Kassing – Der Ackermann und der Tod

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Johannes von Tepl DER ACKERMANN UND DER TOD

Ein Streitgespräch

Übertragen in heutiges Deutsch und ausführlich erläutert von Karl Josef Kassing

KARL JOSEF KASSING

Impressum

1. Auflage, 2022

Copyright Fohrmann Verlag, Köln Inhaberin Dr. Petra Fohrmann www.fohrmann-verlag.de Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Artwork: Karen Kühne, www.kuehne-grafik.de

Printed in Germany ISBN 978-3-949215-02-5

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Der Kläger, der Tod und die Frau Vorlage: Karl Josef Kassing Digitale Bearbeitung: Karen Kühne

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Inhalt: Seite Einleitung

Zu diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Johannes von Tepl und sein Werk 12 Zur Übertragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

Der Ackermann und der Tod . . . . . . . . . . . . . . . 17

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

Eine Konjektur zum „Ackermann aus Böhmen“ 81

Gehalt und Gestalt im ‚Ackermann‘ . . . . . . . . . 95

Der Verlauf des Streitgesprächs . . . . . . . . . . . . . . . 97 Das Urteil Gottes 107 Das Schlussgebet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Die Dialogform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Sprache und Stil 129 Zahlenkomposition und Zahlensymbolik . . . . . . 141

Die Religiosität des Dichters . . . . . . . . . . . . . . . 148 Die Fiktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 ‚Ackermann‘ und Tkadleček 163

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168

Zum Autor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

Zur Gesamtausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170

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Einleitung

Zu diesem Buch

„Habent sua fata libelli!“ Bücher haben ihre schicksalhafte Geschichte (Terentianus Maurus). Das gilt auch für dieses Buch. Ich studierte in Köln Germanistik, bat gegen Ende des Studiums Professor Fritz Tschirch um ein Thema für eine Dissertation. Er gab mir das Thema „Der künstlerische Aufbau des Ackermann aus Böh men“. Ich blieb nach dem Staatsexamen noch ein Semester an der Universität, um die Dissertation fertig zu stellen. Ich ließ meinem Doktorvater in spe auch probeweise das Kapitel über die Dialogform zukommen. Hierzu hatte er auch selbst gearbeitet und glaubte ich Neues gefunden zu haben. Ich zitiere aus seinem Antwortbrief vom 24. 8. 1963: „Sie haben mich völlig überzeugt, und ich bewundere Ihren Spürsinn, Ihr Finderglück wie Ihren Fleiß, mit dem Sie auf die sen Weg gekommen und einen neuen Bezug entdeckt haben, an dem die Ackermannforschung bisher vor beigegangen ist. … Ihre Disser tation wird also zu mindest (sehr bescheiden gesagt) einiges beachtlich Neue enthalten und in der Ackermannforschung Aufsehen erregen.“ Man sieht, Professor Tschirch war impulsiv und begeisterungsfähig, das machte ihn mir auch menschlich sympathisch.

Aber als die Arbeit fast fertig war, brachte ich es nicht über mich, sie abzuschließen und abzugeben. Ich meldete mich in den Schuldienst und kündigte Professor Tschirch in einem Brief an, ich wolle die Arbeit von der Schule aus fertig stellen. Dabei blieb es.

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Ich kam nach der Referendarzeit ans Abendgymnasium in Neuss. Die Arbeit in der Erwachsenenbildung sagte mir zu, beanspruchte aber auch ihre, besser gesagt: meine Zeit. So geriet die Dissertation ins Hintertreffen. Ich verwahrte sie, tat aber nichts mehr daran. Zudem fing ich ernsthaft an, selbst poe tische Texte zu verfassen. Insgesamt erschienen im Laufe meiner Zeit am Abendgymnasium fünf Bücher von mir (Lyrik, Prosa).

