BLANK 01 / 2010

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CAN YOU FEEL IT PÄSENTIERT EINE CROSSING PICTURES PRODUKTION HAGEN DECKER PRODUCER KIERAN JOEL KAMERA TANJA HÄRING TON THOMAS DIESEL CHEFREDAKTEUR STEFAN GUZY REDAKTION SARAH NÄHER, ANN BRUEGMANN SCHNITT BILL TRAUTWIG GRAFIKDESIGN HAGEN ZIEGER MUSIK PALE / VIRGINIA JETZT! / SPORTFREUNDE STILLER / TOCOTRONIC / BLUMFELD / FOTOS / KETTCAR / HUNDREDS / MICROSTERN / SOMETREE / DELBO / SEIDENMATT / DIE STERNE U.A. REGIE HAGEN DECKER

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WWW.IMMERGUT-DERFILM.DE INFO@IMMERGUT-DERFILM.DE


EDITORIAL

ALLES IST

GUT von Johannes Finke

Es ist Mitte Februar. Das Streusalz ist alle und die Straßen und Bürgersteige der Hauptstadt sind in einem bemitleidenswerten Zustand. Ein schwerwiegendes Problem. Alte Menschen bleiben zu Hause oder brechen sich die Hüfte. Junge Menschen prellen sich die Coolness. Junggebliebene verlieren ihren Stolz. Das kann es nicht sein. Der krisenerfahrene Theaterintendant und Querdenker Peymann forderte im Angesicht dieses Notstandes sogar die Zwangsmobilisierung von Hartz-IV-Empfängern zum Eis hacken. Oder war es die Bundeswehr? Es geht doch immerhin um einen Notstand: Das Eis will verdammt nochmal nicht schmelzen. Zumindest nicht hier. Bei uns. Hier in Berlin. Woanders sieht das natürlich anders aus. Da ringen Eisbären um jede Scholle, die da in unendlicher Meeresweite treibt. Hier in Berlin dagegen ist Eis böse. Furchtbar böse. Das findet nicht nur Peymann, der alte Styler. Das findet auch das Straßenbauamt, das mit den verheerenden Schäden in Form von Schlaglöchern zu kämpfen hat. Von den daraus entstandenen Kosten ganz zu schweigen. Ja, Winter sind teuer. Klimaschutz auch. Erst waren es die High-Heels-verhafteten Gäste und Protagonisten der Fashion-Week, die mit diesen unwürdigen Zuständen zu kämpfen hatten und sich in ihren Tweets und Rocks, ich meinte Blogs, darüber beklagten; dann waren es Filmschaffende, Filmliebhaber und Fans, denn auch die Berlinale gab sich in ihrem Jubiläumsjahr recht winterlich. Doch äußere Umstände sind ja bekanntlich außen vor, wenn es um das innere Wohlbefinden geht, um das Gleichgewicht. Wer im Partyrausch der Partyhauptstadt

und Angesichts des von der glitzernden Filmbranche demonstrierten Glamours dennoch völlig durchdrehen, sich die Klamotten vom Leib reißen oder sich in den Arsch ficken lassen wollte, konnte dies im verschneiten Berlin dieser Tage natürlich auch. Vorausgesetzt, das Berghain wird nicht doch noch spontan

geräumt und geschlossen. Oder musealisiert. Wer weiß, wie die Oberen auf die fortschreitende Verrohung unserer Jugend und die sich breit machende Hoffnungslosigkeit ihres Wesen reagieren und das intellektuelle Umgehen von Gesetzen zum Schutze der selbigen dulden. Eine Generation als Roadkill. Na Spitze! Was kommt denn bitte danach? Wellnessbereich oder geschlossene Abteilung? Jetzt kommt zumindest erstmal das alljährlich wiederkehrende Frühlingserwachen. Die Sonne findet ganz langsam ihren Weg in die Straßenschluchten. Die Gemüter tauen auf. Das Eis schmilzt. Man denkt, alles wird gut. Doch nichts ist gut.

EDITORIAL BLANK I 3


BLANK NR. 07 / FRÜHJAHR 2010 6 Berlin – Dak ar Fußballweltmeisterschaft in Südafrika. Schlingensiefs Opernhaus in Burkina Faso. Es gibt natürlich noch schwerwiegendere Themen, weswegen man sich einen Eindruck vor Ort verschaffen sollte. Let‘s go Reality-Check. Mit eingenähter Geheimtasche in der Jeans machte sich unser Reiseredakteur Boris Guschlbauer auf den Weg.

22 German Gemütlichkeit Deutsche Bahn, Raucherzonen und Schwabenhass. Unser Autor Jan Off beschäftigt sich mit den wirklich brennenden gesellschaftlichen Fragen und erlangt erstaunliche Schlußfolgerungen.

24 Erwachen und Erwachsen Wilson Gonzalez Ochsenknecht hat vielleicht eine Schauspielkarriere vor sich. Die Karriere als Tenniestar dagegen könnte sich so langsam dem Ende zuneigen.

MUSIK 32 IAMX – Auf und hinter der Bühne 38 Get Well Soon – Konstantin Gropper und der Schwermut 40 Hot Hot Heat – Kanadas Indierock-Helden bei der Rockliga 42 Siri Svegler – Stille Wasser sind tief 45 TONTRÄGER Through The Eyes Of The Dead, OK GO, The Leisure Society, Cymbals Eat Guitars, Seabear, Girls, Expatriate, Florian Horwath, Gonjasufi, Lonelady, Kasper Bjørke, Bunny Lake, Maximilian Hecker, Juta, Broadcast 2000, Silke Wilhelm 1, Vanessa Paradis, The Sounds

51 FILM Zeiten ändern Dich. Ein Diss.

54 UM NICHTS VORWEGZUNEHMEN, ABER… Die Literaturkolumne von Roman Libbertz: Dieses Mal mit Thomas Glavinic

56 Die hölle sind immer die anderen Daniel Vujanic über „Die Arena“ von Stephen King

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58 PRINT John Niven, Dave Eggers, Zadie Smith, Jack Kerouac, William S. Burroughs, Jonathan Safran Foer, Helene Hegemann, Airen

ENTERTAINMENT 61 SingStar – Made In Germany 66 Heavy Rain – Zwischen Game und Spielfilm 67 Verschlimmbessern Ein immer wiederkehrender Freund. Die Kolumne von Blogger, Vater und Ex-Viva-VJ Nilz Bokelberg über die großen und wichtigen Themen unserer kleinen Welt.

69 VORHER/NACHHER: FREEFIGHT Zwei Männer gehen in einen Käfig und prügeln auf sich ein. Helena Petersen such nach dem Kampf die Spuren, die Veränderungen, das zweite Gesicht.

74 SPORT Könige der Lüfte – Bei Olympia war Christophe Schmidt der einzige deutsche Snowboarder in der Halfpipe.

75 IMPRESSUM, Impressionen 76 Blank Fashion Fotos Pt. 3 Die Schauspielerin Jennifer Ulrich, in Szene gesetzt von Fotografin Cécile Sayuri

81 Mind- & Mood-map Afrika 82 TERMINe 84 REGISTER HEFT ZWEI Berlin – Dakar von Boris Guschlbauer Liebe ist für alle da von Teresa Bücker

HEFT DREI Vorabdruck aus GESICHERTES, dem literarischen Debüt von Hanna Lemke

INHALT BLANK I 5


BERLIN –

DAKAR Text & Fotografie Boris Guschlbauer

Mit eingenähter Geheimtasche in der Jeans machte sich unser Reiseredakteur Boris Guschlbauer auf den Weg nach Afrika. Ich fragte ihn vor der Abreise, was er sich von Afrika erwarte, nachdem er zuletzt in Indien und im Iran unterwegs war und er antwortete: „Ich glaube Afrika ist komplett anders. Vor den anderen Reisen hatte ich nicht so Schiss und ich hoffe, all meine Ängste gegenüber Afrika auf der Reise jetzt abbauen zu können. Krankheiten, Überfälle, Vodoo. Ich möchte mir das alles gar nicht vorstellen.“ Sein Reisebericht findet sich in Heft Zwei, die wichtigsten Impressionen auf den folgenden Seiten.


Götterdämmerung Götterdämmerung an der Uferstraße nach dem endlosen Regen in Rabat. Das Meer peitschte gigantische Wellen gegen die Steilküste, die Gischt schlug bis in den Himmel und kitzelte sowohl die Regenwolken wie auch die Fußsohlen der Götter. Jugendliche drängten aus ihren Häusern

auf die Straße und standen in Gruppen zusammen, um Drogen zu verchecken und die Abendstimmung zu genießen. Obwohl in absoluter Meeresnähe, war dieses Viertel eines der heruntergekommensten in der marokkanischen Hauptstadt. Rabat / Marokko


Shoppingtour Dieser Schnappschuss entstand, als ich mich angetrunken heillos in der Medina von Marrakech verirrt hatte. Ich frage mich bis heute, was dies alles für Gerätschaften sind und was dieser ältere, weißbärtige Herr wohl in diesem Laden erstanden hat. Wahrscheinlich war ein

Mischpult das Objekt seiner Begierde, damit er seinen Speedcore-Tracks mit 1500 BPM mehr Power geben konnte. Ich benötigte übrigens Tage, bis ich zurück in mein billiges Hotel fand. Marrakech / Marokko




Recycling Wenn Autos reden könnten wäre ich auf diese Geschichte des Krankentransporters der Feuerwehr Recklinghausen gespannt. In Dakhla, der letzten Stadt vor der mauretanischen Grenze, fand der Mercedes mit Fickfolie am Seitenfenster ein neues Zuhause. Die Dakhla Assistance hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, die alte

Aufschrift zu entfernen oder zu überkleben. Interessant ist, ob die Telefonnummer aktuell ist, oder ob Hilfsbedürftige in Dakhla eine Verbindung nach Recklinghausen bekommen, wenn sie dringend einen Notarzt benötigen. Dakhla / West-Sahara


Müllabfuhr Eine endlose Müllkippe versperrte mir den Weg zum Meer. Der Müll funkelte im Mittagslicht; der Müll brannte; der Müll stank erbärmlich unter der starken Sonneneinwirkung; Ziegen und Esel ernährten sich vom Müll, bevor sie geschlachtet und gegessen wurden; arme Menschen

suchten im Müll nach verwertbaren Dingen. Müll soweit das Auge reicht, Müll, Müll, Müll. Fakt war, am Strand von Dakhla sonnte sich der Müll und nicht die Menschen. Dakhla / West-Sahara




Wüstenverkehr Eine Sahara-Durchquerung mit dem Auto ist wie eine meditative Reinigung von innen. Tagelang fährt man schnurstracks geradeaus und sieht nichts anderes als Sand, Sand und nochmals Sand. Nur selten kommt einem ein Fahrzeug entgegen, was eine willkommene visuelle Abwechslung darstellt. So zieht man sich in sich selbst zurück, träumt von vergangenen und ak-

tuellen Liebschaften, schläft, schweigt, hat das Gefühl nichts zu verpassen und giert nach Wasser und der Farbe Grün. Dieses Fahrzeug hier fotografierte ich, als ich mitten im Nichts stand und ganz ungeniert urinierte. Wer hätte mich auch dabei beobachten sollen? Irgendwo in Mauretanien


Die Geschichte vom weinenden Kamel Am Straßenrand verenden unzählige Tiere, die von Autos angefahren wurden und teilweise von Geiern verspeist werden. Man entdeckt vom Vogel, über den Esel, bis hin zum Dromedar und Kamel alles was das Herz begehrt. Überlebenskünstler Rüdiger Nehberg müsste sich bei einer Wüstendurchquerung also keine Sorgen über Nahrung machen, ganz gewiss nicht.

Dieses kleine Kamel allerdings starb nicht durch den tödlichen Zusammenprall mit einem Auto, sondern weil Mario Barth Urlaub in Mauretanien machte und dem Tier seine „Witze“ erzählte und es in elendigen Qualen weinend zusammenbrach und starb. Süden von Mauretanien



Stillstand Im Senegal scheinen nicht viele offizielle Autoschrottplätze zu existieren, warum fahruntüchtige Autos einfach dort stehen gelassen werden, wo sie gerade ihren Geist aufgaben. Überall rosten deshalb Autowracks vor sich hin, die teilweise bis auf das Gerippe ausgeschlachtet wurden und an metallene Tierkadaver erinnern. Man bekommt das Gefühl, als wäre man Tina

Turner im Film „Mad Max III – Jenseits der Donnerkuppel“. Dieser Laster hier scheint schon lange nicht mehr bewegt worden zu sein, der Baum wuchs direkt durch den Motorblock. Das nenne ich Stillstand in Reinkultur. Saint-Louis / Senegal


C`est bon! Ich liebe die Farbe der Erde auf diesem Foto, das Lächeln der Kinder, das Pferdefuhrwerk im Hintergrund, die schräg stehenden Schilder, die Strommasten, die Größe des Chocolion und die Vorstellung, wieviele Brote man mit dem Inhalt beschmieren könnte, die 300 Euro in der eingenähten Geheimtasche meiner Jeans, den Senegal,

das Reisefieber, mein zerlöchertes Chicago Bulls T-Shirt, die offenen Schnürsenkel und die fast unerträgliche Hitze, während der Winter Deutschland fest im Griff hat. Eigentlich sollte ich auf dem Plakat abgebildet sein und lächeln. Zwischen Saint-Louis und Dakar / Senegal



Danger de mort Was verbirgt sich wohl hinter dieser ominösen blauen Türe? Befindet sich dort die Hölle oder doch das Törtchen mit der kaputten Sahne, die meinen Darm zerpflügt hat, oder mordende Pelikane oder ein Prediger oder das Hauptquartier des CIA oder

die Ex-Freundin oder ein Konzert von Tokio Hotel? Und hat ein Kind versucht mit dem Stein rechts unten im Bild die Mauer zum Einstürzen zu bringen und es zerstörte dabei nur den Putz? Dakar / Senegal


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German

Gemütlichkeit Text JAN OFF Fotografie LUCjA ROMANOWSKA

Deutsche Bahn, Raucherzonen und Schwabenhass. Unser Autor Jan Off beschäftigt sich mit den wirklich brennenden gesellschaftlichen Fragen und erlangt erstaunliche Schlußfolgerungen.

A

m Anbeginn eines neuen Jahrzehnts, das mir und uns und euch neben dem endgültigen Bankrott Griechenlands hoffentlich eine schöne Pandemie bescheren möge, wird es hohe Zeit, endlich der Deutschen Bahn zu danken. Und zwar für all die segensreichen Maßnahmen, die sich das Unternehmen hat einfallen lassen, um meine körperliche wie geistige Gesundheit zu stärken. Und so schreie ich es laut in die Welt hinaus: Hab Dank, du Schöne, Gute und Feine! Hab insbesondere Dank für dein Rauchverbot. Klar, ich rauche noch, wenn mich – wie es beinahe wöchentlich geschieht – Dampfrösser namens ICE „Turnvater Jahn“ oder „Professor Brinkmann“ von sagen wir Eckernförde nach Donaueschingen transportieren. Aber ich rauche doch spürbar weniger. Denn es macht natürlich einen Heidenunterschied – gerade auch in der Selbstwahrnehmung –, ob du Maharadscha-gleich in den Polstern deines angemieteten Fauteuils herumlümmelst, oder wie ein Junkie vorm Lüftungsschlitz der Toilette klebst. Letzteres schärft immerhin die Instinkte, in erster Linie das Gehör. Schließlich willst du, während du das selig machende Gift konsumierst, nicht entdeckt und in den Gang hinaus gezerrt werden, wo ein Mob aus dienstbeflissenen Zugbegleitern und aufgebrachten Gesundbetern nur darauf wartet, Parasiten wie dir ein Schild um den Hals zu hängen, auf dem zu lesen sein würde: „Ich charakterschwache Sau habe vorsätzlich die Gesundheit des Deutschen Volkskörpers geschädigt!“ Nein, das willst du nicht, genauso wenig wie du deiner Kleidung beraubt und unter Schlägen und Tritten an den restlichen Reisenden vorbei-

geprügelt werden möchtest. Und so probst du da in der Toilette den gewitzten Agenten, schulst dich zu deinem eigenen Besten in konspirativem Verhalten, als ob dich das MfS in Kürze zur Abschlussprüfung laden würde. Damit nicht genug, stärkt die Bahn durch das Selektieren von Suchtbolzen auch noch unser aller historisches Bewusstsein. Denn woran sonst soll uns das für die Bodenmarkierung der so genannten „Raucherbreiche“ ausgewählte Gelb erinnern, wenn nicht daran, dass es hierzulande schon immer gute, alte Sitte gewesen ist, die Ächtung von Minderheiten durch die Zuordnung bestimmter Farbtöne zu manifestieren?!

Kinde zum Jungspund werden lassen, sei dahingestellt. In der Hochburg des Kehrwochenwesens gilt nämlich seit neuestem eine Verordnung, die es Tankstellen und Kiosken verbietet, zwischen 22 und 5 Uhr Alkohol zu verkaufen. Und Alkohol, das ist ja mal klar, brauchen derart kleingeistige Maulhelden rund um die Uhr. Wie sonst sollte es ihnen möglich sein, ihr krudes Weltbild dauerhaft aufrecht zu erhalten?! Stellt sich die Frage, wie der Schwabenhasser, so er sich denn genötigt sieht, sein geliebtes Berlin einmal zu verlassen, beispielsweise um der Beerdigung seiner Eltern im heimischen Hildesheim beizuwohnen, mit einem anderen Alkoholverbot umgehen wird, nämlich dem, das die

Es macht natürlich einen Heidenunterschied – gerade auch in der Selbstwahrnehmung –, ob du Maharadscha-gleich in den Polstern deines angemieteten Fauteuils herumlümmelst, oder wie ein Junkie vorm Lüftungsschlitz der Toilette klebst. Bleibt abzuwarten, welche Farbe man in den nächsten Jahren den vielen nach Berlin gezogenen Schwaben zuweisen wird. Wer sich nicht zu blöd ist, Hauswände mit Slogans á la „Verpisst euch zurück nach Stuttgart!“ oder „Spätzlefressern aufs Maul!“ zu beschriften, hat wahrscheinlich wenig Probleme damit, früher oder später den Satz „Die Schwaben sind unser Unglück“ zu formulieren. Ob und wie die selbsternannten „Verteidiger des eigenen Kiezes“ es allerdings in Baden-Württemberg aushalten würden, so die Schicksalslotterie namens Geburt sie denn zufälligerweise eben dort hätte vom

Deutsche Bahn für den Aufenthalt in ihren Zügen geplant hat. Ich sehe das Pack schon mit Thermoskannen voller Küstennebel stundenlang auf dem Abort herumhocken und aufrechten Rauchern wie mir den unverzichtbaren Rückzugsraum versperren. Bleibt nur zu hoffen, dass die zuständigen staatlichen Organe all den Icke-und-ditteund-haste-nich’-jeseh’n-Atzen die nötigen Ausreisedokumente verweigern und sie zwingen, dauerhaft in der ehemaligen Hauptstadt der ehemaligen DDR zu verweilen. Da können sie dann ja regelmäßig mit der Kindereisenbahn einmal um die Kuhle Wampe fahren.

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Hemd & Anzug TOm Rebl


Erwachen und

Erwachsen Text Johannes Finke Fotografie Manuel Cortez Fotografie Assistenz Dennis Keri Models Sara Sperling, Natalia / Izaio Models Styling Miyabi Kawai (yab agentur) Styling Assistenz Liselotte Kesper (yab agentur) Hair-Makeup Katrin Gerst, Kathleen Mertsch, Aylin Jandt, Lisa Schulze-Garbrechten (alle yab agentur)

Für eine ganze Generation von Bravo-Lesern sind die beiden Ochsenknecht-Sprösslinge Jimi Blue und Wilson Gonzalez die Helden aus „Die wilden Kerle“. Doch Zeiten ändern nicht nur Bushido und wenn der ältere der beiden mit seinem 20. Geburtstag dieser Tage das Teenie-Dasein verlässt, scheint er gut gewappnet zu sein für das, was da noch alles kommen kann.

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ls Teeniestar geht es in erster Linie darum, was herzumachen, eine gute Figur abzugeben, Sehnsüchten zu entsprechen und sich in all dem dann nicht zu vergessen, zu verlieren oder zu verachten. Ein Balanceakt für alle Beteiligten. An ausufernden und sich aufreibenden Beispielen mangelt es da ja nicht, egal ob Musik, Film, Kunst oder Politik. Auch Banker sollen angeblich Kinder haben. Auch Banker waren mal Kinder. Letztendlich und im Wesentlichen geht es auch hier um Profit. Teeniestars sind zumeist gut kalkulierbare Geldmaschinen, die, einmal gestartet, einem vorgegeben Muster folgen, das mit Variablen wie Loyalität, Ehrlichkeit und Liebe versehen ist und dessen vorläufiges oder endgültiges Ende dadurch von den Protagonisten, wenn überhaupt, nur sehr schwer abzusehen, geschweige denn zu beeinflussen ist. Umso erfreuter beobachtet man Entwicklungen, Aussagen und Haltungen, die zu signalisieren scheinen, dass da jemand noch weiter möchte. Woanders hin. In Sphären, in denen Vorbelastungen getrost vergessen werden dürfen. Momente, in denen man nicht nur etwas verwalten möchte. Dann zieht man aus der bayri-

schen Weltmetropole nach Berlin-Mitte und schaut sich das mal an. Mittendrin statt nur dabei. Plötzlich geht es tatsächlich um die Kunst. In diesem Fall um die Schauspielkunst. Jeder ist dabei. Alle arbeiten im Filmbiz. Oder haben zumindest was mit Medien oder Mode zu tun. Alles ist anders und doch gleich und so fängt man an, neue Formen von Intimität und Intensität zu suchen. Und so waren es zuletzt andere Rollen, die der Jungschauspieler auszufüllen versuchte. In Wede-

„Habermanns Mühle“ als strahlenden Jungnazi bestaunen, eine von diesen Rollen, in denen Körperlichkeit und Enthusiasmus sich zu einer glaubwürdigen Posse vereinen müssen. In seinen besten Momenten, die noch rar gesät sind, schafft Wilson Gonzalez genau das. Deutliche Anzeichen, dass da jemand die selbst ausgetretenen Pfade der Jugend hinter sich lassen möchte und wissen will, was es heißt, sich stärker und intensiver auf die Schauspielerei einzulassen.

Dann zieht man aus der bayrischen Weltmetropole nach Berlin-Mitte und schaut sich das mal an. Mittendrin statt nur dabei. kinds einstigem Skandalstück „Frühlings Erwachen“, das in der neuen Verfilmung im Februar auf Arte ausgestrahlt wurde und hoffentlich seinen Weg in die Klassenzimmer findet, spielte er den Melchior bedrückend teilnahmslos und nuschelnd, mit ganzem Körpereinsatz und doch voller natürlicher Scham. An der Seite von Ben Becker, Mark Waschke und Hannah Herzsprung kann man ihn im Herbst im Weltkriegsdrama

Den Namen hinter sich zu lassen dagegen ist nicht ganz so einfach, aber auch überhaupt nicht von Nöten. Wie man in der Branche mit einem solchen Erbe umgeht, konnte und kann man an Beispielen wie Anna Maria Mühe, Moritz Bleibtreu oder Hannah Herzsprung sehr gut beobachten. Letztendlich entscheiden Talent und Können und ein Umfeld, das machen und entfalten lässt, ein Umfeld das vertraut und schützt und

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in wichtigen Momenten die richtigen, aus Erfahrung resultierenden Entscheidungshilfen anbietet. So wie es aussieht hat Wilson Gonzalez Ochsenknecht dies betreffend bisher großes Glück gehabt. Und vielleicht kann er irgendwann mal in die Fußstapfen des Vaters treten, der mit seinen Rollen in Filmen wie dem Kriegsdrama „Das Boot“, Doris Dörries „Männer“ und der Hitler-Tagebücher Groteske „Schtonk!“ seinen Platz in der jüngeren deutschen Filmgeschichte bereits gesichert hat. Doch mit all dem geht der Sohn gelassen um. Und sowieso scheint da alles intakt zu sein. Eltern

Vielleicht kann er irgendwann einmal in die Fußstapfen des Vaters treten. lieben ihre Kinder. Kinder lieben ihre Eltern. Ein ganz normales Leben. Auf die Frage einer RTL-Exklusiv-Reporterin beim Shooting für BLANK, wie es ihm dabei gehen würde seine Mutter, die aufgrund einer Beziehung zu einem etwas jüngeren, türkischen Mann zuletzt und immer wieder im Focus der Boulevardpresse stand und steht, glücklich zu sehen, antwortete er: „Wie würde es Ihnen denn gehen, wenn sie Ihre Mutter glücklich sehen?“ So einfach kann das manchmal sein. Wünschen wir Wilson Gonzalez Ochsenknecht, dass das noch eine Weile so bleibt und warten wir ab, was er daraus macht.

Mehr über Tom Rebl und sein gleichnamiges Modelabel, Interviews mit Fotograf Manuel Cortez und Wilson Gonzalez Ochsenknecht und entblößende und offenbarende Bilder vom und über das Titel- und FashionShooting auf www.blank-magazin.de. WILSON TOM REBL

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Tom Rebl ist auch käuflich, nicht nur für uns, für jeden. Seinen Online Store findet man unter www.tomrebl.com.


WILSON Anzug Tom Rebl G端rtel & kette Kinky Rocker Model links & Mitte Agent Provocateur Model rechts American Apparel

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WILSON Tom Rebl Model Agent Provocateur BLANK I 31


Comedown mit IAMX

Text Johannes Finke Fotografie Svenja Eckert

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Auf der neuen Platte sind erstmal die anderen dran, denn IAMX lassen sich von Alec Empire, James Cook, Miss Derringer, Combichrist, Black Light Odyssey, Pull Out Kings und anderen Verdächtigen remixen, covern und bearbeiten. „Dogmatic Infidel Comedown OK“ heißt das Ganze und erscheint dieser Tage auf dem Band-eigenen Label 61seconds. „Ich finde immer großen Gefallen an der Chance, mich selbst zu de-

konstruieren und die Rolle des Studio-Mad-Professors zu spielen“, beschreibt Corner die Arbeiten zu diesem ‚Rework‘-Album. Doch erst live entfaltet sich das ganze Bild einer Band, die in so manchen Kreisen KultStatus besitzt, und so haben wir unsere Fotografin Svenja Eckert in die Stuttgarter Röhre geschickt, um Chris Corner und Mitstreiter auf und hinter der Bühne zu fotografieren.

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MELANCHOLIE

AUS DEM

SCHLAFZIMMER Text Erik Brandt-Höge Fotografie BEN FUCHS

Konstantin Gropper wurde mit seinem Musikprojekt Get Well Soon im vergangenen Jahr berühmt. Mit klugen Texten und opulent orchestrierter Musik hat er Melancholie ganz neu inszeniert. Jetzt erscheint sein zweites Album „Vexations“. Wir haben mit dem Mann aus der oberschwäbischen Provinz und heutigen Wahlberliner über ländlichen und urbanen Schwermut gesprochen. BLANK: Konstantin, wann warst du das letzte Mal richtig sauer? Konstantin GROPPER: Als ich das Wahlergebnis von der FDP erfahren habe. Da war ich ein bisschen sauer, aber auch nicht so richtig, das bin ich sehr selten. Ich habe es einfach nicht so ganz verstanden, dass nach all dem Gefluche auf das soziale Gefälle ausgerechnet diese Partei so gut abschneidet. BLANK: Gibt es denn etwas, das dich in solchen Momenten beruhigt? KG: Bier hilft immer. Diesen Spruch könnte ich mir auch auf Stoff sticken und übers Bett hängen. In Maßen natürlich, meistens reicht schon eins. In allgemeinen Stresszeiten hilft mir aber auch ein entspanntes Kochen. BLANK: Dein neues Album „Vexations“/ übersetzt „Ärgernisse“, handelt von Stoikern – zu denen du dich dann wohl nicht zählen würdest, richtig? KG: Nein, ich würde mich wirklich nicht dazu zählen. Ich finde auch, dass es wenige Dinge gibt, über die es wirklich lohnt, sich aufzuregen. Es gelingt mir immer relativ gut, nicht sauer zu werden. Ich bin eher oft besorgt und gestresst. BLANK: Trotzdem hast du mal gesagt, du würdest in den neuen Songs auch von deiner „Reibung an der Welt“ singen. Was bedeutet das genau? KG: Es kam zu dieser Aussage, weil ich die Themen der Songs auf einen Nenner bringen wollte. „Reibung an der Welt“ kann vieles sein. Es können alltägliche Kleinig-

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keiten sein, die konfliktbeladen sind, wie eine einfache Konversation oder eine Geschäftsbeziehung. Es können aber auch die großen Fragen rund um Zukunftsängste sein. Diese Reibung an der Welt macht einen jedoch nicht zwangsläufig sauer. Sie kann sich auch anders äußern.

