherheit wie auch das Playback vom Gesetzgeber so vorgegeben.

Kiwi hält sich hier nur an Recht und Gesetz – auch wenn ihre Moderationen sich zuweilen im Grenzbereich des gesetzlich Zulässigen bewegen. Sollte Ikke also versuchen, mit seiner Gang den Lerchenberg zu stürmen, spätestens dann werden wir eingreifen und für Recht und Ordnung sorgen.

Es grüßen die Mainzelmännchen von der Geschmackspolizei

Notherbergen im Paradies

ERKUNDUNGEN IN

DER VIELFÄLTIGEN LITERARISCHEN LANDSCHAFT

RUND UM FREIBURG

Fünfzig Gemeinden gibt es im Breisgau und Hochschwarzwald, die zusammen einen Landkreis bilden, der Freiburg fast vollständig umgibt. Im Laufe der Geschichte brachten sie einige Literaten hervor und beherbergten andere, Zugewanderte – vorübergehend oder für immer. Ihren Spuren folgen Thomas Schmidt und Felix Schiller in ihrem druckfrischen Lesebuch „Herzkammern“.

Herzkammern

Eine literarische Reise durch Breisgau und Hochschwarzwald Von Thomas Schmidt & Felix Schiller (Hg.)

Heimathaus: Schloss Bollschweil ist Privatbesitz – die Dauerausstellung zu Marie-Luise Kaschnitz ist deshalb im Rathaus (o.r.).

Der Titel verweist auf Marie-Luise Kaschnitz, die den im südlichen Hexental gelegenen Ort Bollschweil in ihrer 1966 erschienenen „Beschreibung eines Dorfes“ als „Herzkammer der Heimat“ bezeichnete: Dort steht das Elternhaus der Dichterin, in dem sie einen großen Teil ihrer Kindheit verbrachte und wohin sie immer wieder zurückkehrte. Dort hat sie geheiratet – und dort ist sie begraben.

Dort hat sie auch viele Besucher empfangen, darunter ihre nicht nur literarischen und stets gesprächsbereiten Freunde Christoph Meckel und Peter Huchel. Deren Erinnerungen an die Begegnungen trägt Herausgeber Thomas Schmidt vom Deutschen Literaturarchiv Marbach zusammen, Kaschnitz Leben in Bollschweil hat die Freiburger Autorin Iris Wolf einen schönen, einfühlenden Text gewidmet.

Mit dem Lyriker Peter Huchel, der nach einigen Odysseen in Staufen bis zu seinem Tod seine „Notherberge“ fand, beschäftigt sich Lutz Seiler. Und Yannic Han Biao Federer geht der Frage nach, ob der hartnäckig in Staufen verortete Goethe-Protagonist und Alchimist Johannes Faust womöglich hinter den Geothermie-Rissen steckt, die die Stadt vor ein paar Jahren heimsuchten.

Die Freiburger Autorin Manuela Fuelle erkundet hingegen „die revolutionäre Welt der A.“: In Amalie Struves 1850 verfassten „Erinnerungen aus den badischen Freiheitskämpfen“ spielt die Fauststadt eine wichtige Rolle. Von dort ist es nicht weit nach Sulzburg. Auch in dieser Stadt

finden die sich Spuren einiger Literaten. Etwa die von Gustav Weil, der weniger mit seinem Namen als mit seinem Werk Berühmtheit erlangte: Der Sohn des damaligen Ortsrabbiners hat 1841 die Geschichten aus 1001 Nacht aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt. Als Erster. Die Freiburger Autorin Fatma Sagir wandert mit ihm durch die Gassen Sulzburgs. Die nächste Station ist Badenweiler, wo außer Anton Tschechow einst auch Scholem Alejchem vergeblich Heilung von der Tuberkulose suchte. Angesichts des lieblichen Markgräflerlands schrieb der Verfasser von „Tevje, der Milchmann“ an seine Familie, dass er sich in einem „erdischen ganeyden“ wähne – einem irdischen Garten Eden. Dieses Gefühl hatten vielleicht auch Annette Kolb, Gabriele Wohmann, René Schickele und einige andere Schriftsteller, die hier eine Zeit lang lebten und wirkten. Das Buch ist ein ausgezeichneter Reiseführer zu literarischen Orten, die es auch am Kaiserstuhl und im Schwarzwald gibt und die hier leider nicht alle erwähnt werden können. Ebenso wenig wie viele Autoren wie etwa Hartmann von Aue oder Paul Celan. Es ermöglicht per QR-Code außerdem einen virtuellen Ausflug in die Digitale Literaturlandkarte Breisgau-Hochschwarzwald –mit vielen Text-, Bild- und Tondokumenten. Zudem lädt Herausgeber Thomas Schmidt am 9. September, 18 Uhr, zu Vortrag und Gespräch ins Stubenhaus in Staufen.

von Erika Weisser
Herzkammer: In Marie-Luise Kaschnitz‘ Trauzimmer im Rathaus werden bis heute Ehen geschlossen.
Fotos: © Gemeinde Bollschweil

SEHR GEEHRTE FRAU MINISTERIN

von Ursula Krechel

Verlag:

Klett-Cotta, 2025

368 Seiten, gebunden

Preis: 26 Euro

Vamp oder Lady?