Nach meiner Pensionierung zog ich um nach Köln. Inzwischen hatte ich fleißig weiter geschrieben. In Köln lernte ich die Verlegerin Frau Dr. Fohrmann kennen und verwirkliche nun mit ihr zusammen den Plan, meine gesammelten Werke herauszugeben. Dazu soll nun auch die Dissertation gehören. So habe ich das gute Gefühl: die Arbeit damals war nicht um sonst. Zugleich möchte ich so das bedeutendste Werk aus der Übergangszeit vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeutschen für eine breitere Leserschaft zugänglich machen. Aber als ich mir das Manuskript wieder vornahm, merkte ich schnell: Ich musste mehr ändern, als ich gedacht hatte. Für die Dissertation war die Auseinandersetzung mit der einschlägigen Litera tur unerlässlich; die ist aber für eine breitere Leser schaft uninteressant, ohnehin nach über 50 Jahren zum großen Teil wohl auch überholt. Ich verweise deshalb nur auf die Fachliteratur, wenn ich wichtige Ergebnisse übernehme. Andererseits musste ich die Darstellung aber auch ausweiten. Ich kann für die jetzt anvisierte Leserschaft weniger Kenntnisse vor aussetzen als damals für die Dissertation, angefangen bei der Kenntnis des Textes. Ich übertrug ihn in

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heutiges Deutsch und fügte Erläuterungen hinzu, die dem inhaltlichen Verständnis dienen.

Die in den letzten 60 Jahren erschienene Fachliteratur aufzuarbeiten und meine eigene Arbeit entsprechend zu ergänzen, mute ich weder meiner Leser schaft noch mir selbst mit meinen inzwischen 86 Jahren zu. Gut möglich, dass einiges, was seinerzeit in meiner Arbeit als Vermutung oder Entdeckung neu war, inzwischen bestätigt oder widerlegt worden ist. Aber vielleicht ist manches, was meine Arbeit damals an Neuem enthielt, auch heute noch neu. Das betrifft etwa die Hinweise auf die Zahlensymbolik. Es betrifft den Nachweis, dass das Urteil Gottes (33. Kapitel) in der Tradition bukolischer Wettstreite steht. Und es betrifft die Gründe für die Annahme, dass Johannes von Tepl auch der Verfasser des Tkatleček ist.

Als ich damals an der Dissertation arbeitete, sah ich im ‚Ackermann‘, der gestellten Aufgabe entsprechend, ein Stück bemerkenswert kunstvoller Literatur. Das ist er mir auch heute noch. Aber heute kommt mir der Ackermann auch nah als leidender, aufbegehren der, um seine Selbstbehauptung kämpfender Mensch. Einiges sehe ich jetzt, nach der langen Zeit, auch distanzierter und damit zugleich klarer. So sind die drei letzten Kapitel im Anhang neu hinzugefügt. Sie weiten die Darstellung aus, allerdings auf Grund von Überlegungen, die ich damals schon angedacht hatte.

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Johannes von Tepl und sein Werk

Der ‚Ackermann‘ wurde 1401 oder etwas später verfasst. Er ist das bedeutendste dichterische Prosawerk in deutscher Sprache aus der Übergangszeit zwischen Mittelalter und Neuzeit. Inhalt ist ein Streit gespräch zwischen dem Ackermann, dessen Frau ge storben ist, und dem Tod. Im 33. Kapitel spricht Gott das Urteil über ihren Streit. Im 34. Kapitel folgt ein Gebet des Ackermanns für das Seelenheil seiner Frau. Über den Autor, Johannes von Tepl, wissen wir recht gut Bescheid. Er lebte und wirkte in Saaz (Böh men) als Stadtschreiber, Notar und Leiter der Latein schule. Es gibt weitere Schriften von ihm, alle auf Latein; keine reicht in der Bedeutung auch nur annähernd an den ‚Ackermann‘ heran.

Die ältere Literatur zum ‚Ackermann‘ wurde stark bestimmt von dem Aspekt ‚Der ‚Ackermann und sei ne Zeit‘. Darauf einzugehen würde den Rahmen die ser Arbeit sprengen. Sie konzentriert sich darauf, was den ‚Ackermann‘, bei aller Verwurzelung in seiner Zeit, doch zu einem einzigartigen Kunstwerk macht. Umstritten war damals, ob ein persönliches Erleb nis des Autors den Anstoss zu diesem Werk gab: der Tod seiner Frau im Kindbett. Oder handelt sich beim Tod der Frau nur um den fiktiven Anlass für das Streitgespräch? Die Analyse des Werkes wird zeigen, dass in der Frage ‚Erlebnis oder Fiktion?‘ ein behutsamer Kompromiss eher angebracht ist als ein klares Ja oder Nein. Unabhängig hiervon gilt: Mit seiner Spannung zwi schen Selbstbehauptung des Menschen und gläubiger

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Ergebung in ein Schicksal ist dieses Werk von zeitloser Aktualität. Sie wird auch nicht dadurch gemin dert, dass das zeitlose Problem in zeitlich bedingter Einkleidung erscheint.

