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Patentverzicht gefordert – Sind Patente Fluch oder Segen?

Abb.:

Sind Patente Fluch oder Segen?

Es wird immer noch heftig diskutiert, ob alle Patente aufgehoben werden, die mit COVID-19-Impfstoffen, -Medikamenten und -Diagnostika in Zusammenhang stehen. Mehr als 100 Länder, NGOs, Parteien und ein Großteil der Öffentlichkeit fordern dies. Dennoch würde es den gerechten Zugang zu Impfstoffen nicht beschleunigen und der Schaden wäre viel größer als der Nutzen.

von Dr. Ute Kilger, Partner, Boehmert & Boehmert

Diejenigen, die in der Welthandelsorganisation (WHO) einen Patentverzicht fordern, um auch den ärmeren Ländern den Zugang zu Impfstoffen zu ermöglichen, haben zwei Dinge nicht verstanden

Erstens haben sie nicht erfasst, welche Rolle Patente in dem Umfeld oder Ökosystem spielen, das den Menschen neue Medikamente zur Verfügung stellt

Zweitens sind Patente hier nicht das Hindernis oder andersherum ausgedrückt:

Selbst wenn alle Patente aufgehoben würden, bekämen die ärmeren Länder nicht eine einzige Impfung früher

Unsere Branche hat offensichtlich nicht genug getan, um den Menschen beide Punkte verständlich zu machen, und nicht verstanden, wie schädlich ein solcher Patentverzicht oder TRIPS Waiver (Agreement on Trade-Related Aspects of Intellectual Property Rights) sein würde Sonst würde man meinen, dass die Biotech-Industrie nicht so schweigsam wäre und der Öffentlichkeit die tatsächliche Rolle von Patenten näherbringen und sich hörbarer erklären würde

Die Rolle von Patenten

Abb.: © iStock/ guangliang huo Patente sind eine notwendige Voraussetzung dafür, dass überhaupt in neue Medikamente investiert werden kann Es scheint, dass diese Wahrheit von den Befürwortern des Patentverzichts (TRIPS Waiver) als eine leere Metapher oder als Scheinargument wahrgenommen wird, nicht jedoch als harte Realität der Biotech-Branche

Es ist zudem nicht zu verstehen, weshalb die Befürworter des TRIPS Waivers die im Abkommen vorgesehenen Maßnahmen für unzureichend halten Artikel 31 des TRIPS-Agreements ermöglicht Mitgliedsstaaten bereits, die Produktion

Hauptquartier der Welthandelsorganisation WTO, deren Mitgliedstaaten über das Aussetzen des Patentschutzes für COVID-19-Arzneien, -Impfstoffe und -Diagnostika entscheiden sollen und den Vertrieb von Impfstoffen innerhalb des Mitgliedsstaates mit Hilfe von Zwangslizenzen zu erlauben Eine solche Zwangslizenz räumt dem Patentinhaber ein Recht auf eine den Umständen des Falles angemessene Vergütung ein Das heißt lediglich, dass der Generikahersteller einen kleinen Teil seines Gewinnes an den Patentinhaber abgeben müsste

Die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch (HRW) behauptet: „Aktuell verfügen verschiedene Hersteller über Kapazitäten zur Produktion zusätzlicher COVID-19-Impfstoffe und anderer medizinischer Produkte in Fabriken in Bangladesh, Kanada, Dänemark, Indien und Israel Allerdings sind sie aufgrund fehlender IP-Rechte nicht in der Lage, ihren Beitrag zu leisten Der fehlende Zugang zu Rechten für geistiges Eigentum ist also ein Hindernis für sie “

Selbst wenn die Behauptung von HRW wahr wäre, dass IP-Rechte das entscheidende Hindernis darstellten, selbst dann ist die daraus resultierende Schlussfolgerung nicht logisch Selbst dann wäre nicht einzusehen, weshalb der Patentschutz global ausgesetzt werden sollte Denn genau dann wären (Zwangs-)Lizenzen an die Hersteller für diese Länder vollkommen ausreichend Patente entfalten lediglich eine national beschränkte Wirkung Weshalb sollte es also für die Pro-

Abb.:©diegograndi - stock.adobe.com

duktion und Verteilung von Impfstoffen in Indien, Bangladesh, Kanada hilfreich sein, den Patentschutz in Deutschland auszusetzen? Dies wäre doch nur für den Generikaproduzenten von Vorteil, der in Deutschland produzieren oder den deutschen Markt beliefern wollte Letzteres würde aber weder den ärmeren Ländern helfen, noch Impfstoffe schneller zu Bedürftigen in diesen Ländern bringen Dazu bedarf es Kapazitätserweiterungen durch Technologietransfer und Lizenzen an Hersteller in ärmeren Ländern Es bedarf jedoch nicht der globalen Vernichtung des Patentschutzes