Wie und warum sich Menschen in meiner Musik wiederfinden, sollte ich ihnen nicht vorschreiben. BLANK: Wie zum Beispiel? KG: Sie kann einen auch traurig oder gleichgültig machen. BLANK: Letztes Jahr erschien dein Debütalbum und du wurdest über Nacht zum Wunderjungen des deutschen Indie-Pop gemacht. Hat dich vielleicht dieser mediale Hype ein bisschen verärgert? Weil man ja weiß, was passieren kann, wenn man jemanden so weit nach oben wirft. KG: Ich fand es schon sehr vorschnell. Bei Debütalben passiert es sehr oft, dass man einen Hype aufbaut. Jetzt wird das zweite Album am ersten gemessen werden. Es wird kaum jemand über das neue Album sprechen, ohne zu erwähnen, dass das letzte so erfolgreich war und sehr positiv bewertet wurde. Das halte ich selbst gar nicht für nötig.

BLANK: Du bist aus der oberschwäbischen Provinz nach Berlin gezogen. Viele halten dich für ein Aushängeschild der Berliner Musikszene. Fühlst du dich denn überhaupt als Teil einer Szene? KG: Nicht wirklich. Weder hier in Berlin, noch sonst irgendwo. Es gibt keine Szene, in der ich mich bewege. Klar habe ich Freunde, die auch Musik machen, aber das kann man ja nicht als Szene bezeichnen. Womit ich an der Berliner Musikszene aber schon was anfangen kann, ist dieser DIY-Charakter. Alles wirkt immer noch ein bisschen wie Underground und sehr selbst gemacht. Im Gegensatz zum Beispiel zur Hamburger Musikszene. Die kenne ich zwar nicht so gut, aber ich habe dort das Gefühl, dass alles so professionell ist. Wenn jemand dort Musik macht, hat er auch sofort mit Studiomusikern zu tun. BLANK: Aber für dein neues Album bist du doch auch raus aus dem Schlafzimmer, wo du für das Debütalbum noch vieles programmiert hattest und rein ins Studio, um dort unter anderem echte Bläser und Streicher aufzunehmen. KG: Ja, aber ich hab’s mir im Schlafzimmer ausgedacht. Es ist für mich nicht die Idealvorstellung, alles von dort aus zu machen, das muss für mich nicht ewig so bleiben. Aber es ist etwas, mit dem ich mich identifizieren kann: zu versuchen, alleine und aus eigener Kraft etwas zu machen. BLANK: Die neuen Lieder tragen wieder viel Melancholie in sich. Die meisten sollen in deiner Heimat entstanden sein.


Ist das Dorf der bessere Nährboden, um melancholische Stücke zu schreiben? KG: Das elementare Gerüst für dieses Album ist in der Provinz entstanden. Die Ausarbeitung passierte dann in Berlin. Die Großstadtmelancholie und die Provinzmelancholie sind natürlich zwei verschiedene Sachen. Zum Beispiel die Pariser Großstadtmelancholie bei Rilke, die ich auch mit auf dem Album verarbeitet habe, lebt ja eher davon, dass viel um einen herum passiert und man darin ein bisschen verloren geht. In der Provinz ist man melancholisch, weil eben gerade nichts passiert.

Es hat keinen großen Effekt auf mein künstlerisches Tun, wo ich gerade bin. BLANK: Ist die Melancholie in der Provinz dann stärker? KG: Man kann sich stärker darauf einlassen. Mir fällt es in der Provinz aus dem ganz praktischen Grund leichter zu schreiben, weil man da einfach nicht so sehr abgelenkt wird. BLANK: Kannst du dir aus künstlerischer Sicht vorstellen, zurück aufs Dorf zu ziehen? KG: Aus künstlerischer Sicht – weiß ich nicht. Ich behaupte ja, dass es keinen so großen Effekt auf mein künstlerisches Tun hat, wo ich gerade bin. Wenn es in Berlin die Möglichkeit gibt, komplett abgeschottet zu arbeiten, funktioniert das für mich auch. Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, wieder auf dem Land zu leben. BLANK: Kapieren die Leute bei dir zu Hause auf dem Land denn deine Musik? KG: Keine Ahnung, aber ich weiß auch nicht, ob irgendjemand die Musik so kapiert, wie ich mir das wünsche. Außerdem weiß ich gar nicht, ob man sich wünschen sollte, dass die Musik kapiert wird. Das heißt, wie und warum sich Menschen in dieser Musik wiederfinden, sollte ich ihnen nicht vorschreiben. Wenn jemand auf dem Land denkt, Scooter seien elektronische Musik und Techno, weiß es wahrscheinlich jemand besser, der in Berlin lebt. Das ist so eine gewisse Szene-Kompetenz, die man für meine Musik aber nicht braucht.

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In the

Hot Hot Heat of the night

INTERVIEW Daniel Vujanic Fotografie Joshua Peter Grafstein & Kevin Lewandowski for thefuturists.ca

Hot Hot Heat sind wieder da. Im Zuge der Jägermeister Rock:Liga werden die Jungs aus Kanada im Februar für fünf heiß ersehnte Gigs zusammen mit The Teenagers und Offical Secrets Act endlich einmal wieder über deutsche Bühnen rocken (siehe Seite 83). Bei dem ansteckend quirligen Indierock des Quartetts um Sänger Steve Bays ist es gar nicht mal unwahrscheinlich, dass sie es bis ins Finale nach Berlin schaffen werden. Ein relaxter und gesprächiger Bays stand mir im frisch errichteten Hot Hot Heat Studio-Rede und Antwort. BLANK: Hot Hot Heat sind mittlerweile schon seit über 10 Jahren unterwegs. Was dürfen wir denn die nächsten 10 Jahre von euch erwarten? STEVE BAYS: Definitiv mehr Experimente. Wir haben uns im Laufe der letzten Jahre ein Studio gebaut und eingerichtet. Nun können wir unabhängiger als zuvor an unserem Gesamtsound feilen. Ohne Fremdeinwirkung, Zeitdruck oder einen Konsensproduzenten. Vorab erscheint jetzt erst einmal ein neuer Hot Hot Heat-Song auf einer Compilation, und ich denke mal, das Album dürfte auch in ein paar Monaten fertig sein. Ich bin in dieser Hinsicht optimistisch und ziemlich aufgeregt. Es wird unser bisher bestes Album - anders, aber auch dreckiger denn je. Wir arbeiten gerade Tag und Nacht daran. Nebenbei habe ich noch ein neues, bisher namenloses (Solo-) Projekt am laufen. Das Debutalbum ist inzwischen fast fertig. BLANK: Apropos Alben. Hattest du 2009 irgendwelche Lieblingstonträger? SB: Da gab es vieles. Was mich aber am meisten beeindruckt hat, war das letzte Phoenix-Album. In Sachen Produktion und Songwriting war es mein persönliches Highlight des letzten Jahres. Es ist einfach nur unglaublich gut. Wie aus einem Guss. BLANK: Ihr seid im Februar im Rahmen

der Jägermeister Rock:Liga endlich wieder live in Deutschland zu sehen. Was machst du, um dem tristen Touralltag entgegenzuwirken? SB: Ich versuche, so viel wie nur irgend möglich von den Städten aufzusaugen, in denen ich bin. Ich laufe beispielsweise gerne durch die Gegend und lasse die Eindrücke auf mich wirken. Oder rede mit den „Locals“. Das hilft eigentlich ganz gut gegen den repetativen Touralltag und man lernt tatsächlich auch die untypischen Seiten einer Stadt kennen. BLANK: Und direkt vor euren Konzerten? Viele Bands stimmen sich vor ihren Auftritten gemeinsam auf ihre Show ein. Wie ist das bei euch? SB: Wir als Band genehmigen uns vor einem Gig gern mal eine Runde Jägermeister. Das ist fast schon so etwas wie ein kleines Ritual geworden. Soll ja schließlich - sprichwörtlich - die Stimmbänder einölen. Was mir als Sänger natürlich zu Gute kommt. BLANK: Letzte Frage – was ist deiner Meinung nach die beste kanadische Band aller Zeiten? SB: NoMeansNo. Ohne Frage. BLANK: Haha. Wäre erstaunlicherweise auch meine erste Wahl gewesen. Danke und viel Spaß bei der Rock:Liga.

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Stille

Wasser sind tief Text Teresa Mohr Fotografie Svenja Eckert

Während sich Künstlerinnen wie Lady Gaga oder Beyoncé ihre vom Personal Trainer gestählten Hintern aufreißen, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zu lenken, kann sich Siri Svegler ins Fäustchen lachen. Die braucht nämlich weder crazy Outfits, noch hochkomplexe Tanzchoreografien, um von sich zu überzeugen. Sie singt einfach. Und hat damit sogar Seal um den Finger gewickelt.

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icht jede Schwedin ist blond und bleichgesichtig. Da das menschliche Gehirn ja dazu neigt, in Prototypen zu denken, ist es durchaus überraschend, zum ersten Mal das Gesicht zum nordischen Namen von Siri Svegler zu sehen. Die Frau sieht nämlich aus wie Schneewittchen, obwohl man ihr ganz andere Attribute zuschreiben möchte, als Haare schwarz wie Ebenholz und Lippen rot wie Blut. Dementsprechend wollte BLANK nicht auf ein Modeshooting verzichten und hat Siri Svegler in feinsten BlutsgeschwisterZwirn gehüllt und im Berliner Rodeo abgelichtet. Zum Shooting kommt das Fräulein, dem man kaum glauben mag, dass es 29 Jahre alt ist, ein wenig zu spät und berichtet, während sie ihren zarten Körper auf einem altersschwachen Barhocker balanciert und ihn dabei mit Pommes befüllt, vom Auftritt in der letzten Nacht. Die Songwriterin ist im Rahmen ihrer Auszeichnung mit dem Nachwuchspreis der VW Soundfoundation unterwegs gewesen, ihr Mentor für dieses Programm ist kein geringerer als Seal, der sich vor Begeisterung kaum einkriegt, wird er auf die Schwedin angesprochen. Doch bis hierher war es für sie ein steiniger Weg: „Es gibt so viele Aspekte, die erfüllt werden müssen, um den Durchbruch

zu schaffen. Natürlich braucht man Talent, natürlich auch ein wenig Glück. Und ohne gute PR läuft nichts. Du kannst eine super Platte machen, doch davon wird niemand etwas erfahren, wenn du keine gute PR machst. Promotion ist ein ganz ausschlaggebender Punkt in diesem Business.“ Doch die Zeiten stehen gut für Songwriter-Damen, wie Duffy, Amy Winehouse, Pixie Lott, Marit Larsen und Co. beweisen. Wenn man dann noch aufregender als die junge Norah Jones klingt… Dabei sahen Siri Sveglers ursprüngliche Pläne für die berufliche Zukunft ganz anders aus. Ihr eigentliches Steckenpferd, dessen war sie sich sicher, sei das Tanzen. Schließlich zeichnete sich schon im Kleinkindalter ab, dass die kleine Siri geboren wurde, um zu entertainen. „Dazu gibt es eine lustige Anekdote aus meiner Kindheit. Im Fernsehen lief der Musical-Film „Victor und Victoria“ mit July Andrews. Ich kam in den Raum, bin sofort auf den Fernseher zu gerannt und habe angefangen mitzusingen und zu tanzen. Singen lief aber immer eher nebenher, ich war als Kind vor allem körperlich kreativ.“ Deshalb bewirbt sich Svegler an einer renommierten Londoner Schauspielschule und zieht 2000, nachdem sie die Aufnahmeprüfung erfolgreich bestanden hat, aus Göteborg in die Millionenstadt: „London als Weltmetropole hat fast mehr Einwohner als Schweden insgesamt. Es war ein Riesenunterschied in fast jedem Aspekt.“ Die Ausbildung an der Arts Educational

School ist hart, schon im ersten Jahr der Ausbildung müssen viele die Schule wieder verlassen, weil sie den Anforderungen nicht gewachsen sind. Die damals 20-jährige hält durch, obwohl die Methoden fragwürdig sind: „Es war hart! Sieben Tage die Woche Unterricht, acht Stunden lang. Man musste jeden Tag vor viertel vor neun

Es ist verdammt einfach, in diesem Business missverstanden zu werden.

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einchecken. Kam man zu spät, war man für den Tag vom Unterricht ausgeschlossen. Die Schulleitung legte großen Wert auf Disziplin, man wollte uns wohl für die Branche vorbereiten. Es war echt krass, mein erster Kulturschock.“ Doch die Mühen werden belohnt. Ein Casting-Agent aus Hollywood sieht die Schwedin in einer Produktion der Schule und lädt sie zu einem Vorsprechen für das Wolfgang Petersen-Epos „Troja“ ein. Siri bekommt die Rolle, und die Dreharbeiten mit Stars wie Brad Pitt und Orlando Bloom ermöglichen ihr einen Einblick ins Hollywood-Leben, der sie eher verstört: „Es ist einfach nicht mehr normal, wie die Menschen auf die anderen Schauspieler reagiert haben. Wir sind nur von einem Restaurant zu einem Nachtclub gelaufen, und für fünf Minuten war man blind wegen des Blitzlichtgewitters. Ich habe die Bilder in der Boulevardpresse gesehen, als ich zurück in London war. Das war schon seltsam. Wie eine parallele Wirklichkeit, an die nur die Öffentlichkeit glaubt. Es ist verdammt einfach, in diesem Business missverstanden zu werden.“ Ihre Ausbildung zieht sie weiter durch, obwohl sie mittlerweile spürt, dass die Härte und Disziplin des Tanzbusiness nicht ihr Ding sind. Doch sie hat ein anderes Talent in sich entdeckt, das sich nun über ihre Stimmbänder seinen Weg nach draußen bahnt. „Eigentlich ging es erst nach dem Studium an der Schule wirklich mit Musik los. Dann habe ich mich nämlich mehr und mehr mit verschiedenen Bands befasst, mir Gitarre beigebracht und angefangen zu schreiben. Das war vielleicht spät, aber manchmal dauert es eben ein wenig, bis man seinen Weg gefunden hat, damit man sich wirklich ausdrücken kann.“ Noch in London beginnt sie, sich musikalisch auszuprobieren, und gerät dabei gleich an einen der Top-Jazzpianisten: Christian Vaughan, der so beeindruckt von ihrer Stimme ist, dass er eine Band zusammenstellt, die Siri den perfekten Rahmen bieten soll. Doch London ist nicht Endstation auf Siris Reise, denn bei einem ihrer ersten Berlin-Besuche verliebt sie sich und zieht in die deutsche Hauptstadt: „Mein Leben hat sich sehr verändert, aber ich habe meinen Umzug nie bedauert. Berlin ist die einzige Hauptstadt Europas, wo auch eine anfangende Künstlerin unbeschwert das Leben genießen kann. Man

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MUSIK

kann immer noch eine günstige Wohnung finden, und so weiter. Auch die Geschichte der Stadt ist faszinierend, Berlin hat so viel durchgemacht.“ In Berlin angekommen, geht es für Siri richtig los. Sie textet und komponiert, arbeitet mit Produzenten Frank Schellenberger zusammen, der auch schon Smudo und Samy Deluxe den letzten Feinschliff verpasste. „Ich bin eine sehr textorientierte Musikerin. Für mich spielt der Text eine große Rolle, ich finde es besonders gelun-

gen, wenn man regelrecht Geschichten erzählt, wenn etwas im Song passiert.“ Große Inspiration findet die Schwedin in Künstlern wie Leonard Cohen, Lou Reed, Joni Mitchell und David Bowie. Ihr Stil auf ihrem auf Compost Records erschienenen Debut „Their Whine“ liegt irgendwo zwischen Pop, Jazz und Folk. Um es kurz zu machen: Die Platte ist ein Hit. Wir sind sicher, vom schwedischen Schneewittchen wird man noch einiges hören. Und es wird gut sein.

Manchmal dauert es eben ein wenig, bis man seinen Weg gefunden hat.


bum prinzipiell mit relativ formstrengen Metalvarianten (Speed, Thrash, Death), die auf Songlänge eingeschmolzen und durch mathematisch anmutende Tempound Taktwechsel durchdekliniert werden. Und das klingt streckenweise und im besten Fall („Dementia“) schön todesmoshig brachial oder aber nach wunderbarem Synkopenterrorismus á la Meshuggah („The Manifest“). Also eigentlich ganz groß. Metal halt. Von der Intensität her reicht das jetzt nicht unbedingt an eine, mit ähnlichen Zutaten agierende Band wie The Dillinger Escape Plan heran, verschickt aber mit äußerst disziplinierter Aggression nach spätestens 2, 3 Durchläufen mehr als der gemeine Indiehörer normalerweise ertragen könnte. Eine Wohltat in Weichspülerzeiten, in denen die Phrase „Es rockt!“ so inflationär wie auch schamlos marketinggeil durch die Gegend posaunt wird. Eine gelungenes Hilfsmittel also, um sich mal akustisch durchbürsten zu lassen. Mit voller Lautstärke. Die Nachbarn wird´s bestimmt freuen. (DV)

ken, weil der OK Go-Sound so überladen klingt, wie die Kostüme des exzentrischen Duos aussehen. Oder weil der Gesang von Damien Kulash eine eigenartig divenhafte Attitüde hat, die beim ersten Track an Prince erinnert und noch irgendwie lustig ist, irgendwann aber einfach zu penetrant wird. Dabei gehört jeder der Songs auf dem dritten Album der Jungs aus Chicago in ein Stadion, will mitgesungen und mitgeklatscht werden, ob poppige Titel wie „White Knuckles“ oder Akustik-Balladen wie „Last Leaf“, in Sachen Massentauglichkeit sind OK Go Profis. Und das mag des Rätsels Lösung sein, der Grund dafür, dass ich OK Go uncool finde, obwohl sie in einem Projekt gemeinsam mit ihren Fans Burritos an Obdachlose verteilen: „The Blue Colour Of The Sky“ ist wie Fast Food. Da ist keinerlei Eigeninitiative mehr nötig: Ohren beziehungsweise Mund auf und rein mit dem Stoff. Schmeckt einfach geil, befriedigt sämtliche Gelüste, sättigt aber so sehr, dass einem übel wird. Und hat trotzdem so wenig Gehalt, dass man nach einer halben Stunde schon wieder hungrig ist. (DV)

INDIE

OK GO

„Of The Blue Colour Of The Sky“ (Capitol / EMI)

METAL/POST-HARDCORE

Through The Eyes Of The Dead „Skepsis“ (Prosthetic Records)

Zwischen Cannibal Corpse, White Chapel, Morbid Angel und den Genrechefs Converge gibt es stilistisch noch etwas Platz, und der wird ganz ordentlich von TTEOTD gefüllt. Doublebasskopfdruckmassagen, melodieverliebte Gitarrenläufe, halsbrecherische Tempi und ein lustiger, steroideummantelter Krümelmonster-meets-Screamogekeife Gesangsmix prägen das apokalyptische Bild. Die Band aus South Carolina spielt, nüchtern betrachtet, auf ihrem dritten Al-

Ja, richtig. OK Go sind die Typen mit dem Laufband-Tanzvideo, das sie dank Youtube im Jahre 2006 weltweit bekannt machte. Ja, genau. Das Video, das in nur einem Take aufgenommen wurde und zeigt, dass Indierocker in Aerobik-Klamotten zwar genauso scheiße aussehen, wie jeder andere Mann auch, dafür aber ein überdurchschnittlich hohes Talent für das Einprägen von Tanzchoreographien haben können. Ja, es stimmt. Wir alle fanden OK Go damals sooooo sympathisch. Auch ich. Damals. Nehmen wir vorweg, dass die Band eine wirklich gute Platte gemacht hat. Unterhaltsam, vielfältig, regelrecht bombastisch. Und fügen wir hinzu, dass meine Wenigkeit die Qualität der Songs durchaus zur Kenntnis nimmt, trotzdem aber eine ungemeine Antipathie gegen das Album hegt. Vielleicht, weil das alles verdammt noch mal zuviel des Guten ist. Teilweise muss ich an Empire Of The Sun den-

POP/FOLK

The Leisure Society

„The Sleeper“ (Hobby Industries/PIAS) Erschreckend wie schlafwandlerisch sich TLS auf ihrem Debut mit zuckrigen Harmoniegesängen, sixtiesmäßigen Gitarrenpickings und sehnsüchtigen (stellenweise schön filmischen!) Streichern auf direktem Weg in die Neofolk-Liga von den Kings Of Convenience, Belle & Sebastian oder wieauchimmersienochheißssenmögen spielen. Das englische Duo schafft es wie eine zeitgemäße Simon & Garfunkel Ausgabe zu klingen, ohne irgendwelche genrespezifischen Altlasten über die kurze Spielzeit mitzuschleppen. Stattdessen schreiben die Jungs einfach nur gediegen-zeitlose Folksongs, von denen die Welt mehr brauchen könnte. Und „The Sleeper“ klingt dabei zu jeder Zeit wie ein großes, übrigens auch toll produziertes, Album einer in sich ruhenden Band und nicht wie das viel zu leicht zu übersehende Debut eines Newcomers mit einem unspektakulären Namen. Klasse

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POP/FOLK

Broadcast 2000

„Broadcast 2000“ (Groenland Records)

Schön, was Joe Steer auf dem neuesten Longplayer seines Projekts Broadcast 2000 zusammenträgt. Der Multiinstrumentalist aus Devon, England, spinnt sich in einer guten halben Stunde einen akustischen Kokon aus folkigem Pop und hymnischer Melancholie, stilistisch wohl irgendwo verortbar zwischen Andrew Bird, Paul

Melodien, verspielte Arrangements und bittersüße Miene. Hier passt einfach alles auf wattebauschigste Art und Weise zusammen. Ich ziehe meinen imaginären Hut vor soviel „Lover´s Music“. (DV)

INDIEROCK

Cymbals Eat Guitars

„Why There Are Mountains“ (Memphis Industries/PIAS) Moment mal. Das ist jetzt aber Joan Of Arc, oder? Nein? Joseph D´ Agostino, Songschreiber und Sänger der Band Cymbals Eat Guitars klingt doch wundersamerweise in Ausdruck & Tonhöhe tatsächlich nach Indie-Ikone Tim Kinsella (Joan Of Arc, Make Believe, Cap´n Jazz). Zudem spielt seine Band einen vergleichbaren Postpunkrock-Mix mit fragmentierten Popelementen, delirierenden Gitarren, zerdehnten Zeitlichkeiten und flatterhaften Liedstrukturen. Auf Songlänge wird gerne experimentiert, explosive Parts dürfen dabei natürlich

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MUSIK

Simon und Psapp. Was sofort auffällt, ist, dass die zehn Songs bezaubernd einfach aber eben nicht billig gestrickt sind; kleine Melodiewiderhaken und rhythmische Verästelungen in der Songstruktur verfeinern zwar den immensen Schönklang, überrennen aber zu keinem Zeitpunkt die Grundidee eines Songs. Ganz im Gegenteil, sie scheinen sie eher noch weiter auszusieben, hin zur kompletten Verabschiedung jeglichen Ballasts. Die Lieder wirken allesamt puristisch und sehr bestimmt, um nicht zu sagen hypnotisch. Alles scheint an einem Strang zu ziehen: die unaufdringlichen Streicher, die angenehmen Gesangsharmonien und die dezente, aber immer sehr bestimmt treibende Perkussion. Gleich der zweite Track, „Your Own Worst Enemy“ markiert in dieser Hinsicht selbstbewusst einen unmittelbaren bevorstehenden Reigen des Wohlklangs, der mehr oder minder bis zum baldigen Ende anhällt. Eine angenehme Überraschung, das.

auch gerne mal implodieren, Synths huschen durch den Raum und paaren sich mit orchestralen Krümeln, über denen dieser sehr spezifische, durch die Gegend geschleuderte Gesang thront. Es geht wie immer ums Siegen und Scheitern, sinnvollerweise vermischen sich dabei Wohlklang und Dissonanzen, Songwriterzärtlichkeiten und noisige Freakouts zu einem ziemlich packenden Stream-Of-Sound der Erwartungshaltungen wie auch Songkonventionen locker links liegen lässt. Fans der oben genannten JOA, bzw. Freunde des exzentrischen Indies dürften es lieben. Da bin ich mir sicher. (DV)

INDIE/FOLK

Seabear

„We Built A Fire“ (Morr Music/Indigo) Schon der lebensbejahende Opener „Lion Face Boy“ gibt die Richtung(en) vor. Verspielter und hübsch arrangierter Indiepop á la Arcade Fire oder Rarariot

prägt das aktuelle und sehr gelungene Album der isländischen Band. Niedlich anzuhören wie´ s dann manchmal plötzlich kirmesartig schlingert und sich dann anschließend in minimalistischem Balladenfolk suhlt. Noch ein paar Späne Country & Western („Wooden Teeth“) bzw. Uptempo-Gitarren („Softship“) dazugeben, umrühren und fertig ist das eklektische 3 Gänge Indie-Überraschungsmenü. Berührungsängste mit Pathos und Melancholie gibt es kaum. Die Band schafft es aber trotzdem authentisch introvertiert und zur selben Zeit auch auch weltumarmend herzlich zu klingen. Da sollten die Indienerds, wie auch die Freunde in sich ruhender Folk/Popmusik ruhig mal reinhören. Sie könnten voll auf ihre Kosten kommen. (DV)

POP/INDIE

Girls

„Album“ (Fantasytrashcan/PIAS)

Haha. Geiler Bandname für ein Jungsduo mit textlichem Fokus auf Herzschmerz und Sex. „Album“ (nochmals ein kräftiges: Hahaha!) klingt nach Westcoast Psychedelia, Bob Geldof-Schnoddrigkeit, The Cramps-Exzentrik und Classic-Pop. Auf kurzen, einprägsamen Songs wird dem Lo-Fi Gott gehuldigt, ebenso wie dem California Lifestyle der goldenen Ära. Nicht gerade die schlechtesten popkulturellen Referenzen. Ein ums andere Mal reichen sich Beach Boys- und The Tyde-Zitate die Hand, Ideen werden eher rausgerotzt, als dass sie auf Songlänge weitergesponnen werden. Vielleicht funktioniert das Debut aber auch gerade ob dieses punkig-nachlässigen DIY-Gestus so gut. Einen halben Bonuspunkt gibt´ s auch noch für die hübschen Girls im Booklet. Todschick. (DV)

ROCK

Expatriate

„In The Midst Of This“ (PIAS/Rough Trade) Ganz in der Tradition des Achtziger Stadionrocks á la Midnight Oil (wahlweise auch The Cure, The Cult, The Mission,


etc.) hat sich das australische Quartett ganz der kultivierten, radiofreundlichen Melancholie verschrieben. Dazu kommen noch ein paar Splitter Britpop (The Verve - bei „Air“, Keane - bei „Gotta Get Home“), etwas kantiger New Wave und der altbewährte Synthstampfkitsch im Stile der Killers. Fertig ist ein sättigendes, manchmal einen Tick zu glattes Album mit einer Handvoll potentieller Singles für den ewig hungrigen Dancefloor. Außerdem waren Expatriate vor kurzem noch mit Placebo auf Tour. Das sagt im Prinzip eigentlich auch schon alles über die anvisierte Zielgruppe dieser wohltemperierten Musik aus. Aber eben noch nichts über ihre Halbwertszeit. Lässt sich aber trotzdem sehr gut durchhören, das Album. (DV)