Zur Übertragung

Der ‚Ackermann‘ ist überliefert in 15 Handschriften und 17 Drucken, die aber beträchtlich voneinander abweichen. Der Originaltext lässt sich daher nur an nähernd herstellen. Ich folge durchweg der Ausgabe von Arthur Hübner (2. Auflage 1954), die damals für meine Arbeit maßgebend war. Ich habe aber auch die Ausgaben von Willy Krogmann und Christian Kie ning sowie die Übertragungen von Felix Genzmer und Christian Kiening zu Rate gezogen. Zudem habe ich einige eigene Konjekturen vorgenommen (16,25; 17,14; 18,13; 25,34; 29,37; 32,33; 33,8f.14). Sie werden jeweils in einer Anmerkung begründet.

Bei der Übertragung in heutiges Deutsch war es nicht mein Ziel, möglichst eng am vermuteten origi nalen Wortlaut zu bleiben. Vielmehr wollte ich einen Text erstellen, der für heutige Leser verständlich und zugleich stilistisch anspruchsvoll ist. Der Dichter be nutzte eine gehobene, stilisierte Sprache, die vom da maligen Alltagsdeutsch weit entfernt war. Diese Ei genart muss bei der Übertragung erhalten bleiben. Zu berücksichtigen ist auch, dass zwar viele Wörter, die sich im ‚Ackermann‘ finden, auch heute noch be nutzt werden, aber manche in geänderter Bedeutung. Eine Übertragung ist also nicht um so genauer,

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je mehr Wörter sie übernimmt. Zudem weist die Sprache des ‚Ackermann‘ auch in der Grammatik einige Besonderheiten auf, die nicht mehr heutigem Sprachgebrauch entsprechen (häufiger Genitiv, als Attribut fast immer vorgestellt, aber auch als Objekt; häufiger Konjunktiv, besonders in Wunschsätzen).

Auch die Wortstellung ist freier als im heutigen Deutsch.

Als ich in jungen Jahren an der Dissertation arbeitete, kannte ich den ‚Ackermann‘ fast auswendig. Als ich ihn jetzt, nach mehr als einem halben Jahrhundert, wieder vornahm, las ich ihn weitgehend wie etwas Neues und war aufs neue fasziniert von der Eindring lichkeit und sprachlichen Virtuosität, mit der die gegensätzlichen Emotionen und Positionen der bei den Kontrahenten zum Ausdruck kommen. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, davon auch etwas weiterzugeben.

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Johannes von Tepl

Der Ackermann und der Tod

(ein Streitgespräch, in heutiges Deutsch übertragen von Karl Josef Kassing)

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Der Ackermann. Das I. Kapitel

Herzloser Henker aller Leute, grausamer Vernichter allen Lebens, furchtbarer Mörder aller Menschen, Ihr Tod, Euch sei geflucht!1 Gott, Euer Schöpfer, hasse Euch, wachsendes Unheil hause bei Euch, Unglück suche gewaltsam Euch heim, völlig entehrt seid für immer! Angst, Not und Jammer sollen Euch nicht verlassen, wo Ihr auch wandert; Leid, Betrübnis und Kummer sollen Euch überall begleiten; quälende An feindung, schändliche Zukunft und beschämende Kränkung, die sollen Euch überall bedrängen. Him mel, Erde, Sonne, Mond, Sterne, Meer, Gewoge, Berg, Gefilde, Tal, Aue, der Abgrund der Hölle, auch alles, was leibt und lebt, sei Euch feindlich, missgünstig und fluche Euch ewig! In Bosheit versinkt, in jäm merlichem Elend vergeht und in der unaufhebbaren schwersten Acht Gottes, aller Menschen und jeglicher Geschöpfe bleibt für alle Zeit! Schamloser Bösewicht, die böse Erinnerung an Euch lebe und daure ohne Ende; Grauen und Furcht sollen nicht von Euch wei chen, wo immer Ihr wohnt: Von mir und jedermann sei nachdrücklich über Euch Zeter2 geschrien mit ge rungenen Händen!

