Karl Josef Kassing, 1+1 = Wir

Page 31

Flaschenpost Im Juni 2007 kam meine Frau ins Pflegeheim. Im Lauf des nächsten Jahres ging es ihr physisch wieder deutlich besser. Aber zugleich ver­schlech­ terte sich ihre Stimmung. Ab August 2008 fand ich, meist auf einem Notizblock, schriftliche Mitteilungen. Bis Mitte 2010 waren es rund 85 Belege. Dazu muss man wissen: Meine Frau hatte ihr ganzes Leben lang Tagebuch geführt, war früher auch eine eifrige Briefschreiberin gewesen: die jetzigen Zettel waren offenbar ein Mittelding zwischen Tagebuch und Brief. Die Anrede war durchweg: Lieber Karl! Die Unterschrift: Deine Renate. Die meisten Briefzettel waren klagend, nur wenige positiv. Meine Frau schrieb sie, wenn ich nicht da war: vormittags, abends, wohl auch nachts. Offenbar fühlte sie sich dann im Stich gelassen. Die Beschränkungen im Heim waren ihr schmerzlich bewusst, ihre eigenen Defizite dagegen kaum. So schob sie die Schuld daran, dass sie jetzt im Heim war, auf ihren Mann. Ihre frühere Wohnung wurde zum verlorenen Para­ dies; dass sie in der letzten Zeit dort auch nicht zufrieden gewesen war, vergaß sie gleichfalls. Allerdings war ihr Klagen wohl auch ein Rollen­ spiel. Mit der Zeit wurden die Mitteilungen seltener und freundlicher. Als sie ihre Defizite nicht mehr ignorieren konnte, schrieb sie gar keine Briefzettel mehr. Ich war fast jeden Nachmittag fünf Stunden 53


Issuu converts static files into: digital portfolios, online yearbooks, online catalogs, digital photo albums and more. Sign up and create your flipbook.