SINGER-SONGWRITER

Florian Horwath ­

„Speak To Me Now“ (Stereo Deluxe / Universal)

Florian Horwath war irgendwann mal Elektromusiker, ist dann zum Glauben an die Gitarre übergetreten und hat auf irgendwas zwischen Lo-Fi und Folk umgesattelt. Diese Entscheidung hat ihm zurecht viel Lob seitens der Öffentlichkeit eingebracht. Auch sein drittes Album „Speak To Me Now“ ist lobenswert. Ab und an blinken kleine Elektrofunken auf, Glockenspiele klingeln, Mundharmonikas quäken. Und zwischendrin: die Horwathsche Stimme. Ob er knabenhaft unschuldig klingt oder wie im Titeltrack „Speak To Me Now“ wie eine Mischung aus Mick Jagger und Dirk von Lotzow – obwohl der Österreicher eigentlich nicht singen kann, er ist immer ehrlich. Und das ist ebenso sympathisch wie die Tatsache, dass Horwath über sich selbst und die Zunft der Folker lachen kann. „On The Kitchen Floor“ beginnt wie eine unschuldige Hippie-Ode (sogar inklusive Geige und Tamburin) und während man in Gedanken gerade noch einer Zeile wie „C’mon Babe, set my colours free, c’mon babe shine a light on me.“ nachhängt, zeigt uns der kleine Florian eine lange Nase und hebt zum Refrain an: „I want it more on the kitchen floor.“ Am Ende geht’s eben doch nur ums Ficken; HippieRomantik hin oder her. Da hat wohl jemand T.C. Boyles „Drop City“ gelesen

oder sich vom jungen Frank Zappa inspirieren lassen oder beides. Zurück zum Thema, dem kleinen Florian. Der hat zu unserem Glück seinen kindlichen Spieltrieb noch nicht abgelegt. Deshalb ist der nächste Track auf der Platte auch ein zuckersüßer Lovesong, der in Form eines Cluburlaub-Animationssongs gehalten ist und worin Horwath zu karibischen Trommelrhythmen unter anderem Anleitung zum „Kakadu-Move“ und zum „Elephants Smile“ gibt. Zum Brüllen komisch ist auch die Coverversion von „Spirit Of The Sky“, die Horwath mit der Stimme eines stimmbruchgeschädigten 15-jährigen zum Besten gibt. Neben all dem Schabernack betreibt Herr Horwath seinen Job als Musiker natürlich äußerst gewissenhaft und hält deshalb auch noch ein paar Songs, die zwar ernsthafter, aber nicht minder schön sind, auf dem Album bereit, beispielsweise das hauchzarte „Darlin’ I Can See You Fallin’“. Das gefällt uns. Danken wir dem Gott der Gitarre. (TM)

POP/ELECTRONICA

Gonjasufi

„A Sufi And A Killer“ (Warp/Rough Trade) Soul mit Dreck unter den Fingernägeln. Unter der Zuhilfenahme von HipHop, Ambient, Weltmusik, Rock, Psychedelia, Reggae und so ziemlich allen anderen Genres, die sich unter der Fahne des Groove vereinen lassen (oder eben auch nicht), erscheint eine bedreadlockte Gestalt aus dem Westen der USA und legt ein Album vor, das in seinem Eklektizismus an Acts wie J Dilla, OutKast oder auch Funkadelic erinnert. Eine Stunde lang wirbelt sich Gonjasufi durch unterschiedlichste Soundparadigmen und schafft es via verstaubter Lo-Fi Ästhetik und einer wohligen, rootsaffinen Stimme allen Stücken von „A Sufi...“ seinen eigenen, alchimistisch anmutenden, Stempel aufzudrücken. Dabei wäre die ineinanderlaufende Skit-haftigkeit einiger Stücke der einzige Kritikpunkt. Das sind nämlich die wenigen Momente, in denen das Album in ein rastloses Zappingmuster gerät, dem es an kompositorischer Substanz fehlt. Aber das nur am Rande. Sonst gibt es hier viele hörenswert verschrobene Popmomente zu

entdecken. Eingewickelt in psychedelische Texturen und mit grobkörnigen Retrofuturismusschleifen versehen. Eine echte Alternative zum ganzen totpolierten R ´n´ B BlingBling. (DV)

ELECTRONICA

Lonelady

Nerve Up (Warp/Rough Trade) Das Debut von Julie Campbell erstaunt mit einer stoischen, unterkühlt marschierenden Atmosphäre, die sich Vergleichen mit frühachtziger Heroen wie ESG, Joy Division oder den Young Marble Giants wird gefallen lassen müssen. Die Mischung aus splittriger, perkussiver Gitarre und primitiv-treibendem Schlagzeug ist zum einen eine ästhetische Wohltat (weil ungewohnt, in Zeiten der orchestralen Konsens-Standardschichtung im zeitgemäßen Popsong als solchen!), zum anderen passt Lonelady´s an Pat Benatar erinnernde, unaufdringliche Stimme toll zum selbstbewusst zur Schau gestellten Minimalismus. Ob discoaffin verdichtet, wie im kickenden Titelsong, oder schrammelig rockend („Army“): „Nerve Up“ klingt diszipliniert, durchdacht und bis auf die Knochen nackt. Dass hier jemand über die Jahre hinweg an einer ganz spezifischen musikalischen Signatur gearbeitet hat, wird schon beim ersten Hördurchlauf mehr als deutlich. Es fällt schwer, einzelne Stücke hervorzuheben, fast alle zehn Tracks haben diese kurz klickenden Momente, in denen das Gehörte in emotionale Wechselwirkung mit dem Zuhörer tritt. Ach ja, für die Nerds und Distinktionsliebhaber da draußssen: „Nerve Up“ erscheint auf Warp. Noch irgendwelche Fragen? (DV)

INDIE/ELECTRO

Kasper Bjørke

„Standing On Top Of Utopia“ (hfn music / Rough Trade) Der Kasper Bjørke ist schon ein putziges Kerlchen. Vorn auf dem Cover seines Albums mit dem bedeutungsschwangeren Titel „Standing On Top Of Utopia“

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CLUB/ELECTRONICA

Silke Wilhelm 1

Zum Technischen: Auf zwei CDs (Lucent/Embrace) findet sich ein okayer, stellenweise etwas statischer „wir-erleben-einen-verhuschten-Tag/ eine-durchzechte-Nacht“-Mix von Moonbootica´s KoweSix samt den üblichen (Disco-)Verdächtigen einerseits, aber auch – netterweise – den dazu kompatiblen Indiepathosschlurfis wie Elliot Smith, Soap & Skin oder Fink als moody Mixalternative. So weit so nett.

Ganz unterhaltsam aber eben ohne größeres Überraschungsmomentum. Es ist halt nur ein zweimaliger und funktionaler DJ-Mix. Musikalisches Handwerkszeug, welches im Club mit adäquatem Alkohol/ Leute/Lautstärkepegel bestimmt besser funktioniert als daheim. Das mitgelieferte Brimborium mit dem sich die Modeschöpferin (und Achtung! Qualitätskriterium!) Schülerin von Vivienne Westwood, Silke Wilhelm aber meint einen „Audiovisual Couture“ Überbau für ihre Mode schaffen zu müssen, ist hingegen einfach nur peinlich blasiert. Sorry, aber einen Bezug (bzw. eine Entsprechung) von Lifestyle, Urban Couture und zeitgemäßer Konsensraum/Kopfbeschallung mittels Duftpröbchen in Samtverpackung unter der Zuhilfenahme einer Doppel-Mix-CD eines vielbeschäftigten DJs zu finden, und das Ergebnis den Kunden auch noch als „besondere Sache“ andrehen zu wollen, ist prätentiöser Schrott. Einfach nur hirnverzehrend opportunistischer Mist, der das Ausmaß der jahrelangen Musik- und Modeinflation erahnen lässt. Der Kassettenmix eines Teenagers hat bei weitem mehr Style. Im Vergleich dazu geht das hier einfach nur nach hinten los, obwohl das Gehörte strenggenommen eigentlich

völlig in Ordnung ist. Es ist halt nur die Art und Weise, wie hier Allianzen geschmiedet werden, die einfach nur wütend machen, verständlich – ob der jahrelang andauernden Invasion des Marketings und der ganzen ästhetischen Belanglosigkeiten. Die komplette DJ-Mix-CD Schiene ist bei intensiverer Betrachtung so was von Neunziger und bis zur Leichenstarre anachronistisch. Wann kam die erste Kruder&Dorfmeister DJ-Kicks auf K7 raus? 1996? Gratulation. Fashion und Fortschritt sind demnach antagonistische Waisenkinder. Weltfremd und etwas behindert. Wieso wird Mode 2010 immer noch mit Lounge/Club gleichgesetzt? Wo bleibt das verdammte Wagnis? das Risiko? die Subversion? das „Wir-Gegen-Den-Rest“ Gefühl? Leute, rafft euch endlich mal und sucht nach neuen Strategien für euren ranzigen Modevampirismus, vielleicht mal jenseits der symbiotischen Beziehung von Gala-Horizont, Latte Macchiato Melancholie und gähnigen 4/4-Standardclubsounds. Da draußen geht so viel mehr. Das hier braucht kein Mensch. Dead Time For Dead Fashion. (DV)

prangen farbenfrohe Schmetterlinge, und auf dem Silberling im Inneren der schillernden Hülle blickt uns schüchtern ein kleines Kätzchen entgegen. So plüschig und verspielt wie ebendieses Katzenkind ist die Platte allerdings nicht durchgehend. Einzig und allein „Heaven“, ein Stones-Cover, fällt so wirklich kakaowohnzimmerräucherstäbchentauglich aus. Ähnlich wie die Kollegen von Nightmares On Wax oder Air bettet der Däne das Ohr in watteweiche Streicher und Chillout-Beats, bestäubt mit einer duftigen Frauenstimme. Funktioniert immer. Aber auch der Rest des Albums funktioniert richtig gut. Bjørke beweist mit seiner zweiten Platte eindrücklich seine Vielfältigkeit, schillernd wie die Flüge eines Schmetterlings. Auf „Standing On Top Of Utopia“ reiht er mühelos Deephouse-Kracher wie „Fido & Friendly Ghost“ oder Pop-Hymnen wie „Efficient Machine“ und „Alcatraz“ zwischen noisigen Elektrotracks wie „Melmax“ (Ja, Alfs Heimatplanet!) auf.

Gekrönt wird das Ganze von der ersten Single „Young Again“. Damit ist Bjørke ein Geniestreich gelungen. Beklemmend melancholisch und theatralisch singt der Däne Jacob Bellens, als wäre er bei Morrissey in die Lehre gegangen zu wavigen Sounds. Enttäuschend sind dafür die Instrumentals „Dasko Vanitas“ und „Fasano“, weil sie ein bisschen wirken wie die Warteschleifenmusik der Telekom – sie tun keinem weh, sind unterhaltsamer als Stille und runden die Tracklist auf ansehnliche zehn Titel auf. Völlig aus dem Konzept zu fallen scheint „Great Kills“, das mit einem 40sekündigen Didgeridoo-Dauerton beginnt und, im weiteren Verlauf sparsam ergänzt durch Streicher und Drums, den Eindruck erweckt, als habe Kasper Bjørke eine Weile im australischen Busch verbracht und das dort Erlebte vertont. Selbst dieser Ethno-Ausflug wird nicht peinlich. In welche musikalische Richtung Kas-

per Bjørke seine Schmetterlingsfühler auch ausstreckt, er findet kleine Schätze. Solange er die Telekom aus dem Spiel lässt. (TM)

„Audiovisual Couture Vol.1 by KoweSix“ (Conte De Conteur)

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MUSIK

Elektro/Disko

Bunny Lake

„The Beautiful Fall“ (Klein/ Universal) Zeitgenössischer Elektro aus der Donaumetropole Wien, herrlich unbedarft und eigensinnig, ständig pendelnd zwischen Großraumdisko und Indie-Club, international beachtet und mit viel Potential: „Ich habe grundsätzlich keine Vorbilder, aber es gibt Leute deren Zugang ich schätze. Falco war da einer der größten“, sagt Suzy On The Rock, die, wie auch ihr Bandpartner Christian Fuch, dem Duo ihre Stimme verleiht. Und wie das große Vorbild verzichten auch Bunny Lake nicht


auf einen gesunden Pathos und den Anspruch sich über die Grenzen Österreichs hinaus einen Namen machen zu wollen und das auch zu können. Musikalisch vermengen sich auf „The Beautyful Fall“ die drei letzten Jahrzehnte Clubmusik mit Wave und urbaner Indie-Romantik a la Ed Banger und bereiten den Hörer sehr behutsam und doch eindringlich auf das kommende Jahrzehnt vor. (EB)

SINGER-SONGWRITER

Maximilian Hecker

„I Am Nothing But Emotion, No Human Being, No Son, Never Again Son“ (Blue Soldier/ Rough Trade)

INDIE/FOLK

Juta

“Running Through Hopes“ (Arctic Rodeo Recordings/ AL!VE) Italienisch-kanadische Kooperationen, Liebespaaren, Freundschaften oder eben Bands begegnet man ja dann doch eher selten. Doch bei der seit 2007 bestehenden Formation Juta haben sich Bologna und Montreal wohl zum richtigen Zeitpunkt getroffen. Die Band um Sängerin Barbara Adly und Gitarrist Pierluigi Aielli trifft mit ihrem behutsamen Zusammenspiel

Frankophone

Vanessa Paradis „Best Of“ (Universal)

Stacey Kent

„Raconte-moi…“ (Blue Note/ EMI)

Dieses Album klingt wie ein Befreiungschlag. Hecker wirft alles über Bord und verläßt sich voll und ganz auf seinen Überlebensinstinkt, das Musizieren. In einer Phase, die er, um zu überleben, im „Verwesungsmodus“ verbrachte, Jogginghose und Bart inbegriffen, entstanden entwaffnend entblößende Songs von tiefer Einsicht und stiller Offenbarung, nicht ohne Wehmut, doch niemals jammernd. Hier kehrt sich Schmerz nach außen und zündet an der Oberfläche ein kleines Feuer. Die Songs dann unmittelbar und mit einfachsten Mitteln in den eigenen, beschützenden vier Wänden aufzunehmen, war wahrscheinlich die folgerichtige Entscheidung, damit Hecker seine ursprüngliche Verletzlichkeit bewahren konnte. Seit seinem Debut „Infinite Love Songs“ ist dies sein wahrhaftigstes, ehrlichstes und bestes Album. Verletzend, irritierend und doch ungemein tiefenberuhigend. Ein kleines, flackerndes Feuer, das ganz langsam das Dunkel der Nacht erhellt. (EB)

von Indie-Gitarren, Folk-Romantik und einem ‚Touch‘ Avantgarde den transatlantischen, sich in alle Richtungen ausbreitenden, nicht weiter verortbaren Ton und hat mit „Running Through Hopes“ ein schlüssiges Debut ohne überflüssigen oder kitschigen Schnörkel vorgelegt, elegant arrangiert und mit höflicher Zurückhaltung. Da verweben sich Gesang und Gitarrenpickings zu einem natürlichem Klangteppich, der den Hörer für die Laufdauer dieser Scheibe in die Abteilunng für Entspannung und Regeneration schickt. Also gerne mehr. Gerne auch mal Pizza oder Pasta mit Ahornsirup. (EB)

Vanessa Paradis war ein Kinderstar, als sie mit 14 ihren ersten großen Hit „Joe le Taxi“ landete. Ein Klassiker. Und bis heute umgibt die schöne und sich rar machende Schauspielerin, Sängerin und Mutter, die mit der Zahnlücke, ein geheimnisvoller Hauch von Unnahrbarkeit und Raffinesse. Jetzt erscheint eine „Best Of“-Scheibe, auf der die mittlerweile 23-jährige Karriere der Sängerin Paradis gebündelt wurde, natürlich nicht ohne diverse unveröffentlichte Songs und Akustikversionen. Aber es gibt Dinge, die mag man oder mag man eben nicht und das trifft wahrscheinlich auch auf diese teils bittersüss gehauchten und gesäuselten Songs zu, die sich zeitlos zwischen Chanson, Pop und Jazz bewegen. Stimmlich weiter vorne bewegt sich natürlich Stacey Kent.

Es gibt Dinge, die mag man oder mag man eben nicht. Man kann sich das ja auch nicht wirklich aussuchen. Frankreich ist so ein Ding. Französisch ist so eine Sprache. Wenn man es mag, glaubt man das hinge damit zusammen es verstanden zu haben. Und ich meine hier nicht den frankophonen Französisch-Lehrer aus Schulzeiten, irgendwo verhaftet zwischen Barett und Baguette. Nein, es geht um das Innenleben einer zarten Seele von Nation, in der sie Frösche fressen und Atolle atomar verseuchen. Aber wenn es nur so einfach wäre.

Die Amerikanerin kam einst nach Europa um Sprachen zu studieren. Deutsch war darunter. Aber auch französisch. Und das wurde so etwas wie Liebe. Anders lässt sich ihr neues Album „Raconte-moi…“ nicht erklären. Songs von Georges Moustaki („Les eaux de Mars“), Henri Salvador („Jardin d’hiver“) und Patrick Bruel („Raconte-mai“) verleiht sie mit ihrer Interpretation eine ganz neue und eigene Eleganz, einen neuen Glanz, und das alles in vornehmer Zurückhaltung. (EB)

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INDIE/ ROCK

The Sounds

„Crossing The Rubicon“ (Snowhite Records/Universal)

aber eben nicht zu dreckig. Da reicht dann schon eine schicke Hookline über flächigen Gitarren, schlierenden Synths und einem begradigten Stampfbeat aus. Demnächst sicher im Radio bzw. in der Indiedisse eures Vertrauens. Im Zuge der bevorstehenden DeutschlandVeröffentlichung des dritten The Sounds Albums namens „Crossing The Rubicon“, konnte ich mit Gitarrist/Keyboarder Jesper ein paar Worte wechseln. Das Album ist bereits seit gut einem halben Jahr ausschließlich über Import erhältlich, was bei der Qualität des Powerpopquartets eigentlich verwundert. Vertriebsprobleme? Labelzoff? Outsourcing? Fragen über Fragen...

So richtig groß geworden ist die die Band um die rattenscharfe Frontfrau Maja nun doch nicht. Bei der ganzen miesen Genrekonkurrenz eigentlich ungerecht; und nach dem Hören der aktuellen Songs fragt man sich erst recht wieso es denn bisher nicht hundertprozentig an vorderster Popfront geklappt hat. Mit Studioalbum Nummer drei dürften die Karten nun aber nochmal neu gemischt werden (um mal endlich wieder eine abgetakelte Redewendung ins Spiel zu bringen). Das vorliegende Album bietet von Anfang an einen Dauerbeschussß an Singalongs und einprägsamen Refrains. O.k. - zugegebenermaßen findet sich ab und an auch etwas zu zeitgemäß zusammen gezimmertes Songwerk neben den echten Ohrwürmern wie „No One Sleeps...“ oder „Dorchester Hotel“ ein. Das nennt sich dann wohl Popkannibalismus mit 1 A Anschauungsmaterial: „Beatbox“ beispielsweise, könnte sich auch gut auf einer Robbie Williams Single B-Seite machen. Aber diese Ausflüge in Richtung Konsensfaschismus & Kompromisssound bleiben dann doch recht überschaubar. Gut so, wenn man bedenkt, dass hier Leute am Werk sind, die in der luxuriösen Lage sind, tatsächliche Hits zu schreiben. So wird das Spiel mit der Erwartungshaltung locker und mit noch etwas Platz „nach oben“ gemeistert. Fazit: „...The Rubicon“ ist ein kurzweiliges Powerpopalbum mit einigen Highlights geworden. Vor allem dann, wenn die Schweden die synthetisierte Joan Jett/Pretenders Schiene fahren („Midnight Sun“). Ihr wisst schon: Rotzig und voller Pathos,

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MUSIK

BLANK: Wieso habt ihr euch eigentlich dazu entschieden, das neue Album auf dem eigenen Label Iimprint zu veröffentlichen? Jesper: Nun, ich bin seit meinem siebzehnten Lebensjahr bei The Sounds und ab einem gewissen Punkt weiß man halt einfach wie das Musikgeschäft läuft. Dann willst du natürlich auch das Maximum aus deiner Situation rausholen. Wir hatten einfach streckenweise das Gefühl, dass wir nicht wirklich „weiter“ kommen. Gerade in einem Land wie Deutschland, saßen wir mehr oder minder fest, weil das Label uns nicht das Engagement entgegenbrachte, das wir gebraucht hätten. Wenn du dich aber dazu entscheidest alles selber zu machen, bist du in der Lage, die fertige Platte am Ende verschiedenen Labels anbieten zu können, ohne Kompromisse im Verlauf der Produktion in Kauf genommen zu haben. Das ist auch eine Sache des Stolzes. BLANK: The Sounds sind ja eine Band, die sich sich einen Namen durch intensives Touren erspielt hat. Wie schaffst du es der Routine des Touralltags zu entkommen und dich abzulenken? Jesper: Hmmm. Manchmal ist das Tourleben einfach ein Riesenspaß, ab und an aber auch einfach nur trist. Je nach Land, Stadt oder Stimmung. Dann halte mich mit Workouts fit und versuche mit Hilfe der Tagesnachrichten einen Bezug zur Welt da draussen beizubehalten. BLANK: Also das alte Spiel Mikro- vs. Makrokosmos? Jesper: Ja, das kann man definitiv so sehen.

BLANK: Ihr wohnt ja inzwischen alle in der südschwedischen Stadt Malmö. Was für eine Art symbiotische Beziehung habt ihr denn zu diesem Ort entwickelt? Gibt es irgendetwas Spezifisches, was diese Stadt auszeichnet und was nur dort möglich ist? Jesper: Malmö ist eine Stadt der Arbeiterklasse. Es wirkt etwas rough aber dort herrscht prinzipiell ein guter Vibe, der sich auch auf unsere Musik niederschlägt. Wir haben unser Studio in der Nähe eines geschäftigen Eisenbahnquartiers, also bekommen wir auch die entsprechende Geräuschkulisse mit. Anfahren, Abfahren, das Gebimmel..., vielleicht könnten wir ja auch mal ein paar Fieldrecordings bei einem Song einbauen. Jedenfalls kennen uns die dortigen Arbeiter schon und man sieht sich und begrüßt sich; und begegnet sich mit dem nötigen Respekt. BLANK: Apropos Respekt. Hast du eine schwedische Lieblingsband, quasi einen All-Time-Favourite? Jesper: Ja. Das wären Kent. BLANK: Und was hörst du aktuell an schwedischen Bands? Jesper: Peter, Björn & John finde ich ganz gut. BLANK: Gab es bei dir einen klassischen Moment der Initiation, bei dem der Wunsch und das Verlangen aufkam bzw. sich verfestigte, mit der Musik deinen Lebensunterhalt zu verdienen? Jesper: Ich hatte seit dem sechsten Lebensjahr Klavierunterricht und das Musizieren hatte in erster Linie einen therapeutischen Zweck. Darauf könnte man es auch heute noch reduzieren. Therapie. Jedenfalls meinte meine Mutter beim Klavierspielen irgendwann zu mir: „Ich höre dir an, wenn du wütend bist und wenn du ausgeglichen bist. Man erkennt es an der Intensität deines Anschlags.“ Das war einer der Momente, an dem das Musizieren bei mir einen Mehrwert erzeugte. Plötzlich gibt es ein Feedback und dann entsteht die Gewissheit, dass man tatsächlich Leute mit der eigenen Musik erreichen kann. Das ist ein wunderbares Gefühl. Die Essenz des Musikmachens. (DV)


Text Julius Wilhelm

Der „Constantin Film“ über den sozialen Aufstieg und das Leben von Rapper Bushido beeindruckt leider hauptsächlich damit, dass er die traurige Realität hinter den Kulissen preisgibt. Behauptet zumindest unser Autor Julius Wilhelm, der für uns die Premiere im Berliner Sony-Center besuchte.

B

ushido und Gefolge kommen natürlich viel zu spät, pünktlich sein ist ja uncool. Dafür muss man sich im Saal auch in der vordersten Reihe nicht umdrehen, um die lautstarke Ankunft der Gleichen mitzubekommen. Der Lärm geht nahtlos über in Beifall, als der Projektor die ersten Bilder auf die Leinwand schmeisst: der vorbeiziehende Mittelstreifen einer Autobahn, die irgendwie an „Lost Highway“ und den ein oder anderen Film erinnert. Gegröle und Gebrüll auch während des Films, wenn die einzelnen „Atzen“ von Bushido auftreten. Und natürlich, wenn im Film Bushido seine Freundin schlägt oder bergeweise Drogen zum Verkauf portioniert. Das wird als heldenhaft dargestellt, falls man an die Zielgruppe, die deutschen Teenies denkt. Eine Geschichte über den Aufstieg, den Erfolg und die Ehre. Das soll dieser Film sein. Doch das Gegenteil zeigt er. Über 90 Minuten kann man sich ansehen, wie weit Leute sinken können. Damit meine ich nicht Bushido oder seine Atzen, damit spreche ich Uli Edel, Bernd Eichinger und deren Atzen an. Wie die in den, im Film ausgesparten, Songtexten besungenen Nutten verkauft man sich hier gänzlich, gibt seine Werte auf für den schnellen Euro, den der bisherige Erfolg des Protagonisten verspricht. Die Zeiten ändern sich, „Letzte Ausfahrt Brooklyn“ oder „Die Kinder vom Bahnhof Zoo“ sind Relikte. Der „Baa-

der-Meinhof-Komplex“ hat es gezeigt, „Zeiten ändern Dich“ hat es bewiesen: Es ist vorbei. Der Anspruch an Inhalt, die Verantwortung eines Geschichtenerzählers dem Publikum gegenüber, die Leidenschaft des Kreativen – abgelöst von Gier und Wahn. Getreu einem Schema wird hemmungslos ausgeschlachtet, was auch immer nach Kassenschlager stinkt. Dafür wird sogar in Kauf genommen, dass man es, wie hier, dem Protagonisten gleich tut und die kommende Generation mit dem Propagieren völlig falscher Werte versaut. Wie soll man einem Kind gute Werte im traditionellen Sinn vermitteln, wenn es vorgelebt bekommt, dass Schlägereien und Drogen cool sind, jedes zweite Wort „ficken“ sein muss und man

dafür dann mit Ruhm, Geld und einem Kinofilm belohnt wird? Die Ehre ist der einzige vertretbare Wert, der sich anstelle der Spannungskurve durch den Film zieht, leider aber immer nur durch Brutalität und MachoGehabe manifestiert werden soll. Kiffen, Schlägern und ein mit 260 km/h über die Autobahn bretternder AMG-Mercedes sollen vom allgemein schlechten Schauspiel und dem steinernen Erzählstil Bushidos ablenken. Die kurzen Auftritte von Uwe Ochsenknecht, Katja Flint oder Tim Morten Uhlenbrock lassen den Zuschauer zwar für einen Moment vergessen, was er sich da gerade anschaut, nur um danach wieder erschrocken festzustellen, dass eigentlich immer noch nicht wirklich etwas spannendes passiert ist. Die klaffenden Löcher in der Dramatik werden mit programmierter, zuweilen auch unfreiwilliger Komik und überzogener Romantik gestopft, um vom Fehlen der Substanz und dabzulenken. Und natürlich um die Eltern zu überzeugen, dass ihre Kinder bedenkenlos in den Film gehen dürfen. Nur gut, dass diese Kinder nicht mitbekommen haben, wie sich die harten Gangster nahtlos in die Schlips- und Lackschuhträger auf der Afterparty eingereiht haben, sonst wäre ihr Weltbild, das sie so aufwendig konstruiertet bekommen haben, vielleicht erschüttert worden und das Ghetto-Image würde die Geschäftsmänner preisgeben, die sich berechnend dahinter versteckt halten. Vielleicht würden dann aber auch Bernd Eichinger oder Uli Edel zu den besseren Filmen zurück finden.