Der Tod. Das II. Kapitel

Hört, hört, hört neue Wunder! Grausame und unerhörte Klagen werden gegen Uns erhoben1. Von wem die kommen, das wissen Wir nicht im geringsten. Doch Drohen, Fluchen, Zeterschreien, Händeringen

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und jeglichen Angriff haben Wir bisher gut überstan den. Dennoch, Sohn2, sag, wer du bist, und erkläre, was für Leid Wir dir zugefügt haben, weshalb du Uns so ungehörig behandelst, wie Wir es bisher nicht gewohnt sind, obwohl Wir doch sehr viele kenntnisreiche, edle, schöne, mächtige und starke Leute nicht verschont haben; dadurch ist Witwen und Waisen, Landen und Leuten genug Leid3 geschehen.

Du tust so, als ob es dir Ernst ist und dich Not schwer bedrängt. Deine Klage ist in Prosa abgefasst; daraus entnehmen Wir, dass du durch klangvolle Reime ihren Sinn nicht beeinträchtigen willst.4

Bist du aber tobsüchtig, wütend, umnebelt oder sonst von Sinnen, so halt dich zurück, beherrsche dich und sei nicht zu schnell dabei, so schwer zu flu chen, damit dich nicht spätere Reue bedrückt. Bilde dir nicht ein, dass du Unsere herrliche und gewaltige Macht jemals schwächen könntest. Dennoch nenne dich und verschweig nicht, in welcher Sache dir von Uns so bedrückende Gewalt angetan worden sein soll. Gerechtfertigt wollen Wir werden, gerechtfertigt ist Unser Handeln. Wir wissen nicht, was du Uns so frevelhaft vorwirfst.

Der Ackermann. Das III. Kapitel

Ich bin genannt ein ‚Ackermann‘, eine Vogelfeder ist mein Pflug1, und ich wohne im Böhmer Land. Voll Hass, voll Feindschaft und voll Ablehnung will ich immer gegen Euch sein: denn Ihr habt mir den zwölf ten Buchstaben2, meine ganze Freude, verbrecherisch

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aus dem Alphabet geraubt; Ihr habt die helle Sommerblume, die mich entzückte, aus dem Anger meines Herzens jammervoll ausgerissen; Ihr habt den Halt meines Glückes, meine auserlesene Turteltaube, arglistig weggerafft: Ihr habt unwiederbringlichen Raub an mir verübt.

Überlegt selbst, ob ich nicht mit Recht zürne, wüte und klage. Von Euch bin ich eines freudenreichen Da seins beraubt, um ein tägliches frohes Leben betrogen und um alle Freude am Broterwerb3 gebracht. Frisch und froh war ich früher zu jeder Stunde; kurz und beglückend waren mir immer Tag und Nacht, gleich freudenvoll und genussvoll sie beide; ein jedes Jahr war mir ein gnadenreiches Jahr. Nun wird mir gesagt: Kratz ab! Bei trübem Trank, auf dürrem Ast, betrübt, schwarz und verdorrend bleib und heul ohne Ende! So treibt mich der Wind, ich schwimme dahin durch die Flut des wilden Mee res, die Wogen haben Oberhand gewonnen, mein Anker haftet nirgends. Deshalb will ich ohne Ende schreien: Ihr Tod, Euch sei geflucht!

Der Tod. Das IV. Kapitel

Wir müssen Uns wundern über einen so unerhör ten Angriff, wie er Uns noch nie begegnet ist. Bist du ein Ackermann, der im Böhmer Land wohnt, so glau ben Wir, du tust Uns schweres Unrecht. Denn Wir haben seit langer Zeit in Böhmen nichts Endgültiges bewirkt, außer jetzt neulich in einer festen, schmucken Stadt, wehrhaft auf einem Berg gelegen; der haben

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vier Buchstaben, der achtzehnte, der erste, der dritte und der dreiundzwanzigste des Alphabets, ihren Namen geflochten.1

Da haben Wir an einer ehrbaren, seligen Tochter 2 Unser Gnadenwerk vollbracht; ihr Buchstabe war der zwölfte. Sie war ganz ehrenhaft und tadellos, denn Wir waren anwesend, als sie geboren wurde3. Da schickte ihr Frau Ehre einen Ehrenmantel und einen Ehrenkranz: die brachte ihr Frau Sälde4. Den Mantel und den Kranz brachte sie heil, unzerrissen und un befleckt mit sich in das Grab. Unser und ihr Zeuge ist der Erkenner aller Herzen. Gewissenhaft, hilfsbereit, treu, ehrlich und besonders gütig war sie gegen alle Leute. Wahrlich, mit einer so zuverlässigen und trefflichen Frau hatten Wir selten zu tun. Es sei denn eben diese, die du meinst; anders wissen Wir keine.