(ewei). Alles beginnt mit einem Muttermord: Der römische Kaiser Nero lässt seine Mutter Agrippina töten, als sie ihm zu mächtig wird. Dabei hatte sie selbst durch allerhand Intrigen und arrangierte Ehen einst dafür gesorgt, dass er überhaupt an die Macht gelangen konnte.

Die beiden Machtmenschen dienen Ursula Krechel, die nicht nur für diesen Roman am 1. November mit dem Georg-Büchner-Preis die bedeutendste literarische Auszeichnung im deutschsprachigen Raum erhält, als Gleichnis. Als Metapher für einen geplanten Femizid, für ein Attentat auf eine heutige Frau. Dabei webt sie mehrere – belegte sowie der Fantasie entsprungene – Geschichten ineinander. Dadurch und durch einige gedankliche Abschweifungen und Sprünge wird die eigentliche Handlung nur langsam sichtbar. Zumal auch der mögliche Täter am Rand, im Schatten bleibt. Es braucht also erst einmal Geduld und Lust am Fabulieren in einer unglaublich assoziativen, kreativen und dennoch sicheren und konkreten Sprache, um dabei zu bleiben. Dann aber offenbart sich eine packende, um drei weibliche Hauptfiguren entwickelte Erzählung, die den langen und widerständigen Leidens- und Befreiungsweg der in vieler Hinsicht und weltweit diskriminierten Frauen respektvoll aufscheinen lässt.

DIE

von Karl-Heinz Ott

Verlag:

Hanser, 2025

336 Seiten, Hardcover

Preis: 26 Euro

Dubiose Operationen im Zoo

(ewei). Als Karl-Heinz Ott an seinem neuen Roman zu schreiben begann, wusste er nicht, dass die Philippinen 2025 Gastland der Frankfurter Buchmesse sein würden. Nun freut er sich, dass das Buch, dessen Handlung auf einer der 7000 Inseln des Staates angesiedelt ist, noch vor diesem Auftritt erschienen ist. Es geht um zwei Paare aus Deutschland, die sich in einem Resort in einem kleinen Ort auf Luzon eingemietet haben. Doch sie sind nicht gekommen, um einen Strandurlaub mit spektakulären Sonnenuntergängen zu verbringen. Vielmehr hat sie die schiere Verzweiflung getrieben: Bei Rikka, die mit Ehemann Tom unterwegs ist, und Bock, den seine langjährige Gefährtin Gela begleitet, wurden unheilbare Krebserkrankungen diagnostiziert. Und nun hoffen sie auf Rettung durch den Wunderheiler Bon Sato, der ohne Skalpell Operationen vornimmt.

Dass sich der Wunderort in einem verwahrlosten früheren Zoo befindet, hätten sie nicht erwartet. Ebenso wenig, dass Bon Sato Kettenraucher ist. Und schon gar nicht, dass im Lauf der sündhaft teuren zehn Behandlungstage lange schwelende Beziehungskrisen aufbrechen, deren Abgründe der Freiburger Schriftsteller schonungslos ans Licht holt.

Lesung und Gespräch: Dienstag, 21. Oktober, 19.30 Uhr Literaturhaus

EINEN VULKAN BESTEIGEN

von Annette Pehnt

Verlag:

Piper, 2025

288 Seiten, Hardcover

Preis: 24 Euro

Einfach und schnörkellos

(ewei). Eine Person – ob Frau oder Mann wird nicht ersichtlich – sammelt täglich und sehr gründlich Müll in einem fest definierten Abschnitt eines Parks. Immer an der gleichen Stelle und fast immer ohne Zwischenfälle. Eine andere versteht nicht, warum die Frau vom Amt bei ihrem unangekündigten Besuch nicht wie sie selbst begeistert ist von den gut gepflegten Hunden, Katzen, Meerschweinen, Vögeln und sonstigen Tieren, die ihre Wohnung bevölkern. Eine dritte Figur bedauert, dass sie keine Schwester hat. Dass es den Eltern reichte, eine Tochter zu haben. Dass sie es dabei beließen. Also legt sie sich selbst eine Schwester zu. Dass die Auserwählte nichts von ihrem zweifelhaften Glück weiß, nimmt sie zwar als möglicherweise problematisch wahr – aber auch einfach hin.

Wie sie wirken auch die anderen Charaktere, die die Freiburgerin Annette Pehnt in ihren „minimalen Geschichten“ zeichnet, aus dem Leben gefallen. In die Einsamkeit, in den Zustand des endlosen Um-sich-Kreisens ohne ein Gegenüber, ohne Dialoge. Entsprechend reduziert ist die Sprache, die die Autorin bewusst für die inneren Monologe ihrer Protagonisten wählt: radikal einfach und schnörkellos. Aber meisterhaft.

Lesung und Gespräch: Mittwoch, 1. Oktober, 19.30 Uhr Winterer-Foyer des Theaters FREZI

FREZI
HEILUNG VON LUZON

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