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Mehr Spieler, mehr Spaß, mehr

© 2009 Nintendo. TM, ® and the Wii logo are trademarks of Nintendo. © 2009 Nintendo.


wii.com

Mario in Berlin !

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Um nichts

vorwegzunehmen,

aber…

EINE KOLUMNE von Roman Libbertz Teil 6 Thomas Glavinic

Bücher haben bei vielen meiner Freunde den Ruf, langweilig und einschläfernd zu sein. Umständliche Sätze, endlose Beschreibungen anstatt fesselnder Geschichten. Das muss verflucht noch mal nicht sein! Ein Ansatzpunkt. Durch den Bezug zum Autor oder die Hintergründe, warum dieser oder jener Roman geschrieben wurde, kann Verborgenes sichtbar und ein Buch zu mehr als einem Buch werden. Kinderleicht. Mir geht es jedenfalls so. Hier ein weiterer Versuch, ein Buch für dich lebendig zu machen. Jahre alten Schreibmaschine, für die es kaum noch Farbbänder gibt, getippt hat und dass er nach Daniel Kehlmann, mit dem er befreundet ist, der meistübersetzte Autor der jüngeren österreichischen Generation ist. Was heißt das nun? Keine Ahnung.

An einem verregneten Mittwoch Nachmittag treffe ich den Schriftsteller Thomas Glavinic. Vor unserem Interview war mir bekannt, dass er 37 Jahre alt ist, dass „Das Leben der Wünsche“ seine siebte Romanveröffentlichung ist, die er alle auf einer 30

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KOLUMNE

Macht mir Thomas Glavinic Angst? 15 Uhr. Ein Büro des Hanser Verlages. In einem schwarzen Pulli mit Reißverschluss über dem weißen T-Shirt sitzt er in einem kleineren Verlagszimmer, weil die Fassade gerade restauriert wird, seelenruhig vor mir. Hat er mitbekommen, dass ich ein Fan bin und deswegen meine Hände schwitzig sind? Es scheint ihn nicht zu interessieren und augenscheinlich erwartet er die immer gleichen Antworten, auf die immer gleichen Fragen. Ich tue ihm den Gefallen und er spult ab, dass er von der Idee bis zum ersten getippten Buchstaben eines neuen Romans im Durchschnitt ein Jahr verstreichen lässt, dass er zur immer gleichen Musik von Stereolab schreibt, und dies jeden Tag gleich nach dem Aufstehen, bis er zwei Seiten zusammen hat, ein Umstand, der auf seiner alten Schreibmaschine bis zu 6 Stunden in Anspruch nehmen kann, da sie keine Löschtaste besitzt. Weiter führt er aus, dass er seinen zweiten Roman „Herr Susi“ am liebsten

nie veröffentlich hätte, sein Schreiben sich aus Motiven zusammensetzt, was an der ersten Seite seines vorletzten Buches „Das bin doch ich“ sehr veranschaulicht wird, er dem Leser oberflächliches wie tiefes Lesen ermöglichen will, man von Buch zu Buch besser wird, er immer versucht, einen Erstling zu schreiben, es ihn freut, wenn seine Leser noch Wochen später über ein Motiv des Buches stolpern, er einen Notizblock neben dem Bett hat, sein Stil und Inhalt zu einem Ganzen werden sollen, er sich als Schriftsteller mittlerweile sehr gut kennt und die Struktur eines Romans zu verstehen glaubt. Im Schreiben, so sagt er, geht es ihm um Wahrheit. (Zitat aus seiner gestrigen E-Mail: „Mir geht es beim Schreiben nicht um Wahrheit, sondern um Wahrhaftigkeit das ist ein wichtiger Unterschied.“) Er nippt an einem Kaffee, zitiert Dürrenmatt, verweist auf die Unterschätzung von Bukowskis Kurzgeschichten und verweigert Fragen über sein Privatleben. Ich bin eingeschüchtert. Über sein jüngstes Werk war mir durch oberflächliches Durchlesen bekannt, dass sich die Geschichte um seinen bereits in „Die Arbeit der Nacht“ etablierten Protagonisten Jonas dreht, der, nachdem ein Penner ihm drei Wünsche schenkt, mit der Jackpotantwort „Alle meine Wün-


sche sollen in Erfüllung gehen“ glänzt. Ab diesem Zeitpunkt scheint sich der Mist aus Jonas Unterbewusstsein zu verselbstständigen. (Zitat aus seiner gestrigen E-Mail: „Der Wunschmann ist kein Penner. Er ist einfach unrasiert. Aber er trägt einen Anzug, und er riecht nach Bier. Beides trifft auch auf mich gelegentlich zu, ohne dass ich die Bezeichnung „Penner“ für mich als zutreffend erachtete.“) Macht mir Thomas Glavinic Angst? 20 Uhr. Literaturhaus. Auf der Bühne trägt er ein schwarzes Sakko über dem schwarzen Hemd, unter dem eine Goldkette aufblitzt. Er liest die ersten zwei Kapitel komplett, überspringt das Dritte, liest dann aus dem Vierten. Kein Zweifel er ist ein Vorleser, so gut, wie ich es selten gehört habe. Anschließend beantwortet er die immer gleichen Fragen wie Nachfragen auf das von ihm gedruckte Interview im „Playboy“ mit treffenden Worten und bringt das Publikum zum Lachen. Seine Perfektion schüchtert mich ein. (Zitat aus seiner gestrigen E-Mail: „Ich möchte dringend darauf hinweisen, dass ich keine Goldkettchen trage. Meines ist aus Silber, und ich trage es, weil es mir mein Sohn geschenkt hat.“) Einige der besten Zeilen des Buches: In der warmen Jahreszeit summieren sich die vielen kurzen Blicke in hübsche Gesichter, auf nackte braune Schenkel, auf Bäuche und in Dekolletés, die sich im Laufe des Tages präsentiert hatten, meist zu einem Wunsch nach Entladung und Befreiung, sie kulminieren in der Lust auf einen friedlichen Orgasmus // Allmählich glaube ich, du bist gar nicht wirklich nett, du willst im Gegenteil die Menschen quälen, indem du sie durch wiederholte Zuwendung unter Druck setzt // Jede Frau hatte eine klein wenig andere, eine besondere Art zu lieben, und Jonas war verrückt nach der von Marie. // Antworten auf die Fragen des Lebens, die ihn beschäftigten, hatte er immer schon in der Liebe gesucht. // Ihn erfüllte eine so schmerzhafte, wütende Sehnsucht nach ihr, dass er sich im Schlafzimmer einsperrte, um mit sich und seinem Bild von ihr allein zu sein. // Hinter seiner Stirn knackte es wie unter Wasser. // Wenn ich jemals an den Everest käme, weißt du, was ich sagen würde? Diesem Berg widme ich all meine Berge. // Mit

aller Kraft versuchte er sich im Hier und Jetzt festzuhalten. // Machs gut, sagte er schnell zu Helen. Und schloss in sich die Tür. // Im Wein schwamm eine Mücke. Er fischte sie mit Hilfe der Serviette heraus. Sie lebte noch. Er freute sich. // Einen Zahn zu verlieren ist wie ein kleiner Tod. // Jonas hatte das Gefühl, an sich zu ertrinken. // Er konnte sich geradezu selbst noch spüren, das, was er beim letzten Mal von sich hier gelassen hatte. // Weltausschaltcode, sagte Jonas. Was? Vielleicht gibt es ein Kürzel am Computer, das die ganze Welt ausschaltet. Macht mir Thomas Glavinic Angst? 22 Uhr. Restaurant „Oskar Maria“. Thomas Glavinic hat eine Dame des Hanser Verlages gebeten, mich zum Essen zuzuladen. Er hat das Sakko abgelegt und trinkt denselben Weißwein, der ihm zur Lesung gereicht wurde. Ich entschwinde zum Rauchen nach draußen, obwohl er, der früher bis zu vier Schachteln täglich geraucht hat, mir erklärt, dass Nikotin bei ihm im hohen Maße Nervosität und körperliches Unwohlsein hervorrief. Bereits nach drei Zügen merke ich, dass er Recht hat und bin noch mehr eingeschüchtert. (Zitat aus seiner gestrigen E-Mail: „Ich möchte niemanden einschüchtern. Ich hoffe, dieses Gefühl hat sich bei dir nachhaltig gelegt.“) Obwohl Thomas Glavinic mit jedem Buch das Genre wechselt, ist er auch in seinem neuesten Roman der Sprachvirtuose, der wahnwitzige Geschichten spinnt, die einem auf wunderbar lakonische Weise den Spiegel vorhalten. 24 Uhr. Eine Kurzmitteilung von ihm. „Sind im Schumanns. Kommst du noch nach?“ Bevor ich ihn sehe, renne ich den Machern eines honorigen deutschen Magazins in die Arme. Auch sie haben Glavinic bereits ausgemacht und murmeln hinter vorgehaltener Hand vom „Starautor“. Ich setze mich zu ihm. Er lacht viel, eröffnet, dass er seit Jahren von Tsunamis träumt, erzählt von vergangenen exzessiven Alkoholnächten, dass er sich heute besser im Griff hätte, bestellt einen Gin Tonic, beantwortet meine Frage, ob er glücklich sei, mit einem einfachen „Nein“, und bringt mich zum Grinsen. Meine Schüchternheit ist verflogen. Über den Tag denke ich seinen Humor verstehen zu können,

denke, ihm ein wenig auf die Schliche gekommen zu sein und sehe einen gut gelaunten, herzlichen Menschen vor mir, der in seinen Büchern bewusst alles offen legt und dadurch unangreifbar wie uneinschätzbar wird. Wir stoßen an und er gibt mir ein gutes Gefühl. Ich: „Was wäre deine Henkersmahlzeit?“ Er: „Ich habe mal gelesen, dass jemand darauf „etwas Fertiges“ geantwortet hat.“ 2 Uhr. Johannesstüberl. Er bestellt sich einen Kaffee. Kaffee? „Ja, um besser einzuschlafen.“ Und da ist er mir wieder entwischt. Sein Gesicht verrät, dass er das weiß. Eine halbe Stunde später hält das Taxi an seinem Hotel und wir verabschieden uns. Kurz sehe ich ihm nach und weiß, dass ich diesen Glavinic vermissen werde, auch wenn er das sicher nicht gerne lesen wird. (Zitat aus gestriger E-Mail von Thomas Glavinic: „Den Text finde ich sehr gut gemacht, obwohl ich zuviel gelobt werde. Trotzdem wird es mich freuen, Dich bei meinem nächsten München-Besuch wiederzusehen. Liebe Grüße, Thomas“) Heutige E-Mail von Thomas Glavinic: „Meine E-Mails zitieren? Na von mir aus.“

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Die Hölle Sind Immer die Anderen Text Daniel Vujanic Fotografie & Collage Johannes Finke

Rund 1.300 Seiten umfasst „Under The Dome“ – sorry, aber der deutsche Titel „Die Arena“ klingt einfach nur billig – und ich muß gestehen, dass sich diese weit weniger polymorph monumental oder ausufernd lesen als eben einfach nur sorgsam strukturiert, unterhaltsam und temporeich. Klar, ist ja auch kein neuer Thomas Pynchon, sondern ein neuer Stephen-King-Wälzer.

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evor jetzt die ganzen Literaturmasochisten bei dem Namen King aufschreien und was von altersbedingter Belletristik, inflationären Horrorstories oder literarischer Konfektionsware faseln: Die vorliegende Geschichte ist gut geschrieben, gut recherchiert und auch gut orchestriert. Da kann man ruhig mal die angehäuften Ressentiments gegen den Vielschreiber aus Maine unter den Tisch fallen lassen. Der letzte King-Roman, den ich regelrecht verschlungen habe, war vor knapp zwei Dekaden „Shining“. Ist zwar schon eine ganze Weile her, aber die Erinnerung daran ist bei weitem noch nicht verblasst: Ein toller Genre-Klassiker, der durch den cinematographischen Ritterschlag von Stanley Kubrick noch zusätzlich geadelt worden ist, und ich muss sagen: „Under The Dome“ besticht durch eben dieselbe King´sche psychologische Intensität und den alles verzehrenden apokalyptischen Fatalismus, der auch „Shining“ zu einem großartigen Biest werden ließ. Es ist die nicht enden wollende Bösartigkeit und Bigotterie einer von der Außenwelt abgeschnittenen Kleinstadt mit rund 2.000 Einwohnern, die hier so sorgfältig über die zahlreichen Seiten aufgefächert wird, wie ein satanischer Pfauenschwanz, dass man schlicht und einfach genötigt wird, völlig gefesselt weiter zu lesen. Die Handlung ist so simpel wie auch schnell erzählt. Eines schönen Oktobertages fällt eine transparente, aber undurchdringliche Kuppel auf ein Provinznest namens Chester´s Mill. Das

ist es eigentlich auch schon. Die folgenden sieben Tage werden für die Einheimischen und den Fremden/bzw. den Helden Dale „Barbie“ Barbara zu einem Desaster, wie es die Welt noch nicht erlebt hat. Quasi mit Halloween als Tag des jüngsten Gerichts. Die Barriere lässt sich durch nichts beseitigen. Rein gar nichts. Sprengköpfe, Flugzeuge und Gewehrkugeln zerschellen an dieser glasähnlichen Gouillotine (das erste Kapitel ist einfach wunderbar!), chemische Wunderwaffen bleiben wirkungslos. Kurz: Amerika ist ratlos, alle Anstrengungen trudeln gegen eine „unmenschliche“ Barriere, deren Herkunft bis zum Ende Fragen aufwirft.

Eine Art von pervertiertem Schach mit menschlichen Figuren und dem unvermeidbaren Bauernopfer ist die Folge. Die Täuschungen werden sorgfältig inszeniert, Bewohner instrumentalisiert und geblendet. Das „Aus-Dem-Weg-Räumen“ von unliebsamen Kritikern und ernsthaften Konkurrenten des fetten, aber befremdlich wieselartigen Gebrauchtwagenhändlers/ Demagogen Rennie fällt unter den neuen Lebensumständen geradezu leicht. Wohlgenährt durch einen monströsen Jesuskomplex, fortschreitende Herzprobleme, seinen mörderischen, todkranken Sohn Junior und die nicht zu unterschätzende menschliche Fähigkeit, Zwietracht zu säen

Wenn das Entsprechen von Makro- und Mikrokosmos eigentlich so etwas wie das Konzentrat eines alchemistischen Glaubenssatzes ist, könnte man dem Roman sogar eine sorgsam komponierte Metaphysik zusprechen. Wer jetzt an die US-amerikanische Innen-/Außenpolitik der letzten Dekaden denkt, wird mit fortschreitender Lesedauer immer weiter in das alte Spiel mit den Analogien gezogen. Und das ist durchaus legitim. Was die protofaschistische „Gang“ um den Stadtverordneten „Big“ Jim Rennie (der die Kuppel als Chance, ja sogar als gottgegebenes Zeichen für seinen eigenen Machthunger deutet!) abzieht ist ebenso skrupellos wie menschenverachtend, ebenso heuchlerisch wie geisteskrank. Ganz nach dem bekannten Post-9/11-Motto: „Wer nicht mit uns ist, ist gegen uns“.

wie andere Leute Weizen, ist der selbsternannte Stadtvater nicht mehr bereit, die blutigen Zügel aus der Hand zu geben. Seine Bibelzitate sprechen eine qualvoll deutliche Sprache. Rechtschaffenheit auf den Fahnen und den Teufel im Nacken. Mit seinem Wolfsrudel aus ahnungslosen Handlangern und tumben Lakaien choreographiert er die Geschehnisse der Gemeinde bis ins Tausendstel. Zudem mutiert das Klima in diesem geschlossenen System mit den immer knapper werdenden Ressourcen tagtäglich, und

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filtert buchstäblich den Blick ihrer Einwohner auf die Außenwelt. Die Natur deliriert: Kühe geben keine Milch mehr, Tiere stürzen sich in den Tod und bei den Menschen und ihren Kindern stehen epileptische Visionen, prophetische Halluzinationen und Selbstmord an der Tagesordnung. Sterne erscheinen hier durch Feinstaub und akute Luftverschmutzung rosa, ein milchiger Sonnenuntergang wird zum Omen, die Stelle des Sprengkopfeinschlags ist geschwärzt wie ein in der Luft hängender, gigantischer Rußfleck. Das alles verstärkt die Geschehnisse unter der Kuppel wie ein riesiges Brennglas. Dem Leser kommen unweigerlich humanoide Ameisen in den Sinn, der launischen Faszination eines spielenden, gottgleichen Kindes ausgeliefert. Wenn das Entsprechen von Makround Mikrokosmos eigentlich so etwas wie das Konzentrat eines alchemistischen Glaubenssatzes ist, könnte man dem Roman sogar eine sorgsam komponierte Metaphysik zusprechen. An der scheint King dann aber gar nicht interessiert zu sein. Die wenigen Stellen, die eine gewisse Phänomenologie atmen, wirken unbeholfen und vage, um nicht zu sagen kindisch, was aber unterhaltsamerweise dem Roman am Ende dann doch noch zugute kommt. Kinder als Segen und als Fluch bzw. als Chance und als Verderben. Ein Zoom in die Ewigkeit. Das ist tatsächlich mal gelungene Unterhaltung. Zugegebenermaßen wirken einige Figuren mitunter seltsam flach, etwas hölzern und arg schwarz/weiß gemalt (Barbies Falludscha-Trauma, der hyperkorrekte Chief Perkins, Sammy Bushey – die kiffende Trailerpark Jungmutter, Julia Shumway – die gewissenhafte Nachrichtentussi, etc.), der Handlung als solcher tut das aber keinen Abbruch. Genaugenommen wird sie durch die gewöhnlichen Kleinstadtstereotypen sogar noch beschleunigt. Man hält sich nicht mit einzelnen Personen auf, der eigentliche Star ist ohnehin die mysteriöse Kuppel. Die Kriterienpaare Richtig/Falsch, Gut/Böse oder Jung/Alt reichen unter diesen neuen ästhetischen und biologischen Parametern völlig aus, um glaubhaft das barbarische Sozialgeflecht der Stadt und dessen tagtäglicher darwinistischer Neuanpassung an diese höchst surreale Situation nach dem „D-Day“ zu schildern. Der menschliche „Inhalt“ des Domes dient hierbei nur als Brennstoff. Als menschlicher Brennstoff. Wie wahr.

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LITERATUR

PRINT

Hölle gesellschaftlicher Verdichtungen auf unterster Ebene. Aus Gary, dem Vollpfosten auf dem Golfplatz, wird so etwas wie ein mit Schimpfwörtern um sich schmeißender Golf-Gott, der es tatsächlich schafft, sich für ein ProTurnier zu qualifizieren. Was in diesem Beziehungs- und Gangster-Drama, in dem es eigentlich nur ums Golfen geht, noch passiert, muss man sich schon selbst erschließen.Wer Golfen mag sollte dieses Buch unbedingt lesen, denn hier werden Welten verspiegelbildlicht, die man sich als Golfspieler niemals eingestehen könnte. Wer Golfen jedoch nicht mag, der sollte dieses Buch erst recht lesen, denn auch Schadenfreude macht glücklich. Dieses Buch ist, wie wir Hipster heutzutage sagen, großes Tennis. (EB)

Coma

John Niven (Heyne Hardcore)

Bei den wilden Kerlen Dave Eggers (Kiepenheuer & Witsch)

Er ist Nilz Bokelbergs Lieblingsschriftsteller. Ohne Zweifel zählt der 1971 geborene Dave Eggers zu den besten amerikanischen Schriftstellern seiner Generation. Im Jahre 2003 beteiligte er sich auf Anregung von Regisseur Spike Jonze am Abfassen eines Drehbuches, das auf den Kinderbuchklassiker “Wo die wilden Kerle wohnen“ basiert. 2008 werden die beiden fertig. 2009 kommt der Film in die Kinos. Wo die wilden Kerle wohnen ist somit mehr oder minder das Buch zum Film.

Dieses Buch ist Krimi, Märchen und Ratgeber in einem, auch wenn es letztendlich und eigentlich ausschließlich nur ums Golfen geht. Natürlich passt dieser Sport für Gentlemänner und Pseudohipster weder zu wild-artikulierten Obszönitäten und Dauererektionen, noch zu Gangstern, Mord und Totschlag. Doch Niven schafft es fast schon spielerisch zu zeigen, wie nah man dem Elend und der Erniedrigung manchmal sein kann und schickt seinen Protagonisten Gary durch Himmel und

Einige der besten Zeilen: Max war enttäuscht von ihr. Mädchen waren solche Mädchen. // Sein Herz hatte sich anscheinend gespalten, war nach Norden gewandert und schlug ihm jetzt in beiden Ohren. // Hin und wieder hatte Max das Gefühl, dass sich seine Gedanken ordnen ließen, dass sie in einer Reihe aufgestellt und gezählt und dazu gebracht werden konnten, sich gut zu benehmen… Aber es gab andere Zeiten, andere Tage, eigentlich die meisten Tage, da reihten sich seine Gedanken nicht hintereinander auf. Tage, an denen er verschiedenen Erinnerungen und Launen hinterherjagte, während sie von ihm wegsprangen und Haken schlugen, sich im Dickicht sei-


nes Kopfes versteckten. // Langes Schweigen trat ein. Max fragte sich, ob er sagen sollte, dass es ihm leid tat, denn das tat es. Aber er konnte die Worte Es tut mir leid nicht finden. Ihm fielen nur solche Worte ein wie Ich will unter meinem Bett leben und Bitte nimm mich zurück und Hilfe. // Es war ein stiller Abend und er wollte ihn mit seiner eigenen Stimme aufschlitzen. // Der Bulle trug Max durch den Wald, während alle jauchzten und tanzten, und zwar auf eine ausgesprochen unschöne – Sabber und Schleim sprühten in alle Richtungen – aber auch festliche Art. // Überall lagen Trümmer herum, wie eine Landschaft nach einem Erdbeben, und Max fühlte sich ganz wie zuhause. // Wieder griff Max in den dunklen Samt seines Gehirns und fand etwas. War es ein Juwel? Er wusste es nicht genau. // Wir wollen was, wir wollen. Wir wollen alles, was wir wollen. // Die Stille war tiefgreifend. Max Untertanen waren so unterwältigt, dass sie sich jedes Wort sparen konnten. // Wenn er aus seiner eigenen Haut herausgekonnt hätte, er hätte nicht gezögert.

Und die Nilpferde kochten in ihren Becken

Eggers hat wunderbares vollbracht. Er hat einem Kultkinderbuch nicht nur neues Leben eingehaucht, nein, er haucht den wilden Kerlen die Leben ein, die sie seit Jahrzehnten verdient haben und zollt dem Original nebenbei mehr als Respekt. Das Buch ist nicht nur an einigen Stellen anders, nein, es ist einfach besser als der Film. (RL)

Es ist 1944. In Europa tobt der Krieg. Auschwitz ist auf dem Höhepunkt seiner Effizienz. Und in New York sitzen die zukünftigen Legenden der Beatliteratur, schauen französische Filme mit Jean Gabin und träumen von Paris. Doch dann geschieht ein Mord: der 19-jährige Lucien Carr ersticht den vierzehn Jahre älteren David Kammerer im Schwulentreff Riverside Park. Danach schmeißt er den zu diesem Zeitpunkt noch lebenden, aber bewußtlosen Kammerer gefesselt und mit Steinen beschwert in den Hudson River. Am nächsten Tag stellt er sich der Polizei, wird zu zehn Jahren verurteilt und nach zwei Jahren entlassen. Kerouac, damals 22, und Burroughs, damals 30 Jahre alt, schreiben daraufhin, sich in den Kapiteln und den Perspektiven abwechselnd, „Und die Nilpferde kochten in ihren Becken“. Den Umständen geschuldet erscheint dieses Buch erst 2008 in den USA und jetzt auch in deutscher Übersetzung. Doch besser spät als nie, denn dieses Buch zeigt das schriftstellerische Talent der zwei Autoren und bietet einen detailierten Einblick in das New York der 40-er Jahre. Erst knapp zehn Jahre später sollten Kerouac mit „On The Road“ und Burroughs mit „Naked Lunch“ die Werke schreiben, die nicht nur die eigene Generation entscheidend prägten, sondern auch Nachkommende. (EB)

Zadie Smith (Kiepenheuer & Witsch)

„Bitte entwickelt einen Charakter und packt ihn in eine Kurzgeschichte!“ bat die Jamaikanerin Zadie Smith („Zähne zeigen“) und Edwidge Danticat, Dave Eggers, Jonathan Safran Foer, Andrew Sean Greer, Aleksandar Hemon, A.M. Homes, Nick Hornby mit Posy Simmonds, Heidi Julavitz, Miranda July, A.L. Kennedy, Hari Kunzru, Jonathan Lethem, Toby Litt, David Mitchell, Andrew O‘Hagan, ZZ Packer, George Saunders, Zadie Smith, Adam Thirwell, Colm Tóibín oder Vendela Vida haben es getan. Abwechslungsreich, spannend und interessant. Der Erlös des Buches wird an Dave Eggers‘ Lese- und Schreibschule „826 New York“ gespendet. (RL)

Kristof Magnusson

DAS WAR ICH NICHT »Es ist der Ton, es sind die Dialoge, die den Charme seiner Bücher ausmachen, einen Charme, der von Witz und Schlagfertigkeit lebt, aber auch von einer ganz unsentimentalen, unterschwelligen Zärtlichkeit.« Tilman Krause, Die Welt

Foto: Thomas Dashuber

Das Buch der Anderen

Jack Kerouac, William S. Burroughs (Verlag Nagel & Kimche)

288 Seiten, gebunden, 19,90 Euro ISBN 978-3-88897-582-0 Kristof Magnusson im Netz: Kristofmagnusson.de Facebook.com/kristof.magnusson

verlag antje

BLANK kunstmann www.kunstmann.de

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Extrem laut und unglaublich nah Jonathan Safran Foer (Kiepenheuer & Witsch)

Seit seinem Weltbestseller „Alles ist erleuchtet“ gilt der 1977 geborene Jonathan Safran Foer als Wunderkind der amerikanischen Literaturszene. Im Jahre 2005 erschien sein zweites Werk in Deutschland. Der neunjährige Protagonist Oskar Schell findet in den Hinterlassenschaften seines Vaters in einem mit dem Wort „Black“ beschrifteten Kuvert einen Schlüssel, woraufhin er sich in ganz New York auf die Suche nach dem passenden Schloss macht. Einige der besten Zeilen: Wie auch immer – faszinierend fand ich, dass laut National Geographic die Zahl der heute lebenden Menschen die Zahl all derer übertrifft, die im Laufe der Menschengeschichte gestorben sind. // Wenn Limousinen superlang wären, bräuchten sie überhaupt keinen Fahrer. Man könnte einfach hinten einsteigen, durch die Limousine gehen und vorne aussteigen, und dann wäre man am Ziel. // Mein Lieblingsbuch ist Eine kurze Geschichte der Zeit, das ich allerdings noch nicht durch habe, weil die Berechnungen darin unglaublich schwierig sind und Mom mir dabei keine große Hilfe ist. // Ich schüttelte die ganze Zeit mein Tamburin, weil ich auf diese Weise nicht vergaß, dass ich immer noch ich selbst war, obwohl ich durch einen fremden Stadtteil ging. // Sie sah aus als hätte sie geweint, obwohl das nicht sein konnte, denn sie hatte mir einmal erzählt, dass sie ihren Vorrat an Tränen verbraucht habe, als Opa gegangen war. // „Wir sind etwas oder?“ Doch im Innersten meines Herzens wusste ich die Wahrheit. // Wir hörten auf zu lachen, ich nahm die Welt in mich auf, ordnete sie neu und sandte sie als Frage wieder aus: „Magst du mich?“ // Furchtbar, dass wir leben müssen, aber tragisch, dass wir nur ein Leben haben, denn wenn ich zwei Leben gehabt hätte, hätte ich eins davon mit ihr verbracht. // „Ich muss nicht fair sein! Ich bin dein Sohn!“ // Schüchternheit bedeutet, den Blick von etwas abzuwenden, das man haben will. Scham bedeutet, den Blick von etwas abzuwenden, das man nicht haben will. // Ich habe etwas verloren, das ich nie gehabt habe. Oskar Schell ist eine Art Holden Caulfield, oder auch vergleichbar mit Oskar Matze-

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PRINT

rath, aber abgedrehter, neuzeitlicher, trauriger und witziger. „Extrem laut und unglaublich nah“ ist eine Offenbarung, weil Foer offenbar seine literarischen Grenzen abstecken wollte, jedoch an keine gestoßen ist. Ein melancholischer, lakonischer Riesenspaß. (RL)

Axolotl Roadkill

Helene Hegemann (Ullstein)

Strobo

Airen (SuKulTur) „Erstmal ist wenig los, ich talke so Rainald-Goetz-mäßig mit einer Jurorin des Leipziger Bookerpreises, die den Mifti-Ghost auf die Short-List gedrückt hat. Die Jurorin nippt vergifteten Weißwein, ihr Mann guckt, als könnte er Ritalin gebrauchen, die anderen schlabbern Flaschenbier, klebrige Beats flashen aus den Boxen.“ Zumindest Gustav Seibt hatte in Folge dieser quer durch alle medialen Kommunikationswege und persönlicher Befindlichkeiten inszenierten Groteske seinen Spaß. Ansonsten: In beiden Büchern geht es vielleicht um hyperreale, durch Rohypnol etwas schlecht aufgelöste Vaselintitten, aber um was es sonst geht, kann beim besten Willen keiner sagen. Sei froh, wenn diese Bücher nichts mit deinem Leben zu tun haben. (EB)

Propaganda durch Fakten!