Der Ackermann. Das V. Kapitel

Ja, Herr, ich war ihr Liebster, sie war meine Liebste. Ihr habt sie genommen, die reiche Freude meiner Au gen. Sie ist dahin, mein schützender Schild vor Unge mach; fort ist meine zuverlässige Wünschelrute. Hin ist hin!

Da stehe ich armer Ackermann allein; verschwun den ist mein heller Stern am Himmel; untergegangen ist die Sonne meines Heils, auf geht sie nimmermehr. Nicht mehr geht auf mein strahlender Morgenstern1, vergangen ist sein Schein, nichts vertreibt mir mehr den Kummer: die finstere Nacht ist allenthalben vor meinen Augen. Ich glaube nicht, dass es noch etwas

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gibt, das mir jemals rechte Freude wiederbringen kann; denn das stolze Banner meiner Freuden ist mir schmerzlich gesunken.

Zeter! Waffen! sei aus Herzensgrund geschrien über den unheilvollen Tag und über die leidige Stunde, darin mein beständiger, harter Diamant zerbrochen ist, darin mein recht führender Wanderstab unbarm herzig mir aus den Händen gerissen wurde, darin mir der Weg zum erneuernden Jungbrunnen meines Heils versperrt worden ist.

Ach ohne Ende, Weh ohne Unterlass, jämmerliches Versinken, Sturz und ewiger Fall sei Euch, Tod, als Erbteil gegeben. Schmachvoll, in Schande, würdelos und zähneknirschend sollt Ihr sterben und in der Hölle erstinken! Gott beraube Euch Eurer Macht und lasse Euch zu Staub zerstieben. Führt ohne Ende ein teuflisches Dasein! Der Tod. Das VI. Kapitel

Ein Fuchs schlug einen schlafenden Löwen an die Backe; deshalb wurde ihm sein Balg zerrissen. Ein Hase zwackte einen Wolf; noch heute ist er schwanzlos deshalb. Eine Katze krallte einen Hund, der da schlafen wollte; immer muss sie die Feindschaft des Hundes tragen. Genau so willst du dich an Uns reiben.

Doch glauben Wir, ein Knecht bleibt ein Knecht, ein Herr ein Herr. Wir wollen beweisen, dass Wir recht abwägen, recht richten und recht verfahren in der Welt: Wir schonen niemand von Adel, geben

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nichts auf großes Wissen, beachten keinerlei Schön heit, wägen nicht Begabung, Liebe, Leid, Alter, Jugend und vieles andere. Wir tun wie die Sonne, die scheint über Gut und Böse: Wir bringen Gut und Böse in Unsere Gewalt. Alle Magier, die die Geister bezwingen können, müssen Uns ihren Geist überantworten und übergeben; die Hexen und Zauberinnen können vor Uns nicht bestehen, es hilft ihnen nicht, dass sie reiten auf den Stöcken, dass sie reiten auf den Böcken; die Ärzte, die den Leuten das Leben verlängern, müssen Unsere Beute werden, Wurzeln, Kräuter, Salben und allerlei Apothekenpulver können ihnen nicht helfen.

Würden wir allein den Schmetterlingen und den Heuschrecken Rechenschaft ablegen wegen ihrer Sippe, die Rechenschaft würde sie nicht zufriedenstellen. Oder wenn Wir gegen Bestechung1, wegen Liebe oder Leid die Leute leben ließen: alles Kaisertum der Welt wäre jetzt Unser, alle Könige hätten ihre Krone auf Unser Haupt gesetzt, ihr Zepter in Unsere Hand gegeben, der Stuhl des Papstes mit seiner dreigekrönten Tiara wäre nun in Unserem Besitz.

Lass sein dein Fluchen; erzähl nicht von Schwatzen fels2 neue Geschichten, haue nicht über dich, so fallen dir die Späne nicht in die Augen!

Der Ackermann. Das VII. Kapitel

Könnte ich fluchen, könnte ich schelten, könnte ich Euch verwünschen, dass es Euch schlechter als schlecht ergeht, das hättet Ihr mit Eurer Erbärmlich keit völlig zu Recht an mir verdient.

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Wenn auf großes Leid große Klage folgen soll: un menschlich täte ich, wenn ich eine solche lobenswerte Gottesgabe, die niemand als Gott allein geben kann, nicht beweinte. Fürwahr, trauern muss ich immer: entflogen ist mir mein ehrenreicher Falke1, meine tugendhafte Frau. Mit Recht klage ich, denn sie war von edler Geburt, reich an Ehre, schön, tüchtig und über traf in ihrem Auftreten alle ihre Freundinnen; sie war wahrhaftig und züchtig in ihrer Rede, sittsam in ihrem Leben, es ließ sich gut und freudenvoll mit ihr woh nen. Ich schweige, zumal ich zu schwach bin, alle ihre Ehre und Tugend, die Gott selbst ihr geschenkt hat, vollständig zu benennen; Herr Tod, Ihr wisst es selbst! Wegen so großen Herzeleids muss ich Euch zu Recht anklagen. Fürwahr, wäre etwas Gutes an Euch, es müsste Euch selber erbarmen.

Ich will mich abwenden von Euch, von Euch nichts Gutes sagen, mit meiner ganzen Kraft will ich ewig gegen Euch kämpfen: die ganze Schöpfung Gottes soll mir beistehen, gegen Euch zu wirken. Euch soll alles befehden und hassen, was da ist im Himmel, auf der Erde und in der Hölle.

Der Tod. Das VIII. Kapitel

Des Himmels Thron den guten Geistern, der Hölle Abgrund den bösen, die irdischen Lande hat Gott Uns zum Erbteil gegeben. Dem Himmel Frieden und Lohn für Tugenden, der Hölle Pein und Strafen für Sünden, die Kugel der Erde und die Strömung des Meeres mit allem, was in ihnen lebt, hat Uns der

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mächtige Herzog aller Welten anvertraut mit dem Auftrag, dass Wir alles Überflüssige ausmerzen und ausjäten sollen.

Stell dir vor, du Dummkopf, prüfe und graviere mit dem Stichel des Sinns in die Vernunft, so findest du: hätten Wir seit dem ersten aus Lehm gekneteten Mann die Menschen auf der Erde, die Tiere und das Gewürm in der Ödnis und in den wilden Wäldern, den Zuwachs und die Mehrung der schuppentragenden und schlüpfrigen Fische in den Wogen nicht aus gerottet – vor kleinen Mücken könnte es nun nie mand aushalten, vor Wölfen traute sich niemand hinaus; es würde fressen ein Menschenkind1 das an dere, ein Tier das andere, ein jedes lebende Geschöpf die anderen, denn Nahrung würde ihnen fehlen, die Erde würde ihnen zu eng.

Der ist dumm, der die Sterblichen beweint. Hör auf! Die Lebenden zu den Lebenden, die Toten zu den Toten, wie es seit jeher gewesen ist. Überlege besser, du Dummkopf, worüber du klagst und worüber du klagen solltest! Der Ackermann. Das IX. Kapitel

Unwiederbringlich habe ich meinen größten Schatz verloren: Soll ich da nicht traurig sein? Jammervoll muss ich bis an mein Ende ausharren, beraubt aller Freuden. Der milde Gott, der mächtige Herr räche mich an Euch, böser Traurigmacher. Genommen habt Ihr mir alle Freuden, geraubt liebe Lebenstage, entzogen große Ehren.

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Große Ehren hatte ich, als die gute, die reine Tochter wie ein Engel für ihre Kinder sorgte, in reinem Nest geboren. Tot ist die Henne, die da aufzog solche Küken. O Gott, Du gewaltiger Herr, wie beglückte es mich zu sehen, wenn sie so züchtig ihren Weg ging und stets auf ihre Ehre achtete und alle Menschen sie liebevoll ansahen und sagten: „Dank, Lob und Ehre habe die zarte Tochter, ihr und ihren Nestlingen gönne Gott alles Gute!“ Wüsste ich deshalb Gott recht zu danken, fürwahr, ich täte es nach Gebühr. Welchen armen Mann hatte er so bald so reich beschenkt? Man sage, was man wolle: Wem Gott eine reine, schöne und züchtige Frau geschenkt hat, das Geschenk über trifft jedes äußerlich-irdische Geschenk.