. Die linke Wochenzeitung. Am Kiosk und im Netz: jungle-world.com


SINGEND DURCH

DIE DEUTSCHE POPGESCHICHTE –

EIN PLÄDOYER FÜR DIE WOHNZIMMERBÜHNE Text ELMAR BRACHT Fotografie SVENJA ECKERT

Was vor zehn Jahren noch etwas exotisch wirkte und für die meisten einfach eine asiatische Version des Sau-Raus-Lassens darstellte, hat spätestens seit der Veröffentlichung von PlayStations Partykracher SingStar im Jahre 2004 auch Einzug in deutsche Wohnzimmer gehalten und hat sich zum festen Bestandteil von Pop- und Partykultur gemausert.

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„Singen ist eine edle Kunst und Übung“, sagte schon Martin Luther. Mit SingStar hätte auch der Reformator seine helle Freude gehabt, denn dieses Spiel bringt Leute zusammen und lässt sie gemeinsam erleben. Ist das Eis dann erstmal gebrochen, sind es zumeist die Klemmer, die komplett durchdrehen, gar nicht genug bekommen können, um jeden Song kämpfen, sich ans Mikrofon klammern und am Ende auf den Tischen tanzen. Diese Reaktion kennt man auch vom Karneval, Oktoberfest und Motto-Partys. Und auch bei dem Phänomen SingStar verhält es sich nicht anders. Hier geht es nicht um Peinlichkeiten, hier geht es ausschließlich um Spaß. Und so ist Sing-

Star nicht nur Vorbereitungsmöglichkeit für Pop- und Superstars-Castings aller Art, sondern auch Hemmungsnehmer für verstaubte Partyzirkel. Auch wenn es letztendlich nicht ums Gewinnen geht, denn das kann man bei SingStar im Vergleich zum herkömmlichen Karaoke, ist dies ein Wettbewerb, in dem es um das Gemeinsame und das Gesellige geht und nicht um Bewertungswahn und Pseudokarriere. Gemeinsam singen und lachen. So einfach kann das manchmal sein. Und während man sich z.B. beim Oktoberfest dem vorgegebenen Bühnenprogramm überantworten muss, hat man bei SingStar eine große Auswahl an über 30 verschiedenen Compilations und über 1.000 Songs aus dem SingStore – von der Apres-Ski-, zur Summer-, zur

cody love (21), musiker liebt „you can´t stop me“ von den guano apes und die sterne mit „was hat dich bloSS so ruiniert“ www.myspace.com/snbrocks

Jeannette franz (27), musikerin singt „girl you know it´s true“ von milli vanilli, liebt nina hagens „du hast den farbfilm vergessen“ und nenas „99 luftballons“ www.stullenheimer.de


Turkish-Party, über Best-Of-Disney und Boybands vs. Girlbands, bis hinzu SingStar Abba, SingStar Chartbreaker, Queen oder Die Toten Hosen. Jetzt gibt es mit SingStar „Made In Germany“ dreißig neue Songs, die allesamt in Deutschland produziert wurden. Von Sarah Conner bis Milli Vanilli, von Karat bis Boney M. Und auch hier hat man ein Potpourri zusammengestellt, das das Eis auf jeder Party zum Schmelzen bringt: von Wolfgang Petrys Gassenhauser „Bronze, Silber und Gold“ (hier sogar in einer LiveVersion, die Stadionatmosphäre schnuppern lässt), den jeweils ersten Hits der Fantastischen Vier und der Prinzen („Die Da!“ und „Millionär“), dem aktuellen

Emo-Überflieger Eisblume, den Einheitsrockern von den Scorpions, One-Hit-Wondern wie Lucilectrics „Mädchen“, aber auch Indierock von Tomte („Ich sang die ganze Zeit von Dir“). Diese Hits sorgen dafür, dass sich alle Partygäste und Familienmitglieder, Generationen- und Szeneübergreifend, jung und alt, dem Singspaß hingeben können. Auch der Coverboy unserer letzten Ausgabe, Max Herre, ist übrigens im Duett mit seiner Ex-Frau Joy Denalane und dem Song „Erste Liebe“ mit dabei. Und um das bestehende Songmaterial zu testen und um festzustellen, wie man diese Reihe „Made in Germany“ vielleicht weiterführen könnte, haben wir ein paar Sing-, Spiel- und Staraffine Menschen zum lustigen Miteinander gebeten.

daniel geiger (29), streetart-artist liebt „gut dabei“ von deichkind www.mongomania.com

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alex manz (27), fotograf liebt „hier kommt alex“ von den toten hosen www.myspace.com/a.nalog

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stephie geyer (27), party-veranstalterin singt boney m. „ma baker“, liebt „rhythm is a dancer“ von snap www.wirnennenesparty.de

max matthäus (29), schafft arbeitsplätze liebt „elektrofikkke“ von frittenbude

christoph szeteli (25), musiker singt wolfgang petrys „bronze, silber und gold“, liebt bonaparte mit „too much“ und alles von peter maffay! www.jollyjaplin.de

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Heavy Rain GroSSes Kino

auf Playstation 3 Hatten Sie nicht auch schon mal das Bedürfnis, einen Film umzuschreiben, da Ihnen das Ende nicht gefällt? Mit „Heavy Rain“, dem neuen Spiel von Entwickler David Cage, ist das jetzt möglich.

S

eit Wochen regnet es und ein Serienmörder treibt sein Unwesen. Er entführt Kinder und hinterlässt am Tatort stets eine OrigamiFigur. Mit den Spielcharakteren Nathan Mars, Vater des jüngsten Entführungsopfers, der Journalistin Madison Page, FBI-Profiler Norman Jayden und dem Privatdetektiv Scott Shelby, macht sich der Spieler auf die Suche nach dem Origami-Killer und muss dabei Entscheidungen treffen, die tatsächlich emotional berühren und deren Tragweiten nie absehbar sind. Dabei verwischen die Grenzen zwischen Game und Spielfilm und die Story zieht den Spieler in ihren Bann. Wie nahe Spielfilm und Game zusammenkommen, wurde beim internationen Launch-Event in Paris deutlich. Vor Ort war unter anderem der bekannte USamerikanische Regisseur Terry Gilliam, Entwickler David Cage und natürlich die Schauspieler, die ihr Gesicht den Charakteren aus dem Spiel geliehen haben: Jacqui Ainsley, Leon Ockenden, Sam Douglas und Pascal Langdale.

Mit „Heavy Rain“ hat Entwickler David Cage sein Ziel erreicht, ein interaktives Drama zu kreieren, bei dem man zugleich Spieler und Regisseur ist. Wie die Geschichte ausgeht, und ob es ein Happy End gibt, hat jeder selbst in der Hand. Bis zum Abspann erlebt der Spieler die wohl emotionalste Achterbahnfahrt der Videospielgeschichte.

VERLOSUNG Wir verlosen 3 Exemplare von „Heavy Rain“ (Exklusiv für die PS 3). Einfach bis zum 09.04. eine Mail mit dem Betreff „Heavy Rain“ an verlosung@blank-magazin.de. Der Rechtsweg ist natürlich ausgeschlossen. Alle Infos zu „Heavy Rain“ gibt es unter www.heavyrainps3.com.

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HOME ENTERTAINMENT


DIE KOLUMNE VON NILZ BOKELBERG

Das hier soll mein erster Text werden, den ich mit dem sogenannten „Ommwriter“ schreibe. Ein Textprogramm für den Mac, das ich erst vor kurzem entdeckt habe, weil jemand auf seiner Facebookwall darauf hingewiesen hat. Das Besondere an diesem Textprogramm ist die Reduzierung auf einen Hauch von nichts. Ich hab keine 5000 klickbaren Möglichkeiten, sondern ein ganz weißes Bild als Hintergrund, mit zwei Bäumen im Schnee/Nebel und dazu gibt es eine Art Ambient-Musikuntermalung, die nicht ablenkt, sondern noch mehr beim Fokussieren helfen soll. Sobald ich die Maus bewege, erscheint um den Text herum ein eher rudimentäres Menü, in dem ich aus drei Fonts, einigen anderen Hintergründen und weiteren Audiotracks auswählen kann. Das ist alles. Und das lustigste daran ist eigentlich: Es scheint, als hätte man auf so was nur gewartet. Mit der Konzentration ist das ja so eine Sache heutzutage: Überall wird sie verlangt und erwartet. Und je mehr Wert drauf gelegt wird, desto irrsinniger erscheint es mir. Also, nicht dass ich jetzt irgendwie Opfer einer späten Diagnose der Fantasy-Krankheit ADS werde,

so ist es nicht. Es fällt mir unter gegebenen Umständen nicht schwer, mich zu konzentrieren. Aber ich finde, man muss damit haushalten, weil jeder Scheiß nach Aufmerksamkeit schreit. Plakate mit Bluetoothgedöns, Fernsehshows mit Twitter-Account, Bands mit Kostümen und Spektakel. Das kann und will ich mir nicht alles gleichzeitig antun. Andererseits gibt es genug Momente, in denen ich mich freiwillig, vielleicht sogar sehr gewollt und forciert einem Medienoverkill aussetze. Zum Beispiel wenn ich am Computer arbeite (oder eben nicht arbeite) und dazu auf dem Fernseher die DVD der Alf-Staffel laufen lasse, meine Konsole angelassen habe und das Spiel bloß auf Pause gestellt hatte, woran mich das blinkende Licht auf dem Controller mahnend erinnert, das Handheld liegt zugeklappt neben mir auf dem Nachttisch, mein Handy signalisiert Empfangsbereitschaft und der Stapel Comics neben mir liest sich auch nicht von alleine. Das ist schon eine Menge Information, die man da zu managen hat. Ich weiß nicht, ob das den meisten so geht, oder ob das ein Problem von mir ist. Was ich aber weiß, ist, wer daran schuld ist: Frank Elstner.

Moment mal, DER Frank Elstner? Ja und ja und nochmals ja. Meines Erachtens war Elstner der Erste, der uns Zuschauern so etwas wie crossmediales Multitasking abverlangt hat. Der Erfolg hat ihm zwar in dem speziellen Fall leider nicht Recht gegeben, aber wer erinnert sich nicht noch an „Nase vorn“, auch wenn es ein Flop war? Da musste man doch die ganze Sendung über achtsam sein, weil man an gewissen Stellen irgendwas auf der speziellen „Nase Vorn“-Rubbelkarte (die es, wenn ich mich recht entsinne, nur in der „Hör ZU“ gab) freirubbeln musste. Und daraus sollte sich dann wohl eine Telefonnummer ergeben, die man dann anzurufen hatte, wenn sie komplett war und schon hatte man gewonnen. Oder werfe ich das gerade mit irgendwas anderem durcheinander? Überhaupt: Ich kann mich an gewagte Fernsehexperimente aus meiner Jugendzeit erinnern, die dann immer weniger wurden und weniger und weniger. Nehmen wir mal „Verstehen Sie Spaß?“. Die hatten ja als Maskottchen damals den „Spaßvogel“, ein Cartoonhuhn, das so ein bisschen gewollt ulkig aussah. Vom Spaßvogel gab es später auch Hörspiel-

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kassetten, eine hatte ich und die hatte ein wirklich bescheuertes Titellied, das ging: „Knapper, knapper, schubidubidapper, schubduwah und Gänseklein. Knapper, knapper, schubidubidapper – ein bisschen Stretch muss sein.“ Ein bisschen „Stretch“? Das sollte „Stress“ im komischen Spaßvogeldialekt bedeuten. Das alleine war schon sehr seltsam, aber dann noch die eigentliche Aussage, dass ein bisschen Stress sein müsse... Das hab ich schon als Kind nicht kapiert und das verstehe ich heute, rückblickend, auch immer noch nicht. Warum, bitte schön, muss Stress, und wenn es auch nur ein bisschen ist, sein? Und warum sagt das ausgerechnet der SPASSvogel? Das hat irgendwie nicht zusammengepasst. Was ich damals für seltsame Hörspiele hatte. Ich hatte zwei Platten von Yps, die waren schon komisch erzählt, aber die Platte namens „Mopsi Mops“ toppte wirklich alles: Es ging darum, dass in einer Welt, in der alle Hunde sind, ein verrückt-genialer Wissenschaftler eine Strahlenpistole erfunden hat, die diejenigen, die man damit beschoss, einmal komplett umkrempelte. Literally. Das heißt alle Gedärme und so was kamen nach außen und Haare und der ganze Kladderadatsch gingen nach innen. Wohlgemerkt: Es handelte sich hierbei um ein lustiges Kinderhörspiel! Da gab es diese Szene mit dieser Opernsängerin, die immer alle genervt hat mit ihrem Gesang und die wurde dann beschossen und das Singen ging über in ein Gurgeln, begleitet von so Matschgeräuschen. Das werd ich nie vergessen. Nun, ich fand das ehrlich gesagt auch nicht besonders gruselig (obwohl ich immer ein ängstliches Kind war), aber wirklich lustig fand ich es auch nicht. Ich habe dem immer zugehört mit einer gewissen Faszination. Vermutlich war das der Grundstein dafür, dass ich mir auch heute noch mit der gleichen Art von Faszination schlechte Fernsehsendungen angucke. Es gab aber natürlich auch positive Beispiele merkwürdiger Hörspiele, wie zum Beispiel die beiden von Henning Venske: „Als die Autos rückwärts fuhren“ und „Krawumm“. In ersterem geht es um einen Jungen, der auf den Namen „Lass das Pinöckel Superstar“ hört (und der denkt, dass „Lass das“ sein Name sei, weil ihm seine Eltern das schon von Klein auf immer gesagt haben), wohinge-

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KOLUMNE

gen das andere eher so eine Art Collage ist, mit kurzen Sketchen, in denen zum Beispiel die Kinder das sagen, was die Eltern immer sagen und umgekehrt und dazwischen kommen immer Lieder. Einer der Songs, der von den Eltern gesungen wird, geht beispielsweise so: „Arbeit verrichten. Wir leisten uns nichts... Und du? Und du? Und DUUUHUUU? Unser Sohn liegt faul auf dem Sofa... Grins nicht, dummer Bengel, was hast du dir dabei gedacht? Du bist alles andere, als ein Sohn der Freude macht.“ Das atmet natürlich den Hauch des rebellischen, der anti-autoritären Kinderläden, des Kampfes der Kinder gegen das Establishment. Die Platte ist ja auch damals beim Label „Pläne“ erschienen, die sonst hauptsächlich Hannes Wader, Degenhardt und wie sie alle heißen, veröffentlichten, der Eindruck ist also nicht ganz verkehrt. Abgesehen davon, dass Wader selbst auch noch ein Lied zu „Krawumm“ beigesteuert hat, das „Ich hab keine Lust“ heißt und aus lauter „Zwangsreimen“ besteht. Ein Beispiel: „Ich hab keine Lust, ich hab keine Lust ich hab wirklich keine Lust… Steig ich morgens aus der Falle, geht’s gleich los mit voller Palle. Du musst dir noch das Hälschen waschen, Gesund ist’s, einmal kalt zu daschen. Wie kannst du hier so ruhig sitzen? Du musst dir noch die Zähne pitzen...“ Und so weiter. Das war wirklich eine super Anti-Platte für Kinder. Ich hab mir die mit meinem besten Freund immer aus der Stadtbibliothek geliehen und wir haben die rauf und runter gehört. Ein großartiges Werk. Kann ich noch heute fast auswendig mitsprechen. Was daran noch so cool war: Wenn wir eine Familientour im Auto gemacht haben, hab ich die Kassette irgendwann eingelegt und auch meine älteren Geschwister fanden die lustig. Das war ein nicht zu unterschätzender Bonus, war meine Familie doch sonst eher genervt, wenn ich wieder „Benjamin Blümchen trifft Bibi Blocksberg“ übers Autoradio hören wollte. (Was im übri-

gen dazu führte, dass sie mir sehr früh einen eigenen Walkman zu Weihnachten schenkten… mit Auto-Reverse!) Aber, oh, ich bin ein bisschen vom Thema abgekommen. Also der Spaßvogel: Bei „Verstehen Sie Spaß?“ war das Zuschauerspiel dann nämlich so, dass immer gesagt wurde: „Nun fährt ein Auto mit dem Spaßvogel auf dem Dach irgendwo durch Deutschland und wenn Sie das sehen, dann rufen Sie die Nummer an, die auf dem Auto steht und dann werden Sie zu uns in den Saal durchgestellt und haben etwas gewonnen!“ Nun waren mir als Kind einige Dinge schon klar und dennoch: Ich habe mir immer vorgestellt, dass da der animierte Vogel auf dem Auto sitzt, auch wenn ich mir nicht so richtig erklären konnte, wie das gehen soll. Das Auto wurde nämlich nie gezeigt. Und so sprang ich immer auf und rannte zu unserer Haustür und hielt Ausschau. In einer Siedlung in der Nähe von Köln. Klar. Da fährt das Auto ja auch nachts durch die unbelebten Straßen. Egal, ich habe die Hoffnung trotzdem nicht aufgegeben, dass es irgendwann einmal vorbei kommt. Was es, natürlich, nie tat. Ich kann mich auch noch daran erinnern, dass es ein einziges Mal einen Krimi gab, der gleichzeitig auf ARD und ZDF lief, der aber zwei verschiedene Hauptcharaktere hatte. Man konnte aber, wenn die sich trafen, hin und her schalten und sah dann das Geschehen aus der jeweils anderen Perspektive. Wahnsinn! Warum wurde das nicht öfter gemacht? Oder diese komische, österreichische Märchensendung im Zweiten, zu der man ein ganzes Heft brauchte, um bei allen Spielen mitzumachen. Wie hab ich mir dieses Heft gewünscht. Aber auch hier: Nie bekommen. Und deswegen sind die alle schuld, dass ich heutzutage versuche, 27 Dinge auf einmal wahrzunehmen. Ich möchte eben kein Heft verpassen, keine Rubbelkarte und erst recht nicht das Auto mit dem Spaßvogel auf dem Dach. Und jetzt Parker Lewis DVD angemacht, iTunes öffnen und auf Shuffle stellen, Toast in den Toaster, meine beste Freundin anrufen, „Brütal Legend“ starten, Textverarbeitung auf, Mails checken, einen Tweet formulieren, einkaufen gehen, meine Jacke zum Schneider bringen, Zigarette an und die DC-Hefte aufs Klo bringen: Ich versuche hier schließlich, mich zu konzentrieren!


Eine Fotostrecke von Helena Petersen (helenapetersenphotgraphy.com) Illustration Mario MeiSSner

„Diese Serie ist der Anfang eines weiterführenden Fotoprojektes mit dem Thema „Vorher Nachher“. Die Idee der Aufnahmen kommt von meinem großen Interesse an menschlicher Veränderung. Fotografisch eingestiegen bin ich über das Thema „Gender“ im Bereich des Verwandlungsprozesses von Mann zu Frau bei Transvestiten. Ausgehend von diesem Thema, wo eine gewollte und bewusste Veränderung durch eine Verwandlung stattfindet, interessierte mich die menschliche Veränderung von äußerern, zufälligen und unbewussten Einwirkungen.“



„Beim Free Fight werden mehrere Kampfdisziplinen zusammengeführt und somit finden die Einwirkungen auf verschiedenen Ebenen statt. Hierbei habe ich den Gesichtsausdruck vor und nach dem Kampf beobachtend festgehalten. Für dieses Projekt habe ich Kämpfer in Jena und Erfurt begleitet. Für mich war dabei interessant zu beobachten, wie unterschiedlich Menschen in Extremsituationen agieren.“


„Man kann den meisten Free Fightern Sieg oder Niederlage vom Gesicht ablesen. In manchen Fällen war das Fotografieren eines Kämpfers, der gerade verloren hatte, sehr schwer. Es gab Fälle, in denen er nicht mehr ansprechbar war oder auch in eine Art Depression verfiel.“ „Keines der Bilder trägt einen direkten Titel, da sie meiner Meinung nach für sich sprechen. Zur Zeit arbeite ich an dem nächsten „Vorher Nachher“ Projekt mit Bergarbeitern der letzten Kohlebergwerke Deutschlands, nämlich vor dem Einfahren in die Grube und nach dem Aufsteigen aus der Grube.“



KÖNIGE der

LÜFTE Interview Johannes Finke

Der Miesbacher Christophe Schmidt war der einzige Snowboarder, der bei den diesjährigen Olympischen Spielen die deutschen Farben in der Halfpipe vertrat. Doch wie alle seine Kollgen war auch er gegen Shaun White machtlos. Wir stellten ihm nach dem Wettkampf ein paar Fragen zu Olympia, der Angst vor dem Risiko und Shaun White, dem Superstar der Szene. BLANK: „Dabei sein ist alles“ heißt es im Bezug auf Olympia so schön. Würdest du das noch unterschreiben? Christophe Schmidt: Ja und nein. Auf der einen Seite zählt es dort tatsächlich viel, einfach dabei zu sein. Allerdings ist es auch nicht sinnvoll ohne einen sportlichen Anspruch hinzufahren. Es ist der Wettkampf, den am meisten Leute verfolgen und da möchte man sich natürlich auch so gut wie möglich verkaufen. BLANK: Wie unterscheiden sich die Olympischen Spiele und deren Snowboard-Wettbewerbe vom normalen Weltcup- und Competition-Alltag? CS: Bei Olympia ist der Rummel um alles gigantisch. Außerdem ist es natürlich etwas Besonderes, mit den Athleten der anderen Sportarten zusammenzutreffen. Das passiert uns bei anderen Wettkämpfen sonst nicht. BLANK: Olympia in vier Jahren: ein Ziel oder einfach noch zu weit weg? CS: Einfach noch zu weit weg. BLANK: Shaun White scheint zur Zeit in

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SPORT & LIFESTYLE

der Halfpipe ja fast unschlagbar zu sein, nicht zuletzt den Trainingsbedingungen geschuldet. (Ein Sponsor baute ihm eine eigene Halfpipe, mit Schnitzelgrube, so dass er neue Tricks unter Ausschluss der Öffentlichkeit unter besten Bedingungen trainieren konnte. Die Halfpipe war nur per Helikopter zu erreichen.) Hat das noch was mit Chancengleichheit zu tun oder ist es eher so, dass neue Maßstäbe, die gesetzt werden, motivieren? CS: Es ist sicherlich motivierend für die anderen Fahrer, wenn der Sport weiter gepusht wird. Dabei ist es eigentlich unerheblich, von wem die Initiative kommt. BLANK: Was ist das Besondere an Shaun White? CS: Seine roten Haare. Nein im Ernst, er hat sehr viel Talent, wird seit seiner Kindheit mit einem riesigen Aufwand gepusht und ist sehr ehrgeizig. Diese Kombination ergibt seinen großen Erfolg. BLANK: Angesichts der immer höheren und komplexeren Sprünge: hast du manchmal Angst? CS: Eine gewisse Portion Angst ist sehr

vorteilhaft, um keine unüberlegten Dinge zu tun und das Verletzungsrisiko im Rahmen zu halten. Dabei spielt die Höhe, aber natürlich auch die Schwierigkeit eines Tricks eine Rolle. Zu groß darf die Angst allerdings nicht sein, sonst kann der Trick eigentlich nur schief gehen. BLANK: Was glaubst du, in welche Richtung sich das Snowboarden in der Halfpipe entwickelt? Höher, schneller, weiter? CS: Snowboarden ist immer noch ein relativ junger Sport und die Halfpipes werden immer besser. Ich denke, am fahrerischen Level wird sich in den nächsten Jahren noch eine ganze Menge tun. BLANK: Was ist mit Skateboarden? CS: Skateboarden hat auf das Snowboarden einen riesigen Einfluss. Gerade bei Snowboardern, die auch gut in der Transition – das heißt Miniramp oder Halfpipe – skaten können, sieht man, dass es sich sehr positiv auswirkt. BLANK: Die letzte Frage ist die nach deinem Lieblingssprung. CS: Frontside alley oop.


BLANK

Impressionen

IMPRESSUM Herausgeber: Berger, David & Finke GbR Chefredakteur: Johannes Finke Art Direction: Romy Berger Redaktion: Teresa Mohr (Musik), Teresa Bücker (Politik/ Mode), Roman Libbertz (Literatur), Boris Guschlbauer (Reise), Elmar Bracht (Gesellschaft/ Mode), Matthias David (Foto), Antonia Märzhäuser Grafik & Online: Mario Meißner Autoren: Nilz Bokelberg, Elmar Bracht, Teresa Bücker, Johannes Finke, Teresa Mohr, Jan Off, Daniel Vujanic, Boris Guschlbauer, Roman Libbertz, Antonia Märzhäuser, Erik Brandt-Höge, Till Erdenberger Fotografen: Svenja Eckert, Helena Petersen, Manuel Cortez, Lucja Romanowska, Johannes Finke, Matthias David, Ben Fuchs, Cécile Sayuri Lektorat: Heidje Klaer Titelfoto: Manuel Cortez Druck: Werk zwei Print + Medien GmbH

1. Reihe v.l.n.r. Karl-Heinz Ratzer bei 25 Jahre Ratzer Records; Sandra Liandros, Tobias Schenke & Anna Maria Mühe bei der Turnschuhklappe; BLANK-Titelshooting mit Wilson und Tom Rebl; Florian Voss bei „Lesen im Club“. 2. Reihe v.l.n.r. Medienauflauf bei der Turnschuhklappe, DJ Michi Setzer bei 25 Jahre Ratzer Records; Johannes Finke & Teresa Bücker beim Tom Rebl Empfang zur BFW; Tom des Nachts aufm Weg in den nächsten Club; 3. Reihe v.l.n.r. Nico Suave live on stage; Wall von Pino (beides Turnschuhklappe); Boris Guschlbauer Selfportrait in Afrika; Wilson in der Badewanne.