O allgewaltigster Himmelsgraf, wie wohl ist dem geschehen, den Du mit einer reinen, unbefleckten Gattin vermählt hast. Freue dich, ehrbarer Mann, einer reinen Frau; freue dich, reine Frau, eines ehrbaren Mannes: Gott gebe Freuden euch beiden! Was weiß davon ein Tor, der aus diesem Jungbrunnen nie ge trunken hat? Obwohl mir bedrängendes Herzeleid zugefügt ist, danke ich Gott dennoch von Herzen da für, dass ich die makellose Tochter zu eigen gehabt habe2. Euch, böser Tod, aller Leute Feind, verfolge Gott mit ewigem Hass! Der Tod. Das X. Kapitel

Du hast nicht aus dem Brunnen der Weisheit ge trunken: das merke ich an deinen Worten. In das Wirken der Natur hast du keinen Einblick, in die

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Ordnung weltlicher Dinge hast du nicht geschaut, in irdische Veränderung hast du nicht geblickt, ver ständnislos wie ein junger Hund bist du.

Beachte: Die anmutigen Rosen und die duftenden Lilien in den Gärten, die kräftigen Kräuter und die erfreulichen Blumen in den Auen, die feststehenden Steine und die aufragenden Bäume im wilden Gefil de, die kräftigen Bären und die gewaltigen Löwen in unheimlicher Wildnis, die hochgewachsenen starken Recken, die geschickten, außergewöhnlichen, hoch gelehrten und in allerlei Meisterschaft bewanderten Leute und alle irdischen Kreaturen, wie klug, wie an mutig, wie stark sie sind, wie lange sie sich erhalten, wie lange sie es treiben, sie alle müssen zunichte wer den und zu Grunde gehen allenthalben.

Und wenn nun alle Generationen von Menschen, die gewesen sind oder noch werden, vom Sein zum Nichtsein kommen müssen, weshalb sollte die Gelob te, die du beweinst, bevorzugt werden, so dass ihr nicht dasselbe geschieht wie allen andern und allen andern wie ihr? Du selbst wirst Uns nicht entrinnen, so wenig du es jetzt erwartest. „Alle nacheinander!“, muss jeder von euch sagen. Deine Klage ist nichtig; sie hilft dir nicht; sie kommt aus törichtem Sinn.

Der Ackermann. Das XI. Kapitel

Gott, der Macht hat über mich und Euch, traue ich wohl zu, dass er mich vor Euch behütet und wegen der verbrecherischen Übeltat, die Ihr an mir began gen habt, mit aller Strenge rächt. Ihr gaukelt mir etwas

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vor, unter Wahrheit mischt Ihr mir Falsches und wollt mir mein ungeheures Seelenleid, Vernunftleid und Herzeleid aus den Augen, aus den Sinnen und aus dem Gemüt verdrängen. Ihr schaffte es nicht, denn mich quält mein schwerer, schmerzlicher Ver lust, den ich niemals ersetzen kann.

Für alles Weh und Ungemach meine heilsame Arznei, Gottes Dienerin, meines Willens Pflegerin, meines Leibes Wärterin, meiner und ihrer Ehren tägliche und nächtliche Wächterin war sie unverdrossen. Was man ihr anvertraute, das wurde von ihr ganz, rein, unversehrt und oft vermehrt zurückgegeben. Ehre, Zucht, Keuschheit, Freigebigkeit, Treue, Maß, Fürsor ge und Bescheidenheit wohnten stets in ihrem Haus. Ihr Anstand hielt ihr stets den Spiegel der Ehre vor Augen.

Gott war ihr gütiger Beschützer. Er war auch mir gütig und gnädig um ihretwillen. Das hatte sie bei Gott erworben und verdient, die reine Hausehre. Lohn und gnädigen Entgelt gib ihr, freigebiger Belohner aller treuen Diener, allerreichster Herr. Handle an ihr gnädiger, als ich es ihr wünschen kann. Ach, ach, ach! Schamloser Mörder, Herr Tod, böser Lasterbalg! Der Henker sei Euer Richter und binde Euch mit den Worten „Vergib mir!“ in seine Folter wiege.1

Der Tod. Das XII.

Kapitel

Könntest du richtig messen, abwägen, zählen oder bedenken, aus leerem Kopf entließest du nicht solche

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Rede. Du fluchst und forderst Rache gedankenlos und ohne Not. Was taugt solche Eselei?

Wir haben vorhin gesagt: Alles Kenntnisreiche, Edle, Ehrenhafte, Rüstige, Wackere, kurz alles, was lebt, muss durch Unsere Hände abhanden kommen. Dennoch kläffst du und behauptest, dein ganzes Glück sei in deiner reinen, tüchtigen Frau begründet. Soll nach deiner Meinung Glück auf Frauen gründen, so wollen Wir dir wohl raten, dass du im Glück bleibst. Gib nur Acht, dass es nicht zum Unglück ge rate!

Sage Uns, als du zuerst deine löbliche Frau nahmst, fandest du sie tüchtig oder hast du sie tüchtig ge macht? Hast du sie tüchtig gefunden, so suche mit Vernunft: du findest noch viele tüchtige, reine Frauen auf der Erde, von denen du eine heiraten kannst. Hast du sie aber tüchtig gemacht, so freue dich: du bist der lebende Meister, der noch eine tüchtige Frau erziehen und schaffen kann.

Ich sage dir aber noch etwas anderes: Je mehr Liebe du erfährst, um so mehr Leid widerfährt dir. Hättest du dich der Liebe enthalten, so wärest du nun vom Leid verschont. Je größer die Liebe, die man erfährt, um so größer das Leid, wenn man die Liebe entbehrt. Gattin, Kinder, Reichtum und alles irdische Gut müs sen etwas Freude am Anfang und mehr Leid am Ende bringen. Alle irdische Liebe muss zu Leid werden1: Leid ist das Ende der Liebe, das Ende der Freude ist Trauern, nach Lust muss Unlust kommen, des Willens Ende ist Unwillen – auf ein solches Ende laufen alle Dinge im Leben hinaus. Lerne es besser, willst du vor Klugheit gackern!

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Der Ackermann. Das XIII. Kapitel

Auf Schaden folgt Spott, das erfahren nur zu gut die Betrübten. So geschieht mir geschädigtem Mann von Euch. Der Liebe entwöhnt, an Leid gewöhnt habt Ihr mich; so lange Gott will, muss ich es von Euch leiden. Wie stumpf ich auch bin, wie wenig ich weiß und wie wenig Weisheit ich bei sinnreichen Meistern erworben habe, dennoch weiß ich wohl, dass Ihr der Räuber meiner Ehre, der Dieb meiner Freuden, der Stehler meines guten Lebens, der Vernichter meines Glückes und der Zerstörer all dessen seid, was mir ein beglückendes Leben verschafft und verbürgt hat. Worüber soll ich mich nun freuen? Wo soll ich Trost suchen? Hin ist hin! Wohin soll ich Zuflucht nehmen? Wo soll ich Heilung finden? Wo soll ich treuen Rat holen? Vor der Zeit ist sie uns verschwunden, zu früh ist sie uns entflohen, allzu schnell habt Ihr sie uns entrissen, die Teure, die Treffliche, da Ihr mich zum Witwer und meine Kinder zu Waisen so hartherzig gemacht habt. Unglücklich, einsam und leidvoll bleibe ich von Euch unentschädigt. Vergütung konnte von Euch nach gro ßer Missetat noch nie erlangt werden. Wie ist dem, Herr Tod, Ehebrecher aller Leute? Von Euch kann niemand etwas Gutes erlangen, nach einer Untat wollt Ihr niemand Genugtuung leisten, niemand wollt Ihr entschädigen. Ich stelle fest: Barmherzigkeit wohnt nicht bei Euch, Fluchen seid Ihr gewohnt, gnadenlos seid Ihr an allen Orten. Solche Wohltat, wie Ihr den Leuten erweist, solche Gnade, wie die Leute von Euch empfangen, solchen Lohn, wie Ihr den Leuten gebt, solches Ende, wie Ihr den Leuten

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