VERLOSUNG 1 uns netterweise nochmal zwei Paare zur Verfügung gestellt, damit auch der gemeine BLANK-Leser die Chance hat, demnächst in neuem Schuhwerk über die Straße zu laufen. Und da in diesen beiden Modellen Leinen verarbeitet wurde, sind das auch genau die richtigen Schuhe für Frühling und Sommer. Doch für nichts gibts nichts und so haben wir zumindest eine Frage, die es richtig zu beantworten gilt: Welcher Deutsche hat sich in ASICS einen Olympiasieg im Jahr 2008 geholt? Zuweilen sind wir Sneaker-Affin. Nicht erst seit dem Hilfsprojekt „Turnschuhklappe“, bei dem wir zu Weihnachten Turnschuhe gesammelt und dem Kinderhilfsprojekt ARCHE e.V. geschenkt haben. Auch ASICS hatte das Projekt mit Schuhen unterstützt und so ein paar Jugendliche und Kinder glücklich gemacht. Hilfe kann manchmal ganz schön einfach sein. Jetzt hat ASICS

Schickt die Lösung bitte per Mail und dem Betreff „Asics“ an verlosung@blank-magazin.de (Kleiner Tipp: Einfach mal unter www.asics.de schauen). Unter allen Einsendern verlosen wir je 1x den ASICS AARON CV für Männer (in 44,5) und den ASICS KAELI MT CV für Frauen (in 38,5). Einsendeschluss ist der 07.04.. Der Rechtsweg ist wie immer total ausgeschlossen.

Vertrieb: asv vertriebs gmbh Süderstraße 77 | 20097 Hamburg www.asv-vertrieb.de Einzelheft- und Aboservice unter www.blank-magazin.de Anzeigen: Nielsengebiete 1 & 5 media & more | Peter Hanf Kronprinzenstr.36 | 22587 Hamburg Tel. 040 / 83 93 22 56 | Fax 040 / 83 93 22 57 media.more@t-online.de Nielsengebiete 2 & 3a Radermacher Medienservice | Hermann Radermacher Scheidtstr. 70 | 45149 Essen Tel. 0201 / 710 18 33 | Fax 0201 / 710 18 79 radermacher@adverting.de Nielsengebiete 3b & 4 VERLAGSBüRO BRANDT | Wolfgang Brandt Helmpertstraße 3 (RG) | 80687 München Tel. 089 / 54 63 63 90 | Fax 089 / 54 63 63 940 wb@verlagsbuero-brandt.com Anfragen zu Advetorials, Kooperationen oder Verlosungsaktionen, sowohl Print als auch Online, richten Sie bitte an r.berger@blank-magazin.de. Internet: www.blank-magazin.de Redaktionsanschrift: BLANK | Postfach 02 10 02 | 10121 Berlin Büro: Rheinsberger Str. 7 | 10115 Berlin info@blank-magazin.de Steuernummer: 34/225/53519 Finanzamt Berlin Mitte/Tiergarten Wir danken:

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BLANK

FASHION FOTOS PT. 3

fotografie Cécile Sayuri Styling Aude Jamier Make Up Karina Berg

Als Schauspielerin hat Jennifer bereits ihre Wandelbarkeit bewiesen und trotzdem überrascht sie ihr Umfeld immer wieder mit neuen Facetten. Natürlich und zerbrechlich, von einer leisen Schönheit, diese Mischung entwickelt vor der Kamera eine Anziehungskraft, der man sich nicht entziehen kann. Und so wurden wir während unseres Shootings Zeugen einer weiteren Metamorphose, dessen Ergebnis ihr hier bewundern dürft. Ein Gespräch mit Jennifer Ulrich über den deutschen Film, internationale Chancen und Berlin als Melting Pot der Schauspielszene findet sich auf www.blank-magazin.de


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Die BLANK

VERLOSUNG 2

Mind- & Mood-Map

Afrika

TEXT Johannes Finke fotografie BORIS GUSCHLBAUER

Unwissen schützt vor Strafe nicht und Strafen teilt das Leben ja bekanntlich gerne aus. Also, wie sich schützen?

Als unser Reiseredakteur Boris Guschlbauer im letzten Jahr ankündigte, sich Anfang Januar auf den Weg nach Afrika zu machen, war das nicht weiter überraschend. Er war schon an so einigen Orten, hat viel gesehen, durchwandert und erfahren. Zuletzt war er in Indien und reiste auf dem Landweg von Berlin in den Iran oder zu Fuß an die Ostsee. Afrika schien da nur eine Konsequenz. Der schwarze, der vergessene Kontinent. Doch die Reise endete früher und der Kulturschock war größer, als gedacht. Mitte Februar nahm er einen Flieger zurück nach Deutschland. Magen und Darm machten nicht mehr mit. Doch so hatte ich Boris nach einer Reise

noch nie erlebt. Ausgezehrt und auf eine verstörende Art erschrocken oder zumindest tief berührt und, wenn ich das richtig einschätze, erschüttert. Aber in gewisser Weise auch bestätigt. Also, was ist da los in Afrika? Was weiß ich? Wie ist mein Informationsstand? Welche Informationen bekomme ich und woher? Und warum bekomme ich genau diese Informationen? Und was sagen diese Informationen und ergibt sich daraus ein verlässliches Bild. Man kann es nur versuchen. Stück für Stück. Die BLANK Mind- & Mood-Map Afrika gibt es auf www.blank-magazin.de/afrika

VERLOSUNG 3 Wir verlosen je 2x im Paket den russischen Bestseller-Roman „Seelenkalt“ von Sergej Minajew (Heyne), eine moderne Moskauer Gesellschaftsposse um Neureiche und noch reichere, Dekadenz und Demut und die neue Rework-CD von IAMX „Dogmatic Infidel Comedown“ (61seconds), mit Überarbeitungen u.a. von Alec Em-

pire, Combichrist, James Cook und Black Light Odyssey. Wir denken, das passt zusammen. Einfach bis zum 22.04. eine Mail mit dem Betreff „Seelen X“ an verlosung@blankmagazin.de schicken. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen. Androhung von Gewalt wird ignoriert.

Die Anzahl der Abbildungen von Trinkern ist in der Geschichte der bildenden Kunst Legion. Manét, Degas oder Cézanne haben sich an diesem Thema abgearbeitet und der bedeutende Udo Lindenberg zeichnet mit Likörfarbe – wenn nicht unter Alkoholeinfluss, so doch immerhin mit hochprozentigem Material. Kunst und Alkohol – eine seit Jahrhunderten prima funktionierende Symbiose. Die Veltins-Brauerei hat – wie um diesen Eindruck zu unterstreichen – im vergangenen Jahr eine kleine Grüne mit haptischem Erlebnis als Designflasche eingeführt. Und was die Verbraucher wohl „Saufkunst“ genannt hätten, apostrophiert der Hersteller als „Braukunst“. Um den Begriff auch abseits der Getränkemärkte mit Leben zu füllen, hat Veltins den Künstler Superblast dafür gewonnen, 15 Kunstwerke mit Flasche anzufertigen. Teils abstrakt, teils gegenständlich, aber immer interessant. Denn Superblast ist Manuel Osterholt und einer der renommiertesten deutschen Graphic Artists. Für die Freunde von Bier, Kunst und Kunstbier... Nein, für die Freunde von Bier, Kunst und Braukunst verlost BLANK eines der Werke. Schickt uns hierfür einfach bis 22.04. eine Mail mit dem Betreff „Braukunst“ und einem Foto des Plätzchens, das ihr mit dem Kunstwerk schmücken wollt an verlosung@blank-magazin.de.

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KONZERT

TER MI NE KONZERT

Madsen

PARAMORE? Sind das nicht diese CastingShow-Gewinner? Ne, sind sie nicht - auch wenn sich der Name bemerkenswert nach RTL II anhört. Die Amis mit der bezaubernden Hayley Williams am Mikro machen tatsächlich echte Musik für echte Menschen und das so erfolgreich, dass sie mit ihrem aktuellen Album „Brand New Eyes“ in den wichtigsten Musikmärkten Top10-Platzierungen landen konnten. Welcher Popularität sich besonders Frontelse Hayley inzwischen erfreut, wissen passionierte „Guitar Hero“Zocker schon lange. Da gibts die Dame nämlich als Charakter und das ist dieser Tage das, was früher eine Einladung zu den Peel-Sessions war: Der erste Schritt auf dem Weg zum Überdauern der eigenen Zeit. Am 27.03. machen sich die Musiker auf gen Bremen. Dort steigt in der Zentralwerkstatt der Bremer Straßenbahn AG am Flughafendamm der nächste „T-Mobile Street Gig“. Wer dabei sein und sehen will, wie Straßenbahnen und female-fronted Rock zusammen passen, kann sein Glück ab sofort auf www.t-mobile-streetgigs.de versu-

KONGRESS

Was in der zeitgenössischen Literatur funktioniert, klappt auch beim neuen Album von Madsen und so ist „Labyrinth“ die Hitmaschine des Jahres feat. Modest Mouse, Queen, The Cure and many more. Live wird das mit Sicherheit ein Heidenspaß. 15.05. München, Theaterfabrik 17.05. Frankfurt, Batschkapp 18.05. Berlin, Postbahnhof 20.05. Köln, Gloria 22.05. Hamburg, Grünspan

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T-Mobile Street Gig mit Paramore

TERMINE

re:publica 2010 „nowhere“ Der Friedrichstadtpalast öffnet seine Tore immer öfter für ein Publikum, das sich bislang von einer Girlreihe nicht in das Berliner Revuetheater locken ließ. Auf die vielbesprochene Modenschau von Designer Michael Michalsky folgt nun eine Konferenz, bei der es ebenfalls um Mode, Trends und Avantgarde geht – doch nicht aus Stoffen, sondern in virtuellen Weiten.

chen. Denn die begrenzten Tickets gibt es nicht zu kaufen, sondern nur zu gewinnen. BLANK wäre aber nicht BLANK, wenn es nicht auch hier was zu gewinnen gebe. Es gibt nicht nur 1x2 Karten sondern noch das Nokia X3, mit dem ihr während des Konzerts dank 3.2 Megapixel-Kamera Bilder schießen könnt, um die geifernde Meute daheim zum Heulen zu bringen. Während die anderen jammern, lasst ihr euch auf dem Rückweg dank des integrierten Stereo-Lautsprechers nochmal die besten Momente auf die Ohren geben. Und wem das jetzt zu sehr nach Werbesprech aussah, der hat damit zweifelsohne Recht. Macht aber nichts, denn wer was gewinnen will, muss leiden. Und hey, es wird sich lohnen. Schickt bis 20.03. eine Mail an verlosung@blankmagazin.de mit dem Betreff „Superstylisch“ und ihr seid in der Trommel.

Vom 14. bis zum 16. April kommen Vordenker, Skeptiker, Kritiker und Enthusiasten zur Social-Media-Konferenz re:publica zusammen, um das „Echtzeitweb“ weiterzudenken. Die Tickets für eine leibhaftige Teilnahme verkauften sich schneller als man klicken konnte. Einige wenige sind noch verfügbar: http://re-publica.de/10 www.twitter.com/republica


FESTIVAL

Cinephiler Lokalpatriotismus Aufgeklärte und nachhaltige Konsumenten lassen nur noch Äpfel und Gurken aus der Region in ihre Einkaufswagen fallen – getreu dem Motto „support your local dealer“. Warum eigentlich nicht mal den lokalen Filmnachwuchs unterstützen, dachte sich Hajo Schäfer 2004 und rief das Filmfestival „Achtung Berlin“ ins Leben. Vom 14.–21. April präsentiert das Festival die Arbeiten junger Filmschaffender aus Berlin und Brandenburg. Statt rotem Teppich gibt es ein get together der Szene mit viel Platz für Diskussion und Austausch rund um das Thema „Junger deutscher Film“. Mehr Infos zum Programm und Ticketverkauf gibt es unter www.achtungberlin.de.

KONZERT

Sophie Hunger Die gebürtige Schweizerin Sophie Hunger kommt auf Tour und ganz ernsthaft: man sollte sich rechtzeit um Karten kümmern. „1983“ heißt ihr im April erscheinendes, zweites Album, auf dem sie mit ehrlichem

Kalkül aufzuspüren versucht, was zu verschwinden droht, was bereits verschwunden ist. Ein zartes und doch wuchtiges Album, das sich in seinen besten Momenten im Raum zerstreut. Hier hat jemand seinen ganz eigenen Weg gefunden, den modernen Menschen in die Melancholie zu treiben. 17.05. Frankfurt, Mousonturm 18.05. Leipzig, Moritzbastei 22.05. Bremen, Schlachthof 23.05. Köln, Gloria 27.05. Berlin, Astra 29.05. Ulm, Ulmer Zelt Festival

KONZERT

Heißer Indie-Pop und cooler Electro-Trash

Hot Hot Heat, The Teenagers, Officials Secrets Act

Das geneigte Publikum hat die Qual der Wahl, denn die Konkurrenz ist groß auf dem Weg zum Finale in Berlin.

22.02. Hamburg, Grünspan 23.02. Köln, Stollwerck 24.02. Karlsruhe, Substage 25.02. Dortmund, FZW 26.02. Dresden, Alter Schlachthof (SM)

Auf dem Papier gibt es klare Favoriten. Wir zählen die Kanadier von HOT HOT HEAT mit dazu und sprachen mit ihnen (siehe Seite 40). Auch HADOUKEN! sieht die Musikredaktion ein Stück vorne. Aber wer kann das schon sicher sagen? Was ist mit Tagesform? Wer hält dem Druck am Besten stand? Und wie wichtig ist die richtige Strategie? Auf jeden Fall sollten sich alle Bands bewußt sein, dass bei der Jägermeister Rock:Liga eine harte Jury das Sagen hat, nämlich das Publikum! Hingehen! Anhören! Abstimmen!

Datarock, Does It Offend You, Yeah?, Hadouken! 22.03. Leipzig, Werk 2 23.03. Frankfurt, Batschkapp 24.03. Stuttgart, Longhorn 25.03. Freiburg, Jazzhaus 26.03. München, Backstage Werk Eintritt ab 18 Jahren. Tickets kosten 10 € (zzgl. VVK-Gebühren). Alle Infos, Termine und Ergebnisse unter www.myspace.com/rockliga

TERMINE BLANK I 83


REGISTER – Persönlichkeiten im Heft Air Airen Alec Empire Alex Manz Andrew Bird Arcade Fire

48 60 33, 81 64 46 46

Dave Eggers David Cage Dirk von Lotzow Division Does It Offend You Yeah? Doris Dörrie

58 66 47 47 83 26

Beach Boys Belle & Sebastian Bernd Eichinger Black Light Odyssey Broadcast 2000 Bunny Lake Bushido

46 45 51 33, 81 46 48 51

Elliot Smith Empire Of The Sun Expatriate

48 45 46

Jacqui Ainsley James Cook Jeannette Franz Jennifer Ulrich Joan Of Arc Joe Steer John Niven Jonathan Safran Foer Joseph D´ Agostino Julie Campbell

Florian Horwath Frank Schellenberger Frank Zappa Funkadelic

47 44 47 47

Kasper Bjørke Kinky Rocker Konstantin Gropper Kruder&Dorfmeister

47 27 38 48

Cannibal Corpse Cap´n Jazz Carin Wester Chris Corner Christian Fuch Christian Vaughan Christoph Szeteli Christophe Schmidt Cody Love Combichrist Converge Cymbals Eat Guitars

45 46 79 33 48 44 65 74 62 33, 81 45 46

Girls Gonjasufi

46 47

Leon Ockenden Leonard Cohen Lonelady Lou Reed

66 44 47 44

Damien Kulash Daniel Geiger Datarock

84 I  BLANK

45 63 83

Hadouken! Hajo Schäfer Hanna Lemke Helene Hegemann Henri Salvador Hot Hot Heat IAMX J Dilla Jack Kerouac Jacob Bellens

83 83 HEFT3 I 60 49 41, 83 33, 81 47 59 48

Madsen Make Believe Manuel Osterholt Mark Waschke Max Matthäus Maximilian Hecker Meshuggah Midnight Oil Minimarket Miss Derringer

66 33, 81 62 76-80 46 46 58 60 46 47

82 46 81 25 65 49 45 46 78, 80 33

Morbid Angel

45

Nightmares On Wax Nilz Bokelberg NoMeansNo

48 67 41

Officials OK GO

83 45

Paramore Pascal Langdale Pat Benatar Patrick Bruel Paul Simon Payman Phoenix Pixie Lott Placebo Professor Brinkmann Pull Out Kings

82 66 47 49 46 1 41 43 47 23 33

Rarariot Rüdiger Nehberg

46 16

Sam Douglas Seabear Secrets Act Sergej Minajew Shaun White Silke Wilhelm 1. Siri Svegler

66 46 83 81 74 48 43

Soap & Skin Sophie Hunger Stacey Kent Stephen King Stephie Geyer Suzy On The Rock

48 83 49 57 65 48

Terry Gilliam The Cramps The Cult The Dillinger Escape Plan The Killers The Leisure Society The Mission The Sounds The Teenagers The Tyde Thomas Glavinic 54, Through The Eyes Of The Dead Tim Kinsella

66 46 46 45 47 45 46 50 83 46 55 45 46

Vanessa Paradis

49

White Chapel William S. Burroughs Wilson Gonzalez Ochsenknecht

45 59 25 ff

Wolfgang Petersen

44

Young Marble Giants

47


HEFT ZWEI Berlin – Dakar Ein Reisebericht von Boris Guschlbauer

lieBe ist für alle Da Teresa Bücker über das Biotop der Beziehung


HEFT ZWEI Berlin – Dakar von Boris Guschlbauer

wehrte die vielen Checker ab, die mir „good stuff“ verkaufen wollten – in diesem Zustand der Sieche fühlte ich mich aber wirklich nicht nach Hasch oder Opium, was egal war, später auf der Reise sollte ich es sowieso zu genüge konsumieren.

Im Jahre 1979 begann das Abenteuer der Rallye Paris – Dakar. Die längste und härteste Rallye der Welt wurde zum Sinnbild des Draufgängertums schlechthin und viele Hobbyrennfahrer wünschten sich nichts sehnlicher, als nur einmal an dieser Herausforderung teilzunehmen.

Mit dem Zug ging es durch überschwemmtes Gebiet nach Rabat, der Hauptstadt von Marokko. Hier wollten wir das mauretanische Visum beantragen, was sich als große Geduldsprobe herausstellen sollte. Die unfähigen Botschafter besaßen keinen Sinn von Ordnung und brummten sich dadurch selbst unzählige Überstunden auf, die armen Schweine. Vier Tage später, irgendwann mitten in der Nacht, hielten wir dann doch den Reisepass samt Visum in den Händen. Der Weiterreise stand also nichts mehr im Wege.

Doch nachdem 2008 Terroristen Angriffe auf die Rallye in Mauretanien angekündigt und kurz darauf vier Franzosen und drei Soldaten getötet hatten, wurde das wahr, was niemand zu denken wagte. Die Rallye wurde abgesagt und mittlerweile zum zweiten Mal nach Südamerika verlegt. Der Name blieb bestehen, doch die Rallye hat für viele, wie auch für mich, an Reiz verloren. Aus diesem Grund schien es selbstverständlich, mich auf den Weg zu machen, um die Wüste auf eigene Faust zu durchqueren. Da ich jedoch keinen 4-Wheeler mein Eigen nennen kann, und ich den Führerschein wegen Trunkenheit am Steuer eingebüßt habe, war es klar, sich mit öffentlichen Verkehrsmitteln bis nach Dakar durchzuschlagen zu müssen.

Mit einem kleinen Umweg über Marrakech, Königsstadt und Aushängeschild Marokkos, und mit einer riesigen Medina, in der man sich unweigerlich wie in einem Labyrinth verläuft, erreichten wir von Busund Taxifahrer abgezockt das Urlaubsdomizil Agadir. In diesem Sündenbabel wollten wir ein letztes Mal billig saufen, den Huren im Nebenhaus bei ihrer Arbeit zuhören und später den Bus durch die West-Sahara nehmen, die seit 1976 von Marokko besetzt wird. Eine Fahrt von 22 Stunden durch endlose Wüste, nur ab und zu sah man die Wellen des Atlantiks, ein paar Fischerhütten und die Kotze meines Hintermannes durch den Bus schwappen. Die blutrote Sonne erlosch im Meer und der Sand färbte sich orange und violett. Der Halbmond mit unzähligen Sternen erschien am Firmament, ich sah sie alle aus meinem Busfenster, komisch verdreht lag ich auf zwei Sitzen gleichzeitig und spürte die bittere Kälte der Wüstennacht, das Brummen des Motors und die unendliche Straße sich unter mir abrollen. Am frühen Morgen, nach unzähligen Militärkontrollen, deren Soldaten ich meinen Beruf erklären musste (Kopfgeldjäger), erreichten wir schließlich Dakhla, die letzte Stadt vor Mauretanien und das scheinbare Ende der Welt – Wüstenfuchs und Dromedar sagen sich hier gute Nacht. In den Straßen verrottet der Müll, Ziegen und Esel fressen den Müll, der Müll brennt, der Müll stinkt, der Müll wird aufgesammelt und in Autos eingebaut. Hier war erst einmal Schluss mit lustig, keine öffentlichen Verkehrsmittel fahren über die ungefähr 300 Kilometer entfernte Grenze. Eine Woche mussten

So nahm ich den Billig-Flieger von Berlin nach Südspanien, um den europäischen Kontinent so schnell wie möglich hinter mich zu bringen und meinen Reisegefährten Alex zu treffen, der sich dieses Abenteuer nicht entgehen lassen wollte. Nach einem hervorragenden Fisch in Málaga ging es weiter nach Algeciras, von wo aus die Fähren nach Tanger, Marokko starten und in den Hafenspelunken das San Miguel fröhlich fließt. Betrunken taumelten wir durch die regnerische Nacht, um sehnsüchtig auf das nur 15 Kilometer entfernte Afrika und seine Lichter zu blicken. Mit einem höllischen Kater betrat ich die Fähre und musste dank des starken Wellengangs ordentlich Tribut zollen. Mit fahlem Gesicht über die Toilettenschüssel gebeugt, schien es mir wie eine Katharsis, alles musste raus bevor ich diesen mir unbekannten Kontinent betreten durfte. Dementsprechend körperlich geliefert, schleppte ich mich später durch die engen Gässchen der Medina von Tanger, die Interzone, wie sie der Schriftsteller William S. Burroughs in „Naked Lunch“ einst beschrieben hatte, und

II


HEFT ZWEI wir deshalb im Zimmer neben dem Lautsprecher ausharren, der das Allahu Akbar direkt in unsere Ohren verstärkte, bis wir zufälligerweise auf Lene und Andreas trafen, ein Pärchen aus dem Schwabenland, die im Hippiebus unterwegs waren und uns anboten mitfahren zu können. Endlich ging es weiter voran, trotz meines ordentlichen Dünnschiss, den ich mir durch die kaputte Sahne in einem Törtchen eingefangen hatte. Also warf ich mich auf die Rückbank des Mercedes und Paracetamol in den Schlund – wie in Trance erlebte ich die Fahrt durch den endlosen Sand. Der marokkanische Zöllner wuchtete den Ausreisestempel in den Pass und wünschte uns viel Glück auf dem Weg durch das verminte Niemandsland, das die West-Sahara von Mauretanien trennt. Hier wird die Endzeit zur Realität. Überall liegt Müll, teilweise versperren Stacheldrahtverhaue den Weg, ausgeweidete Autowracks stehen im Nichts. Geklaute Karren, teilweise mit deutschem Kennzeichen, wurden hier ihrem Schicksal überlassen, mancher Fahrer hatte die nicht ganz offensichtliche Piste zu weit verlassen und war auf eine Mine gefahren und explodiert. Ein wahr gewordenes Mad Max, das jeder Reisende so schnell wie möglich verlassen will, viele aber an den lustlosen Grenzern scheiterten und die Nacht unter freiem Himmel zwischen Minen und Mördern verbringen mussten. Glücklicherweise waren wir unter den letzten, die die Grenze nach Mauretanien passieren durften.

Die erste Nacht unter dem Moskitonetz, dann weiter Richtung Süden. Und es ist unglaublich, wie sehr man sich über die erste verdörrte Vegetation freuen kann nach langen Tagen ohne das kleinste Gestrüpp. Im Süden Mauretaniens, der Sahelzone, entdeckten wir endlich wieder Bäume und die Farbe Grün. Die Kleider der Frauen wurden farbenfroh, die Kinder lachten von Herzen und winkten uns zu, und die mit Turbanen vermummten Militärposten verlangten ihre Cadeaux (Geschenke), Bestechungsgüter, die die Weiterfahrt um einiges beschleunigte. Zum Glück fuhren wir seit geraumer Zeit im Konvoi, Armin aus der Nähe von Stuttgart fuhr Hilfsgüter in ein Buschkrankenhaus in Liberia und verteilte ordentlich die Cadeaux médicaments (Arzneimittelgeschenke) an das Militär. Wir fragten uns ernsthaft, ob er jemals mit irgendwelchen Medikamenten Hilfsbedürftige in Liberia erreichen wird.

Das Auswärtige Amt warnt dringendst vor einer Reise durch die islamische Republik Mauretanien. Erst vor kurzem wurden ein italienisches Pärchen und zwei spanische Entwicklungshelfer Opfer von Entführern. Für das Leben der Spanier wird 7 Millionen Euro Lösegeld gefordert und die Freilassung von Al-Qaida Mitgliedern. Kein Wunder also, dass man dieses Land mit einigen Ängsten und Vorurteilen betritt. Doch Ängste und Vorurteile können nicht abgebaut oder bestätigt werden, trifft man auf niemanden. Der absolute Großteil dieses riesigen Landes scheint ausschließlich aus Sand und sonst nichts zu bestehen. Kein Leben weit und breit, endlos und meditativ war deshalb die Fahrt immer nur geradeaus durch die Ödnis. Bis in die Hauptstadt Nouakchott, in der alle alten Mercedes Benz ein neues Zuhause gefunden zu haben scheinen und die Menschen weitaus andere Probleme hatten, als uns zu entführen.

So erreichten wir die Stadt Saint-Louis im Norden des Senegal, die erste französische Niederlassung überhaupt in Afrika. Alex und ich checkten in die Jugendherberge ein, sahen im Innenhof das langweilige Endspiel des Afrika Cups, schlenderten durch die kaputten Straßen mit den alten Kolonialbauten, tranken ordentlich bière de gazelle und bestaunten die hübschen Frauen. Wir beobachteten die vielen Kinder, die tatsächlich mit Murmeln spielten und zusammengenähte Stoffreste mit Schaumstoff füllten und dies als Fußball benutzten. Tagsüber wehrten wir die vielen Bittsteller ab und badeten im Senegalfluss. Nachts funkelten wir hell in den unbeleuchteten, aber vom Vollmond beschienenen Straßen.

Der Höhepunkt der Bestechung war schließlich an der senegalesischen Grenze. Die Zöllner weigerten sich partout, uns passieren zu lassen, sie befürchteten, Armin könnte die Medikamente teuer in ihrem Land verkaufen. Doch nach mehreren Stunden Diskussion löste sich alles in urplötzlichem Wohlgefallen auf, als die Hände der gierigen Zöllner ordentlich mit Medikamenten und Verbandszeug gefüllt wurden. So einfach konnte es gehen, ich zweifelte an der Menschheit und verdammte den Egoismus.

Knappe fünf Wochen waren nun vergangen, als ich schließlich lebendig, aber noch immer vom Durchfall geplagt, das Ziel der Schlussetappe nach Dakar erreichte.

III


HEFT ZWEI Das Zentrum der Drei-Millionen-Metropole scheint von Chaos, Gewalt und der Hitze übermannt, weshalb wir im ruhigeren Vorort Ngor blieben. Und kaum beim ersten Bier in der Strandbar „Black President“, mit dem idyllischen Blick auf die Insel Ile de Ngor, auf der der Finanzminister seinen durch Korruption finanzierten Luxuspalast ganz ungeniert zur Schau stellt, lief zufälligerweise Helge Timmerberg, mein Favorit der deutschen Reiseschriftsteller, den Strand entlang. Ich wollte meinen Augen nicht trauen und rannte auf ihn zu. Nach einem kurzen Smalltalk gesellte er sich zu Alex und mir an den Tresen und gemeinsam schütteten wir Unmengen an bière de gazelle in uns hinein und tanzten und tranken uns zum Klang von Trommeln in Trance. Alex und ich flirteten mit den Nutten an der Bar, die dann aber stocksauer wurden und uns wütend anbrüllten, weil wir nicht mit ihnen ficken wollten. Also tranken wir noch mehr Bier, um den Stress zu vergessen, das Ende zu feiern und ins Koma zu fallen.

nem StudiVZ-Profil auf verheiratet. Der Überfluss an Oxytocin in meinen Adern ließ mich glauben, dieses Mal sei es für immer. Aber noch mehr schwingt mit als ein impulsiver Glücksmoment, wenn junge Menschen in sozialen Netzwerken ihrer Beziehung virtuell Gewicht verleihen. Die Preisgabe im Internet, ob der Herr oder die Dame Single, in einer Beziehung, verheiratet oder geschieden sind, ist Selbstdefinition, dient der schmerzlosen Kommunikation und ist nicht zuletzt ein Status, sondern oftmals Statussymbol.

Natürlich wird man auf solch einer Reise vom Reisefieber übermannt und ich überlegte mir ernsthaft, mich weiter nach Bamako, der Hauptstadt von Mali durchzuschlagen. Aber auch der Alkohol hatte die Amöben im Darm nicht töten können, und außerdem war der Endpunkt der Rallye in Dakar und nicht in Bamako. Zudem sollte man immer aufhören wenn es am schönsten ist, und so nahm ich den Flieger zurück ins kalte Deutschland. Schneestürme hüllten mich ein und ich erfror elendig. Doch sollte die Rallye Dakar nächstes Jahr wieder in Südamerika stattfinden und die Wiedergeburt wahr werden, weiß ich genau, wer sich wider aller Drohungen durch die Sahara schlagen wird.

Den roten Teppich für das Bekenntnis zum Liebeslebenswandel haben die sozialen Netzwerke selbst ausgerollt. Obgleich die von jungen Menschen genutzten Netzwerkangebote nicht explizit der Partnersuche dienen, sondern zunächst auf den Wunsch zurückgehen, sich in den schon existierenden Freundeskreis nun auch im Web einzureihen, enthält das Formular zur Selbstdarstellung stets die Möglichkeit, etwas über die sexuelle Orientierung und den Fortschritt auf dem Weg zum Hafen der Ehe anzugeben. Die Nutzer haben die Formularvorgabe schnell von dem spröden Charme der Steuererklärung und Auskunft über die Paarungsbereitschaft befreit und sich zu eigen gemacht. Die Angaben zu Beziehungen sind für statistische Erhebungen uninteressant, da sie im Netz in vielen Fällen eine andere Sprache sprechen. Das Vorhandensein eines Partners auf einer Profilseite mag nur Schutz vor ungewollten Anfragen sein. Bei Facebook heiraten die besten Freundinnen einander, als Ausdruck starker Freundschaft, aus Sorge um das leere Feld. Was wir im Netz über Zwischenmenschliches berichten und wie wir mit Partnern kommunizieren, eröffnet ein weites neues Feld für die Beziehungs- und Kommunikationsforschung.

„Du hast geheiratet?“ Natürlich hatte ich das nicht. Auch die Umstellung des Status von vergeben auf Single muss im Netz nicht bedeuten, dass die Beziehung am Ende ist. Zu den schier unbegrenzten Möglichkeiten sich im Social Web ein eigenes Ich nach Maß zu stricken, tritt die Möglichkeit, Beziehungen neu zu definieren und mit vertrauten Menschen zu kommunizieren.

lieBe ist für alle Da von Teresa Bücker

Meine erste Hochzeit begab sich im Garten meiner Eltern. Eine Gardine aus der Karnevalskiste verschleierte die kleine Braut. Zwei Wochen später wurde ich eingeschult. Mein zweiter Eheschluss folgte mit 23 und war durchaus ernster, obgleich ohne Brautkleid, ohne Pfarrer, und ohne Gäste. Ein Klick und der Ring saß am Finger. Ich stellte meinen Beziehungsstatus in mei-

Eine breit akzeptierte Umgangsform mit dem Beziehungsleben hat sich in sozialen Netzwerken noch nicht etabliert. Schon die Haltungen gegenüber der Eintritts-

IV


HEFT ZWEI am Leser vorbeirauschen. Das in Tinte getränkte Tagebuch schweigt im Dunkeln auch Tage später.

frage: „Äußere ich mich dazu, ob und in welcher Art von Beziehung ich lebe?“, wird völlig unterschiedlich eingestuft. Für wen eine intim gelebte Partnerschaft von hoher Wichtigkeit ist und diese sich im kleinen Kreis zweier Menschen bewegen soll, mag von vorneherein auf die Angabe verzichten. Nicht jedem Aspekt des eigenen Lebens muss Virtualität verliehen werden: „Meine Freunde wissen doch, dass ich einen Freund habe und kennen ihn. Wozu sollte ich das ins Netz stellen?“ Doch was für den einen die Diskretion des Glücks bedeutet, kann für den anderen verletzend sein. Ein Nicht-Bekenntnis zur besseren Hälfte im Netz kann als Nicht-Bekenntnis zur Beziehung im Alltag gewertet werden; eine Aufwertung des Beziehungsstandes von in a relationship zu married mag den anderen bedrängen; und was passiert eigentlich, wenn man sich ganz oder vorübergehend trennt? Ersetzt heutzutage die Löschung des Ex per Mausklick das über eine Trennung Hinwegkommen in Rekordzeit? Das Web schwenkt seine soziale Fahne: Das Miteinander leicht gemacht. Bisweilen bedarf es kurz nach der Statusaktualisierung klärender Worte im direkten Austausch. Die Meta-Kommunikation über und mit der Beziehung ist ein Tanz auf dem Glatteis – zumindest, wenn der Partner mitliest.

Gehören Gefühle in die Weiten des Netzes? Sie tun es, denn auf digitalen Bahnen muss weitaus mehr stattfinden, als Nachrichten- und Informationsfluss, um die Kanäle lebendig zu halten. Twitter fand seinen Weg in die öffentliche Wahrnehmung und Medien außerhalb des Internets, als der Journalismus begann den Wert des Microbloggingdienstes als Nachrichtenquelle und Recherchemöglichkeit zu entdecken. Doch ein Großteil der ins Web gesandten Kurztexte informieren nicht sachlich, sondern sehr persönlich. Zum Strom der Nachrichten und Meinungen gesellen sich Gefühle, Begegnungen und Dialoge. So überrascht es nicht, dass die Umarmung des getickerten Lebens aus der Ecke der schreibenden Zunft vorangetrieben wird, die aus dem Verständnis ihrer Berufung heraus seit jeher mehr Emotion und Wortgewalt in Texte schossen, als die Journalisten: Schriftsteller. Jeder Mensch ein Wortkünstler; jeder verliebte, jeder verlassene Mensch ein Autor, der seine Tweets mit Herzblut pflanzt. Nähert man sich einer Typologie der Akteure im Social Web, die es mit Liebesbekundungen, Kinderwünschen und den resignativen Seufzern der Langzeitsingles befüllen, fällt schnell auf, dass die Literarizität dieser kurzen Auswürfe begeistern kann. Für den Liebsten, für den Ex werden die Tasten weichgeklopft. Aber mehr noch: der sprachliche Anspruch ergänzt die Erklärung des freigiebigen Erzählens um ein weiteres Element: Neben das Herzklopfen, das mit loser Zunge schreiben lässt, tritt die erzählerische Perspektive des Absenders, der seine Liebesgeschichte als Fortsetzungsroman in 140 Zeichen verfasst. Partner und Selbstbild flüchten sich in die dritte Person, sprechen lauter, sprechen freizügiger und treten auf unter Namen, die sie als Figur inszenieren, anonymisieren und austauschbar machen. Der Mann, der Begleiter, Frau X und der Ex. Die Wahrung der Identität hinter abstrakten Begriffen beruhigt das Gewissen des freigiebigen Autors und gewährleistet zudem die Unendlichkeit der Geschichte: die nächste Frau wird wiederum „die Frau“ getauft.

Das netzbasierte Beziehungsmanagement geschieht nun aber nicht nur in den vier Wänden der eigenen Profilseiten, sondern in den vielen Ecken des Social Web. Es betrifft neben dem Partner nicht nur den besten Kumpel oder die große Schwester, sondern mehrere Dutzend Freunde, Bekannte, vergessene Schulkameraden und Kollegen. Doch ganz anders als die Selbstverständlichkeit, kompromittierende Partyfotos nicht im Netz zu teilen, sollten Zeilen zur Liebe oder zur Einsamkeit kein Tabu sein. Dass wir uns daran gewöhnen Erlebnisse, Gedanken und in Worte gefasste Gefühle nicht gezielt mit einer Person zu besprechen, sondern offen für den Kreis der Freunde im Netz zur Kommentierung freigeben, bedeutet keine generelle Verflachung von intensiven Freundschaften, sondern ergänzt diese mit Menschen, die einander digital besser kennen und verstehen lernen. Egal ob Freude oder Frust, ein Tippen des Gemütszustandes ins Netz ermöglicht eine kleine Abbitte, auch wenn ansonsten jeder schläft. Ein rührend geschrieben verliebter Gedanke mag seinen Weg über den Retweet ein Stück weiter ins Netz beschreiten, zu Tränen rühren, Ablehnung erfahren, flüchtig

Doch der Roman unseres Liebeslebens verwischt die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion noch weit

V


HEFT ZWEI von den männlichen Teilnehmern befüllt. Die Autorin Elisabeth Rank, die über Twitter gemeinsam mit ihrem Freund aktuell kleine Einblicke in die verliebte Welt gewährte, fragte noch im Rahmen der re:publica 2009 „Wieso bloggen so wenige Männer über ihre Gefühle?“. Es scheint für Männer leichter, dies im stark begrenzten Rahmen der Status-Aktualisierungen zu tun. Es scheint nahezu verlockend. Auch wenn es im Bereich der Blogs und längeren Texte weniger evident ist, das Bekenntnis zu Gefühlen ist chic, das Veröffentlichen eines Beziehungsstatus dabei nur der erste Schritt. In sozialen Netzwerken stellt sich mehr und mehr für unterschiedliche Bereiche das Phänomen der sozialen Erwünschtheit ein. In den Wochen und Tagen vor der Bundestagswahl erschienen Status-Updates stark politisiert, das reichte von Kommentierung der Wahlprogramme über Aufforderungen, wählen zu gehen bis zum Offenlegen von Erst- und Zweitstimme. Für die Romantik des Alltags scheint sich Ähnliches einzustellen. Als gute Freundin oder treuer Ehemann erwähnt man die bessere Hälfte ab und an auch digital. Ebenso wichtig ist dies für den letzten Schliff der Selbstdarstellung. Eine glückliche Partnerschaft gehört zu einem erfüllten Leben wie ein gut bezahlter Job und das zugehörige Auto – selbstgeschrieben erreicht die Liebes- und Lebensgeschichte den gewünschten Grad der Perfektion. Und in Zeiten, in denen Beziehungen loser geführt, Ehen später oder nie geschlossen werden und die Erstgebärenden 40 sind, beruhigt der elektronische Ring am Finger und das digitale Treuegelöbnis vorerst das Gemüt.

reichender, als es die Darstellung des eigenen Ichs im Netz bisweilen tut. Das Biotop der Beziehung kann nach Belieben fernab des Tatsächlichen bespielt werden, ohne Herzen zu brechen. Dies aber ist vorrangig der Fall, wenn der Partner das Netzwerk der Wahl entweder gar nicht oder wenig intensiv nutzt, oder erst noch gefunden werden will. Direkt adressierte Liebesbekundungen sind selten und verlaufen zumeist über private Bahnen. Die Erklärung der Liebe geschieht vor den Augen der mitlesenden Netzbewohner oft indirekt. Das verklärt, verliebte Grinsen, das ein frisch in den rosa Schleier getauchter Mensch nicht verstecken kann, wird ungehemmt ins Netz geschrieben. Eine Ausformulierung des Glückes zu zweit, als würde jede weitere Verewigung im Web die Partnerschaft schützen vor der Schnelllebigkeit der Liebe; jedes einsam notierte Zubettgehen der Partnerlosen, die bessere Hälfte ein Stück näher rücken. Für manche mögen das Zeichen emotionaler Verwahrlosung sein, doch das Teilen der Gedanken im Netz kann ebenso die Aufarbeitung von Gefühlen als Äquivalent zum Gespräch mit Freunden in trauter Kneipenrunde leisten. Wo Menschen einander zuhören, kann kein Ort sozialer Kälte sein. Dennoch, bei all der katalysierenden Wirkung, die ein in digitale Häppchen aufgefächertes Gefühlsleben sinnvoll erscheinen lässt, kann ein Blick auf das unterschiedliche Verständnis von sozialen Netzwerken und dem Maß des sich Mitteilens nicht schaden. Neben der Beziehung, die im Netz ihre Darstellung findet, pflegt ein Mitglied eines Netzwerkes mehr oder weniger enge Bindungen zu anderen Usern. Entscheidend ist hier das weniger – vielleicht. Der Begriff des ‚Oversharings’ – das Teilen von mehr persönlichen oder intimen Informationen als Adressaten als angebracht und angenehm empfinden – ist vielleicht derzeit eine der spannendsten Konfliktlinien innerhalb des Social Web. Für manche Nutzer sind das #beischlaftweets, laute Parteibekenntnisse vor einer Wahl oder suizidale Gedanken. Durch diese unterschiedlichen Präferenzen aber gruppieren sich Menschen im Web nicht nur entlang tatsächlich bestehender Bekanntschaften und Interessensgebieten, sondern auch entlang empathischer Fähigkeiten, Toleranz und Schmerzgrenzen.

Heiratsanträge gestellt über Twitter, der erste Schritt zur Trennung über das Löschen des Liebsten aus der Friend-List, die Anbahnung einer Romanze über einen nobel geschriebenen Pinnwandeintrag – auf den ersten Blick scheint dies neu, fremd und ein wenig zu einfach, und dennoch voller Poesie. Es bleibt Geschmacksfrage, wem die Liebe gelten soll: Nur ihm oder ihr, oder einem Teil der Welt. Doch Liebe scheint mehr und mehr für alle da. Gefühle lauern im Netz an jeder Ecke. Sie umarmen elf Jungs auf dem Platz, gelten Politischem oder der Band auf der Bühne. Wer sagt schon, dass die ganz großen Gefühle immer die von der rosaroten Wolke sein müssen?

Und Obacht! Das Feld der großen Gefühle wird im Bereich der Statuts-Updates auch immer mehr

VI


HEFT DREI

Hanna Lemke, die am Literaturinstitut in Leipzig studierte und mittlerweile in Berlin lebt, legt mit Gesichertes ihr literarisches Debüt vor. „Gesichertes“, das sind 18 Erzählungen, deren Protagonisten, so verschieden sie auch sind, durch die Phänomene ihrer Zeit verbunden sind. Liebe, Job, Wohnung – das bedeutet längst nicht mehr Stabilität, alles unterliegt dem Dogma der Flexibilität und so treiben die Georgs und Stellas durch das wackelige Konstrukt ihres Lebens. Hanna Lemkes Erzählungen sind reduziert, jedes Wort ist mit Sorgfalt gewählt und so bleibt dem Leser genug Raum die Geschichten weiterzuleben. „Gesichertes“ ist am 1. März im Kunstmann Verlag erschienen.


HEFT DREI REFLEXE

lecken, blieb Stella ganz ruhig sitzen, die Hände im Schoß gefaltet, als würde sie auf etwas warten. Kurz darauf kam sie zu mir. »Wir gehen noch woanders hin«, sagte sie, »schade, dass du nicht mitkommen kannst.« Obwohl sie betrunken sein musste, war ihr Blick vollkommen klar. Der, der neben ihr gesessen hatte, stand an der Tür und schaute zu uns herüber. »Der Typ«, sagte ich mit einer Kopfbewegung in seine Richtung, und ohne sich umzuschauen, fragte Stella: »Ja?« »Der ist eklig«, sagte ich, und im selben Moment fühlte ich ein Kribbeln hinter meiner Stirn und an meinen Wangen; so fühlt es sich an, wenn ich glaube, rot werden zu müssen, aber tatsächlich werde ich nie rot. Stella lachte. »Ja«, sagte sie, »da hast du leider Recht«, und im selben Atemzug: »Gibst du mir bitte noch deine Nummer?« Ein paar Tage später rief sie mich an. »Gehen wir aus?«, fragte sie. »Gerne«, sagte ich. Sie schlug vor, dass wir uns noch am selben Abend treffen könnten, in einer Bar. Ich fragte: »Und wann?« Sie wiederholte: »Heute abend.«

Stella sprach mich an, auf der Geburtstagsfeier eines Freundes, sie sagte: »Du.« Sie war einen Kopf kleiner als ich, hatte nackte Schultern, nackte Arme und überhaupt wenig an. »Du bist mit mir zur Schule gegangen«, sagte sie, »erinnerst du dich noch?« »Nein«, sagte ich, und Stella nannte mir den Namen meiner Heimatstadt, meiner Schule, und den Abiturjahrgang. Es war eine große Jahrgangsstufe gewesen, und ich hatte nie viel Kontakt gehabt. Eigentlich hatte sich mit dem letzten Schultag alles erledigt, die Prüfungen kamen, die Zeugnisvergabe, dann war ich weggezogen. »Was machst du hier?«, fragte Stella. »Feiern«, sagte ich und wollte weiter, aber sie hielt mich am Arm fest. Sie sagte: »Ich weiß, du denkst nicht gern an früher, ich tue das auch nicht.« Stella hatte eine Art zu sprechen, dass alles, was sie sagte, bedeutsam klang, ernst und eindringlich. Manchmal runzelte sie dabei die Stirn, und ihre Stimme bekam etwas Drängendes. Selbst wenn Stella sich ein Bier bestellte, behielt sie diesen Tonfall bei. »Ich hatte das damals auch so über«, sagte sie, »diese Kleinheit, diese Beschränktheit.« Wir hatten uns auf ein Sofa gesetzt, und während Stella redete, schaute ich den tanzenden Partygästen zu, was mich immer ein wenig traurig macht, ohne dass ich verstehe, warum. »Und ich habe damals gemerkt, dass es dir genauso ging«, sagte sie, »man hat dir das angesehen.« Ich sagte nichts, und etwas später stand Stella auf und begann zu tanzen, sie schloss die Augen dabei, und dann stand auch ich auf, holte meine Jacke und ging. Am nächsten Wochenende sah ich Stella wieder, sie kam in die Bar, in der ich arbeitete. Sie war mit ein paar Freunden unterwegs, und von ihrem Tisch aus lächelte sie mir zu. Sie saß sehr aufrecht, trank viel, redete wenig und strich sich mit einer immer gleichen Bewegung die Haare hinters Ohr. Ihre Freunde sahen aus wie die meisten Bargäste, mit sorgfältig verwuschelten Haaren und so gekleidet, als wollten sie damit persönlichen Stil ausdrücken. Stella trug ein schlichtes schwarzes Kleid, und obwohl es nicht zu kurz war und nicht zu weit ausgeschnitten, hatte ich wie bei unserer ersten Begegnung den Eindruck, dass sie irgendwie zu wenig anhatte. Neben Stella saß einer, der sie ununterbrochen anstarrte, von der Seite und gierig. Sie schien das nicht zu stören. Sie reagierte nicht, als er seinen Arm um sie legte und sie zu sich zog. Auch als er anfing, mit breiter Zunge ihren Hals abzu-

Ich wollte fast noch einmal nachfragen: Und um wieviel Uhr?, aber dann sagte ich nur: »Gut, bis später also.« Und Stella sagte: »Ja, bis dahin«, und legte auf. Als ich gegen zehn in die Bar kam, war Stella schon da. Sie war nicht allein. Sie war in ähnlicher Gesellschaft wie an dem Abend in meiner Bar, aber wenigstens winkte sie mir zu, gleich nachdem ich hereingekommen war. Ich ging zu ihr, und wie selbstverständlich rückten alle so zusammen, dass neben Stella ein Platz für mich frei wurde. »Wir sind schon zusammen zur Schule gegangen«, sagte sie zu den anderen. Sie musterten mich, keiner von ihnen sagte etwas. »Meine Freunde«, sagte Stella und nannte mir die Namen, die natürlich alle außergewöhnlich klangen, Fiffi, Laurenz, Berne und so fort; ich war entschlossen, mir keinen einzigen davon zu merken. Ich hörte zu, wie Stella und ihre Freunde sich unterhielten, über eine Ausstellung, in der ich nicht gewesen war, und einen Film, den ich nicht gesehen hatte. Ich versuchte, mich schnell zu betrinken und nach einer Weile nur noch dann hinzuhören, wenn Stella etwas sagte. Stella sagte: »Ich habe das gemocht.« Stella sagte: »Ich habe mich mit ihr identifizieren können, ich weiß, dass das kein Kriterium ist, ich finde es selber immer seltsam, wenn jemand so etwas sagt, aber so war es.« Sie wiederholte ernsthaft wie für sich selbst: »Aber so war es.«

II


HEFT DREI herumzumachen, der sie vielleicht angestarrt oder angelächelt oder ihr auch nur im Vorübergehen einen Blick zugeworfen hatte. Stella schien in dieser Hinsicht seltsam wahllos, oft genug war sie es auch, die auf jemanden zuging. Dann knallte sie ihr Glas oder ihre Flasche auf den Tisch und sagte: »So!«, und manchmal schaute sie mich noch an und sagte: »Verstehst du, was ich meine?« Dann war es, als wolle sie mir etwas zeigen. Ich wusste nicht, was. Und ich wusste auch nicht, warum. Ich fand es schwer zu ertragen, wenn Stella bei jemand anderem war. Einmal sah ich, wie einer ihr den Arm auf den Rücken drehte; sie wehrte sich nicht. Wenn sie mich am nächsten Tag anrief und fragte, wie es mir gefallen habe, antwortete ich nur ausweichend. Nach wie vor verunsicherte mich die Frage, aber als ich Stella fragte: »Was meinst du eigentlich?«, fragte sie zu rück: »Was meinst du mit, was meinst du eigentlich?« »Mir gehts nicht gut«, sagte Stella schließlich, nach Wochen, am Ende eines Abends. Wir gingen von da nach dort und nebeneinander her, ihre Freunde waren weit vor uns. »Es sieht vielleicht so aus, als gings mir ganz gut«, sagte sie, »aber das stimmt leider nicht.« Zum ersten Mal hörte ich ihr an, dass sie getrunken hatte, sie sprach langsamer als sonst und verschleppte die Wörter, ganz leicht nur. »Ich glaubs«, sagte ich. »Aber ich finde auch nicht, dass es so aussieht, als ging es dir ganz gut.« »Nicht?«, fragte sie und schaute mich von der Seite an. Ich wusste nicht, ob sie ironisch war. »Dir gehts auch nicht gut«, sagte sie. »Dabei bist du damals weggegangen, weil es dir schlecht ging und du wolltest, dass alles besser wird, das weiß ich.« »Ach ja?«, sagte ich, und sie sagte: »Ja, das weiß ich ganz genau.« »Kann sein«, sagte ich. Es war Jahre her, dass ich von der einen Stadt in die nächste gezogen war, angefangen hatte zu studieren und, als mir das nicht gefiel, angefangen hatte, in Bars zu arbeiten. Ich dachte daran, wie ich immer, wenn ich das Gefühl hatte, vor irgendjemandem mein Leben verteidigen zu müssen, mich selbst als völlig ambitionslosen Menschen dargestellt hatte. Und wie oft ich wohl schon gesagt hatte: So ist es, und das ist alles. »Kann sein«, sagte ich also zu Stella, und wie aus einem Reflex heraus fügte ich hinzu: »Aber ich glaube, du irrst dich.« Wir landeten in einem leeren Ladenlokal. Jemand sagte, es sei ein Ausstellungsraum, aber es hingen keine Bilder an den Wänden, jemand sagte, die Ausstellung fange erst nächs-

Ich dachte daran, mich zu verabschieden, als wir die Bar verließen. Aber ich war noch nicht betrunken. Ich dachte: Vielleicht wird es dann besser. Wir gingen weiter, in die Färberei, wo es so voll war, dass ich Stella und ihre Freunde sofort aus den Augen verlor. Es machte mir nichts aus. Ich holte mir ein Bier, stellte mich an die Wand und schaute den tanzenden Leuten zu. Irgendwann kam einer von Stellas Freunden und stellte sich neben mich. Seine Haare klebten nass an seiner Stirn und seine Pupillen waren winzig, er fragte: »Und du kennst Stella schon lange?« Er musste schreien, um die Musik zu übertönen. Ich zuckte mit den Schultern und schrie zurück: »Naja.« Dann schaute ich wieder zur Tanzfläche. Ich spürte den Blick von Stellas Freund auf mir, aber als ich mich zu ihm umdrehte, war er nicht mehr da. Inzwischen war ich betrunken, soviel war sicher, und ich blieb immer noch. Ich wurde nicht müde, auch nicht trauriger. Ich sah Stella von Weitem. Sie war zusammen mit einem, der sie anfasste, der ihr unter das T-Shirt ging, und Stella schaute zu mir und wieder weg und ich holte mir ein letztes Bier. »Hat es dir gefallen?«, fragte Stella, als sie mich am nächsten Tag anrief, und ich entschied mich, die Frage so zu verstehen, dass sie den ganzen Abend meinte. »Es geht so«, sagte ich. »Vielleicht gewöhnst du dich daran«, sagte sie. »Ich weiß, dass du mich gesehen hast«, fügte sie hinzu und sprach plötzlich sehr deutlich. »Ich weiß, dass dich interessiert, wer das gestern war, aber das ist nicht wichtig, verstehst du. Ich gehe so weit, wie es eben geht«, sagte sie, »verstehst du, was ich meine?« Der Typ, der Stella am Abend in meiner Bar abgeleckt hatte, hieß Marek. Ich sah ihn an einem der nächsten Abende mit Stella wieder. Er tat so, als würde er mich nicht erkennen, und behandelte mich genauso abweisend wie die meisten von Stellas Freunden. Ich passte nicht zu ihnen, sie wussten das und ich wusste das auch. Aber wenn Stella mich anrief, um zu fragen, ob ich am Abend mitkommen wolle, sagte ich immer ja. Ich wusste selber nicht, warum, denn ich hatte auch schnell verstanden, dass die Abende mit Stella alle gleich abliefen. Ihre Freunde waren immer dabei und immer ging es nur darum, sich zu betrinken. Stella trank von allen am meisten, hatte sie einmal ein Getränk in der Hand, stellte sie es nicht mehr ab und nahm etwa alle zehn Sekunden einen Schluck. Dabei zeigte sie nie die üblichen Anzeichen eines Rauschs. Nur, dass sie meistens anfing, mit irgendeinem

III


HEFT DREI zumute, alles an meinem Körper tat weh. Es war das erste Mal, dass Stella und ich uns alleine trafen. Stella saß neben mir auf der Bettkante, ihr Lächeln war fast scheu. »Wie geht es dir?«, fragte sie, und ich zuckte mit den Schultern und fragte: »Und dir?« »Irgendwie hat das gut getan gestern«, sagte Stella, und, wie verwundert: »Ich war so wütend.« »Und es musste sein«, sagte ich. »Ja«, sagte Stella. Sie lachte und schaute mich an, erstaunt, und als hätte ich endlich etwas begriffen, wiederholte sie: »Ja genau, das musste sein.« »Was wolltest du mir zeigen?«, fragte ich. Stella griff nach ihrer Tasche, sie zog ein Foto hervor und reichte es mir. Es war unser Abiturfoto. Es zeigte dem gesammelten Jahrgang auf dem Schulhof, und alle trugen die gleichen blauen Abitur-T-Shirts. Ich erinnerte mich, das Foto war am letzten Schultag gemacht worden, von einem der höher gelegenen Klassenzimmer aus, und eigentlich hatte es am Ende zwei unter schiedliche Fotos geben sollen; eins, auf dem alle winkten und eins, auf dem keiner winkte. Aber die Anweisungen, vom Fenster aus heruntergebrüllt, waren so undeutlich, dass die Idee nicht funktionierte, es gab immer jemanden, der winkte, während jemand anderes nicht winkte. Ich erinnerte mich sehr gut an diese Situation, und ich schaute mir das Foto genauer an, um Stella und mich zu suchen. Aber unter all den Gesichtern erkannte ich weder Stellas noch meins.

te Woche an. Jemand sagte: »Dernierenscherz«, und ich lachte. Ich sah Stella am anderen Ende des Raums, sie stand bei Marek. Sie war von mir weggegangen, gleich nachdem wir den Laden betreten hatten. Ich setzte mich. Die Fensterscheiben waren beschlagen, und ich wischte mir die Sicht nach draußen frei, auf eine unbefahrene Kreuzung in der Morgendämmerung. Ich dachte darüber nach, dass es ähnlich sein müsste, in einem Aquarium zu sitzen; gleichzeitig merkte ich, dass ich schon wieder nüchtern wurde. Ich hörte Marek lachen, ein fettes und irgendwie abschätziges Lachen, es klang, als lache er Stella aus. Es machte mich sofort wütend, und als ich mich umschaute, sah ich, dass auch Stella wütend war. Sie gab Marek einen Stoß, und Marek, schwerfällig vom Alkohol, torkelte, stolperte und fiel tatsächlich hin. Er stand nicht wieder auf. Er setzte sich, zog die Beine an den Körper, legte die Stirn auf die Knie. Stella blieb neben ihm stehen, die Hände in die Hüften gestützt. Dann fing sie an, Marek zu treten. Ihre Tritte waren zunächst vorsichtig, so, wie man vielleicht ein Tier treten würde, ein Reh, das man überfahren hat, und von dem man nicht weiß, ob es noch lebt. Sie trat Marek in die Seite, in den Rücken, dann ging sie ein paar Schritte, trat gegen seine Schienbeine. Marek zuckte. Aber er wehrte sich nicht. Und Stella ballte ihre Hände zu Fäusten, sie holte weiter aus mit ihrem Fuß, als müsse, als würde sie einen Ball weg-, eine Tür eintreten, etwas Größeres, und immer wieder. Mir wurde schlecht, als ich aufstand. Ich ging zu Stella. Ich sagte: »Wir gehen jetzt.« Stella schaute mich an. »Okay«, sagte sie. Es klang, als nehme sie eine Herausforderung an. Ich hörte Marek leise wimmern, und für einen Moment wünschte ich mir, Stella nicht unterbrochen zu haben. Draußen übergab ich mich, kurz vor der Kreuzung, Stella stand stumm neben mir. Dann gingen wir weiter, und als wir zu einem Taxistand kamen, sagte ich: »Du fährst jetzt nach Hause.« Wieder sagte Stella nur: »Okay.« Ich öffnete ihr die Wagentür, gab dem Fahrer mein letztes Geld und wartete, bis er weggefahren war. Ich hatte keine Ahnung, wo ich war, und lief einfach weiter. Erst als ich einen Stadtplanaushang fand, bemerkte ich, dass ich die Gegend doch kannte, und dass ich die ganze Zeit in die falsche Richtung gelaufen war. Am Nachmittag rief Stella mich an. »Ich muss dir was zeigen«, sagte sie. »Du kannst zu mir kommen«, sagte ich. Mir war elend

BoRis Boris hatte immer etwas Prolliges an sich. Er hatte einen breitbeinigen Gang, ein vorgeschobenes Kinn, und wenn er etwas sagte, war er kurz angebunden und ruppig. Er schien jederzeit alles im Blick zu haben. Er gab mir Feuer mit einer selbstverständlich wirkenden Geste, die typisch war für ihn, so ganz nebenbei, und wenn man Boris sah, an eine Theke gelehnt, grinsend mit einem Bier in der Hand, traute man ihm eigentlich wenig zu. In meinem Freundeskreis galt er als ein wenig stumpf. Er gehörte nicht richtig dazu. Oliver hatte ihn einmal mitgebracht, aber Oliver brachte andauernd jemanden mit, weil er alle Leute, die er kennen lernte, gleich nett fand und sie in sein Leben einbinden wollte. Diese Leute verbrachten dann einen Abend mit uns, versuchten, nachdem Oliver das Interesse an ihnen verloren hatte, sich mit einem von uns zu unterhalten,

IV


HEFT DREI dich gerne«, sagte er einmal, als würde er damit einer langen Diskussion ein Ende setzen, und ich hatte nichts dagegen. Boris änderte seine Haltung vom ersten Abend nicht. Auf eine selbstgenügsame Art wirkte er uninteressiert an uns, aber egal, was wir machten, ob wir auf die Bowlingbahn gingen, zum Grillen in den Park, auf eine Party oder wieder mal zum Essen in ein neu eröffnetes Lokal – er war dabei. Es war leicht, ihn zu übersehen, und so gewöhnten sich alle an ihn. »Tanja ist Oliver fremdgegangen«, sagte Boris zu mir, wir standen an der Theke einer Karaokebar, um Bier zu holen für uns und die anderen, und ich kam nicht einmal auf den Gedanken, daran zu zweifeln, dass er recht hatte. »Woher weißt du das?«, fragte ich. Er zuckte mit den Schultern. »Ich finde, man kanns sehen«, sagte er, dann reichte er mir die Biergläser und wir gingen zurück zu unseren Plätzen. Tanja und Oliver saßen nebeneinander, wie immer hatte Oliver den Arm um Tanja gelegt. Tanja hatte mir einmal erzählt, dass sie das eigentlich nicht mochte: »Dieses Besitzergreifende«, hatte sie gesagt. Sie sprach gern schlecht über Oliver und machte sich offen lustig über ihn, immer so, als wolle sie beweisen, wie wenig ihr eigentlich an ihm lag. Oliver ertrug es. Und wenn es stimmte, was Boris gesagt hatte, würde es nicht lange dauern, bis Tanja mir davon erzählen würde. Ich schaute Boris an, aber er hatte sich der Bühne zugewandt. Julia stand vorne, sie sang ›My heart will go on‹. Titanic war Julias Lieblingsfilm, das wussten alle. Sie schaute ihn immer wieder, und dann weinte sie, und dann erzählte sie uns davon, als wäre es ein Spaß. Sie sang mit geschlossenen Augen, einer Hand auf der Brust und übertriebenem Vibrato. Julia konnte eigentlich gut singen, sie hätte, dachte ich, sogar dieses Lied sehr schön singen können. Aber sie schien solche Angst zu haben, sich lächerlich zu machen, sodass sie sich lieber freiwillig, wie vorauseilend, lächerlich machte. »Ja«, sagte Boris, und es war, als hätte ich laut gesprochen, und er würde mir nur antworten: »Ja, Julia hat Angst, das behindert sie.« Er schaute mich an und stellte sein Bierglas ab: »Klar«, sagte er, »ich fahr dich sofort heim.« »Ich will wissen, woher du«, sagte ich, als wir im Auto saßen, aber Boris unterbrach mich: »Gleich.« Wenn er hinter dem Steuer saß, konzentrierte Boris sich nur aufs Fahren; er sprach nicht, hörte keine Musik. Er fuhr oft schneller, als erlaubt war, und bei jedem anderen hätte mich das nervös gemacht. Aber Boris fuhr sehr sicher. Er schaltete die Gänge früh nach oben und schien immer zu ahnen, wann eine Ampel rot werden würde, er musste nie abrupt bremsen. Er parkte vor dem Haus, in dem ich wohnte, dann begann er

und wir waren freundlich und abweisend und sahen sie nie wieder. Ich weiß nicht, woher Oliver Boris kannte, nur, dass er ihn zu einem unserer Essen mitbrachte, wir gingen zu einem Thailänder an diesem Abend. Es war Julias Idee gewesen, dass wir uns alle zwei Wochen in einem anderen Lokal treffen sollten, wenn möglich in einem neu eröffneten. Julia suchte die Lokale aus, sie schickte Rundmails mit den Adressen und Terminen und hörte nie auf zu betonen, wie wichtig es ihr und bestimmt auch uns sei, dass wir uns regelmäßig sähen. Wie eine Moderatorin stellte sie uns bei den Treffen Fragen zu Privatleben und Beruf, die zumindest ich nur widerwillig beantwortete. Es war immer besser, wenn Oliver jemanden mitbrachte. Wir erzählten uns dann mehr, lachten und erinnerten uns an Geschichten von früher. All das war leicht, wenn es darum ging, jemanden auszuschließen. Aber bei Boris funktionierte es nicht. Er saß bei uns, als wäre das ganz normal; selbstsicher, nicht überheblich. Die Gespräche stockten, Julia stellte keine einzige Frage. Alle schienen zu spüren, dass Boris sich nicht so leicht beeindrucken ließ, und das unterschied ihn von allen anderen, die Oliver bisher mitgebracht hatte, und denen man die Sehnsucht, einem Freundeskreis wie unserem anzugehören, immer hatte ansehen können. Einem Freundeskreis wie unserem: es bedeutete ja nicht mehr, als dass wir uns alle seit der Oberstufe kannten, die Stadt nach dem Abitur nicht verlassen hatten und irgendwie in Kontakt miteinander geblieben waren. Mir schien es vorhersehbar, wie der Abend enden würde. Sofort nach dem Essen würde sich die Runde auf lösen, beim nächsten Mal würde Boris nicht mehr dabei sein und auch nie wieder erwähnt werden. Die anderen würden sich einfach kaum noch an diesen Abend erinnern können, sie würden sagen, ja, beim Thailänder, als läge das sehr weit zurück, und ihnen würde noch einfallen, dass irgendwie alle sehr müde waren und das Essen auch nicht besonders gut. Boris schaute mich an. Er grinste, spöttisch, und nickte, wie zustimmend zu meinen Gedanken. »Schmeckt es«, fragte ich, und Boris sagte: »Habs bald auf.« Boris kam dann doch zum nächsten Treffen, zum über nächsten, er war von da an fast immer dabei. Ich wusste, dass Oliver Boris Bescheid sagte, wenn wir uns trafen. Er hatte mir angesehen, dass Boris mich interessierte, und auch für die anderen schienen Boris und ich zusammenzugehören. Dabei beschränkten sich unsere Gespräche auf wenige, knappe Sätze. Boris saß nur immer neben mir, er gab mir Feuer, rückte mir Stühle zurecht, hielt mir Türen auf und fuhr mich nachts nach Hause, obwohl es ein Umweg für ihn war. »Ich fahre

V


HEFT DREI Wir waren nachts unterwegs, Boris und ich mit Lutz und Mariska, wir hatten mit den anderen etwas getrunken und waren auf dem Weg zu Boris’ Auto. Lutz und Mariska gingen Hand in Hand vor uns her, Mariska auf Stöckel schuhen, in einem sehr kurzen Rock. Wir kamen an einer Kneipe vorbei, vor der ein paar Typen standen, die, als Mariska auf ihrer Höhe war, etwas Abfälliges sagten. Mariska ging langsamer, Lutz ging weiter, und als einer der Typen Mariskas Arm packte und sie zu sich zog, ließ Lutz ihre Hand einfach los. Mariska stolperte, sie fiel fast, und der Typ fing sie auf. Er hielt sie fest und sagte: »Also so was.« Lutz blieb stehen, mit hängenden Armen, er sah genervt aus, nichts weiter. Und dann war es Boris, der Mariska wieder von dem Typen wegzog, der ihn so heftig schlug, mitten ins Gesicht, dass er zu Boden ging. Jemand sagte: »Hey«, vielleicht war das sogar Lutz, es klang arglos erstaunt, ein wenig vorwurfsvoll. Boris stand so da, als würde er darauf warten, dass einer von den anderen auf ihn losgehen würde. Aber sie beugten sich nur über ihren Freund, der sich die Hand vor Mund und Nase hielt, sich aufrichtete und Boris einen ängstlichen Blick zuwarf. Boris wandte sich ab, und wir gingen alle weiter. Im Auto saß Mariska auf dem Beifahrersitz und weinte, und Lutz saß neben mir auf der Rückbank und starrte aus dem Fenster. Boris fuhr uns wie ein Wahnsinniger durch die Nacht, er fuhr über rote Ampeln, ließ die Bremsen quietschen, und ich klammerte mich am Türgriff fest, als würde mir das im Ernstfall irgendwie helfen. Boris fuhr zuerst zu Lutz, und ohne ein Wort, ohne Mariska auch nur noch einmal anzuschauen, stieg Lutz aus und knallte die Tür zu. Dann fuhr Boris zu mir. Er hielt mit laufendem Motor vor meinem Haus, und so wie Lutz stieg auch ich aus. Auf dem Weg zur Haustür hörte ich, wie Boris davonfuhr. Ich hätte gerne etwas kaputt gemacht in diesem Moment, aber in meiner Küche, die Tassen und Teller betrachtend, abwägend, was davon ich an die Wand werfen könnte, kam ich mir so lächerlich vor, dass ich es bleiben ließ.

zu sprechen. »Tanja betrügt Oliver«, sagte er, »und Oliver weiß das, tut aber so, als bekäme er nichts mit. Julia hat Angst vor allem Möglichen, Martin und Lutz müssen immer miteinander konkurrieren, Verena ist die Schönste, aber alle anderen schlecht machen muss sie trotzdem. Moritz ist in dich verliebt«, sagte er, »zumindest meint er das, aber eigentlich will er nur endlich mal mit dir ins Bett. Wie lang geht das schon so, zwei Jahre?« Ich antwortete nicht. Zwei Jahre, so lang kam es mir nicht vor, aber wahrscheinlich hatte Boris recht. »Ihr merkt gar nicht, dass ich euch beobachte«, sagte er. »Nein«, sagte ich. Wir schwiegen. »Das wars«, sagte er schließlich. Ich schnallte mich ab und öffnete die Tür. »Was Moritz angeht«, fügte Boris noch hinzu, »ich finds ganz gut, dass du ihn nicht lässt.« Er grinste. »Ich meine, so wie der sich beim Billard angestellt hat, so wie der tanzt, da solltest du nicht zu viel erwarten.« Kurz darauf erzählte Tanja mir, dass sie sich neben Oliver mit jemand anderem traf, sie schien fast beleidigt, dass ich nicht überrascht war. Boris begann, mir immer mal wieder eine seiner Beobachtungen mitzuteilen, meistens wie nebenbei, wenn wir kurz alleine waren oder im Auto. Ich hörte mir alles an, auch, dass Verena als Kind kleine Tiere gequält und Jan bestimmt gerne einen sehr viel älteren Mann als Liebhaber hätte. »Du spinnst«, sagte ich manchmal. Aber meistens stimmten Boris’ Beobachtungen mit meinen überein, und ich merkte, wie sie dadurch, dass er sie aussprach, eine andere Gewichtung bekamen. Wenn ich Verena sah, dachte ich zunächst daran, dass sie immer zu denen am freundlichsten war, die sie am wenigsten mochte, wenn ich Martin sah, wartete ich nur darauf, dass er anfing, von seinem neuesten Erfolg im Unternehmen zu sprechen, und jeder Flirtversuch von Moritz kam mir plump vor. Ich merkte auch, wie meine Freunde mich anders anschauten, so, wie sie ganz am Anfang Boris angeschaut hatten, mit einem leisen Misstrauen. Verabredungen gingen an mir vorbei, ich erfuhr erst im Nachhinein davon. Ich wusste, dass ich nur einmal irgend jemanden hätte anrufen müssen und fragen, ob man sich treffen könne; ich wäre sofort wieder dabei gewesen. Aber ich wollte nicht. Immer, wenn ich über Boris und mich und den Freundeskreis nachdachte, wurde ich auf eine Art wütend, die mich hilflos machte. Ich konnte meine Wut nicht gegen Boris wenden, weil er mit allem, was er sagte, nur Recht hatte. Und meine Freunde konnten nichts dafür.

Nach diesem Abend hielt Lutz sich für eine Weile vom Freundeskreis fern. Mariska kam noch manchmal und alle lästerten darüber, wie sie Boris anschaute. Es schien nicht viel zu fehlen, dass sie zu ihm ging und sich ihm um den Hals warf oder vor die Füße, aber Boris beachtete Mariska nicht. Auf eine Art zog auch er sich zurück. Er hörte auf, mir von seinen Beobachtungen zu erzählen und verabschiedete sich früh, selten fragte er mich noch, ob er mich nach Hause fahren solle. Wieder fühlte ich mich hilflos. Mir ging der Vorfall mit

VI


HEFT DREI Lutz und Mariska nicht aus dem Kopf. Ich spielte die paar Szenen immer wieder durch, wie besessen von dem Gedanken, dass sie eine Bedeutung hatten, die mir bisher entgangen war; als hätte Boris an diesem Abend alles, was er getan hatte, eigentlich nur für mich getan. Schließlich verabschiedete Boris sich von mir, endgültig und auf seine Weise. Wir saßen in seinem Auto vor meinem Haus, er hatte den Motor abgestellt, und ich wartete einen Moment, ob noch etwas passieren würde, bevor ich ausstieg. Und Boris sagte: »Ich weiß, dass du gerne mit mir ins Bett willst, aber ich glaube nicht, dass wir auf der Ebene zueinander passen.« Er schaute mich an, mit diesem Blick, der jederzeit alles wahrzunehmen schien. »Nicht weinen, ja?«, sagte er. »Fick dich«, sagte ich. Mir fiel nichts nichts anderes ein, nichts besseres. Boris schüttelte nur den Kopf, müde, als hätte er versucht, mir etwas sehr Wichtiges zu erklären, und ich hätte es nicht begriffen, hoffnungslos. Und mit einer plötzlichen, sehr schnellen Bewegung griff er in meine Haare und zog meinen Kopf zurück. Mit der anderen Hand griff er mir zwischen die Beine, und ich unterdrückte etwas, das ich sagen wollte oder schreien. So saßen wir da, erstarrt, eine Sekunde, zwei. Dann ließ Boris mich los. »Und das ist es, was ich an dir beobachtet habe«, sagte er. »Dass du dich eben gerade nicht sofort gewehrt hast, das sagt so circa alles über dich aus.« Er blieb still sitzen, während ich ausstieg. Ich schloss die Tür ganz leise und ging wie auf Zehenspitzen zum Haus und hoch zu meiner Wohnung. Ich machte dort kein Licht und bewegte mich fast lautlos, als wollte ich vor irgendwem verbergen, dass ich zurück war. Danach kam Boris nicht mehr zu unseren Treffen, und meine Freunde verloren kein Wort über ihn, jedenfalls nicht, wenn ich dabei war. Mariska ging, Lutz kam wieder, Julia organisierte die nächsten Treffen, Tanja trennte sich von Oliver. Oliver verzichtete für eine Weile darauf, jemanden in den Freundeskreis mitzubringen, und als hätten wir zu einer alten Form zurückgefunden, verbrachten wir ein paar Abende miteinander, die lustiger waren als alle, an die ich mich erinnern konnte.

stRahLEn Matthes hatte ein Talent, so plötzlich aufzutauchen und wieder zu verschwinden, als könne er bestimmen, ob er gesehen werden wollte oder nicht. Seine Bewegungen wirkten

wie eine Abfolge von zwanghaften Tics, er zog die Schultern hoch, wedelte mit den Händen, schüttelte den Kopf und machte komische kleine Ausfallschritte vor und zurück. Aber es schien mir, als würde Matthes damit nur eine Unruhe nach außen kehren, die ich von mir selber kannte. Erst später dachte ich, dass Matthes vor meinen Augen abgebrannt war wie eine Wunderkerze, deren Funken sprühen mich geblendet und sich auf meine Netzhaut eingebrannt hatte, sodass ich es auch dann noch sah, als alles längst verglüht war. Matthes konnte stundenlang tanzen, ohne Unterbrechung. In den frühen Morgenstunden fing er oft an, um sich zu schlagen, als müsse er einen unsichtbaren Gegner abwehren, und irgendwann stand er nur noch da, den Kopf in den Nacken gelegt, mit einem Zucken in den Armen, den Schultern. Er reagierte nicht, wenn ich ihn dann noch ansprach, aber ich wartete ohnehin selten, bis es soweit war. Wenn ich nach Hause ging, war es schon hell. In meiner Straße kamen mir die Schulkinder entgegen mit ihren Tornistern, die so groß und schwer aussahen, dass ich meinte, eins der Kinder könnte gleich hintenüber kippen und auf dem Rücken liegenbleiben wie ein hilfloser Käfer. Durch meine Schlafzimmerfenster schaute ich auf den Pausenhof und in ein paar der Klassenräume, ich sah die bunten Kreidefelder für Himmel und Hölle, die eifrig nach oben gestreckten Arme während der Unterrichtsstunden, ich duschte und legte mich ins Bett. Das Klingeln der Pausenglocke weckte mich wieder, und wie durch eine Dämmwand, die sich in der Nacht um mich herum errichtet hatte, drang das Rufen der Kinder vom Hof zu mir hoch. Es war, als würde ich langsam durch die Tage sickern wie Regenwasser durch immer feiner werdende Schichtungen von Gestein, bis es gesäubert am Grund anlangt, bis es draußen endlich dunkel geworden war und ich mich wieder auf den Weg machen konnte. Ich ging fast jede Nacht aus, seit ich im Frühjahr nächtelang wach gelegen hatte mit dem Gefühl, mir stünde eine Prüfung bevor, deren Ergebnis über den weiteren Verlauf meines Lebens entschei den würde. Dabei wusste ich, dass eine derartige Prüfung niemals stattfinden würde. Inzwischen war es so warm, dass ich ohne Jacke aus dem Haus gehen konnte, vor die Tür und durch die Straßen, wie um mich treiben zu lassen, aber ich hatte jeden Abend ein Ziel. Immer war es Matthes, der auf mich zukam, er tippte mich an, ich spürte das Klopfen seines Zeigefingers an meiner Wange, der Schulter, dem Hinterkopf oder wo er mich gerade

VII


HEFT DREI erreichte, leichte Schläge, wenn er die flache Hand nahm, immer kurz fünfmal, das war sein Rhythmus. So stieß er auch mit seiner Bierflasche gegen meine, bevor er einen Schluck nahm, so zwinkerte er mir zu, mit beiden Augen. Er umarmte mich so fest, als wolle er mir die Rippen zerquetschen, so kurz, dass der Schreck viel zu schnell vorbei war, von meinem Brustkorb aus spürte ich ein Kribbeln durch meinen Körper gehen, bis in meine Fingerspitzen und Zehen, als wären sie komplett von der Blut zufuhr abgeschnitten gewesen, eingeschlafen und taub. In diesen Momenten war es, als würde etwas von Matthes auf mich übergehen, als wäre es möglich, überschüssige Energie von einem Menschen auf einen anderen zu übertragen. Und Matthes schien immer zuviel davon zu haben, er gab andauernd etwas ab. Seine Augen waren so weit geöffnet, dass man über und unter der Iris das Weiße sehen konnte, die Haare klebten nass an seinem Kopf, und er strahlte. Ich sah außer ihm noch ein paar Andere regelmäßig, sie waren alle allein unterwegs und schienen sich untereinander nicht zu kennen, vielleicht beim Namen, aber nicht so, dass sie voneinander wüssten, was sie außerhalb der Nächte machten, ob es da überhaupt etwas gab. Sie zeigten auch nie, dass sie mich wiedererkannten, schauten mich nur an, ein paar Takte länger als gewöhnlich, bis sicher sein konnte, dass der Blick nicht zufällig gewesen war. Ich schaute zurück, genauso stumpf und starr wie sie, es kam mir vor wie ein heimliches Kräftemessen und ich fragte mich, wann es entschieden sein und was dann passieren würde. Das Leben dieser Gestalten schien sich genauso wie meins auf die Nächte zu konzentrieren, aber ich konnte nicht sehen, was sie daran noch fanden, ob sie Freude hatten, ob sie diese Nächte schön fanden, so, wie Matthes und ich es uns einander in die Ohren brüllten, schön, als würden wir ein Panorama bewundern. Ich selber war früher nur an Freitagen oder Samstagen ausgegangen, immer ein wenig aufgeregt, mit Vorfreude auf das grundlose Feiern, und als ich dann jeden Abend losging, war diese Freude für eine zeitlang so groß wie nie zuvor. Es fühlte sich an, als würde ich mir einen Freiraum herausnehmen, der mir eigentlich gar nicht zustand, als hätte ich mich ausgeklinkt, ich dachte: Ich mache nicht mehr mit, und es dauerte lange, bis ich merkte, dass ich jetzt eben etwas anderes mitmachte. »Du bist noch auf der Suche«, brüllte Matthes mir eines nachts ins Ohr, »aber da ist nichts«, er wiederholte das Wort fünfmal und tätschelte meine Schulter dazu: »Nichts, nichts, nichts, nichts, nichts«, dann wandte er sich ab, und

im nächsten Augenblick war er verschwunden. Ich verstand nicht gleich, was er meinte. Ich schaute in die Richtung, in die er gegangen war, als könnte sich die Masse der Menschen teilen und den Blick auf Matthes frei geben, aber ich ahnte, dass ich ihn in dieser Nacht nicht wiedersehen würde. Noch auf dem Weg nach Hause fragte ich mich, was ich seiner Meinung nach suchen könnte. Sicher nicht die Gestalten, die ich vorgefunden hatte, dachte ich, in ihren Zuständen von nüchtern bis hinüber, ihre ausgestreckten Hände, ihr stummes Lachen und Reden, wenn die Musik lauter als alles andere war. Sicher nicht diese Musik, die mich nur betäubte wie die kleinen Biere für vier Euro, und sicher nicht die Angst vor dem endgültigen Tinnitus jeden Morgen oder mein Torkeln um diese Uhrzeit. Matthes hatte Recht, es blieb nichts übrig, wenn ich begann, die Nächte so auf ihre Bestandteile herunterzurechnen, nichts, das es wert gewesen war, gefunden zu werden. Nicht einmal Matthes blieb übrig, dachte ich, höchstens Momente mit ihm, aber auch die ließen sich zerlegen in Bewegungen, Berührungen, Wörter und Blicke. Es war ein Sonntagmorgen, und niemand begegnete mir auf dem Weg, in meiner Wohnung war es still und ich merkte, wie meine Überlegungen mir entglitten wie ein Wort, das man so oft wiederholt, bis es plötzlich ganz fremd erscheint und unverbunden mit seiner Bedeutung. Wie immer duschte ich und legte mich ins Bett, aber ich konnte nicht schlafen. Auch an den nächsten Abenden, an denen ich zu Hause blieb, und später, als ich dann gar nicht mehr ausging, merkte ich, dass sich meine Unruhe vom Frühjahr nicht gelegt hatte. Ich hatte sie nur nicht mehr so deutlich gespürt, als wäre sie aufgehoben gewesen in den Nächten. Ein paarmal ging ich noch aus, nur, um Matthes zu suchen, obwohl ich wusste, dass es an ihm lag, ob wir uns sehen würden oder nicht. Ich fragte mich, wie er noch weitermachen konnte, wenn er so genau wusste, dass da nichts war, nur noch die Routine im Ausgehen, die mir jetzt genauso schal und leer vorkam wie die der Arbeitstage von neun bis fünf. Wieso er noch gestrahlt hatte, als er mir das gesagt hatte, und ob er es bezweckt hatte, mich herauszuwerfen aus der Ordnung dieser Nächte. Ich kam nicht mehr dazu, ihn all das zu fragen, aber es war auch nicht nötig. Es war kein Antippen und es waren mehr als leichte Klapse, die ich bekam, als Matthes ein letztes Mal auf mich zukam, er traf mich mit dem Handrücken im Gesicht, seine Knöchel kurz fünfmal auf meinen Lippen, ich öffnete die Augen mit einem metallenen Geschmack auf der Zunge und Matthes war nicht mehr da.

VIII




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