Der geforderte Waiver würde für mindestens drei Jahre sämtlichen Patentschutz für jegliche Technologien, Medikamente und Geräte, die für COVID-19-Patienten und deren Behandlung nützlich sein könnten, entschädigungslos aufheben, wenn es nach den Befürwortern des TRIPS Waivers ginge Das gilt dann für die gesamte mRNA-Technologie, die jetzt die ersten COVID-19-Impfstoffe bereitgestellt hat, aber auch für neue Krebsmedikamente eingesetzt werden kann Ebenso für beispielsweise ein Sepsis-Medikament, welches sich ebenfalls in COVID-19-Patienten als wirksam erweist

Ein globaler TRIPS Waiver würde im Grunde mit dem Argument der Nützlichkeit in COVID-19-Patienten weite Teile der Biotechnologiebranche auch in Deutschland enteignen können Und dies, ohne dass einem COVID-19-Patienten in ärmeren Ländern ein Vorteil daraus erwachsen würde oder das Problem der ungerechten Verteilung der Impfstoffe beseitigt wäre Bei näherer Betrachtung ist die Forderung nach einem TRIPS Waiver so ungeheuerlich und zugleich so wenig zielführend, dass es verwundert, dass sich so viele Staaten, Organisationen und Menschen dieser Forderung anschließen Man kann natürlich mutmaßen, wer einen Vorteil daraus ziehen würde Aber das würde nicht erklären, warum Menschen, die durch altruistische Werte geleitet werden, ernsthaft glauben, dass Patente einer gerechten Verteilung von Impfstoffen im Wege stehen, dass die gerechte Verteilung durch die Proftgier der Biotech- und Pharmabranche entsteht und ein TRIPS Waiver somit eine gerechte und zielführende Lösung wäre Es würde nicht erklären, weshalb in der Öffentlichkeit nicht verstanden wird, weshalb Patente die Finanzierung und die enormen Investitionen in Medikamente erst ermöglichen Und hier muss sich die Branche an die eigene Nase fassen und aktiv werden Es reicht nicht, den Kopf in den Sand zu stecken, in der Hoffnung, dass der „TRIPSWaiver-Kelch“ vorübergeht Wenn die Biotech-Branche eine Zukunft haben soll, dann muss der Öffentlichkeit vermittelt werden, wie neue Medikamente auf den Markt kommen und weshalb es dazu Patente braucht und vor allem Vertrauen in den Patentschutz Es ist in der Tat Zeit, dass unsere Branche ihre Grundlagen und Ziele besser und sorgfältiger kommuniziert › Bewirkt der TRIPS Waiver das Gegenteil der guten Absicht, Impfstoffe für die gesamte Weltbevölkerung bereitzustellen? Ohne Patente gibt es keinen Anreiz für die Entwicklung von Innovationen.

INTERVIEW

Die Rolle von Patenten

Interview mit Dr. Daniel Vitt, Chief Executive Officer von Immunic Therapeutics, einem biopharmazeutischen Unternehmen mit einer Pipeline von Immunologie-Therapien zur Behandlung chronischer Krankheiten. Die Pipeline des Unternehmens umfasst drei Wirkstoffe in verschiedenen Stadien der klinischen Entwicklung. Daniel Vitt ist seit mehr als 20 Jahren als Geschäftsführer und Vorstandsmitglied in deutschen Biotech-Unternehmen tätig.

Dr. Ute Kilger

Patentanwältin Boehmert & Boehmert, Berlin

Kilger_Mit Immunics am weitesten fortgeschrittenen Medikamentenkandidaten sollen demnächst klinische Phase-III-Studien starten. Was ist vor diesem Hintergrund Ihre Hauptaufgabe als CEO?

Vitt_Ein wichtiger Teil meiner Arbeit besteht darin, dass ich mich um die Finanzierung des Unternehmens kümmere Wie viele andere Biotech-Unternehmen auch, fnanziert sich Immunic in erster Linie über seine Forschungs- und Entwicklungsarbeit Oft sind diese Finanzierungen an strategische und operative Meilensteine geknüpft und in der Regel sind mehrere Finanzierungsrunden notwendig, um einen Entwicklungskandidaten vom Labor bis zur Marktreife zu bringen

Kilger_ Woher kommt das Geld?

Vitt_Für uns als Nasdaq-gelistetes Unternehmen kommt die Finanzierung hauptsächlich von internationalen institutionellen Investoren, aber auch von Kleinanlegern und Family Offces. Immunic ist seit April 2019 an der Nasdaq gelistet

Kilger_Warum sind Sie an einer US-Börse gelistet?

Abb.: Boehmert & Boehmert

Vitt_Aus meiner Sicht ist das Finanzierungsumfeld in den Vereinigten Staaten viel reifer als in Europa Die Börsennotierung an der Nasdaq ermöglicht den Zugang zu einer Vielzahl renommierter institutioneller US-Investoren, gleichzeitig aber auch zu hochkarätigen Investoren aus aller Welt

Kilger_Wie sieht die typische Finanzierung für ein BiotechUnternehmen in Deutschland aus?

Vitt_Frühe und private Biotech-Unternehmen werden hauptsächlich durch Risikokapital (Venture Capital) fnanziert, während börsennotierte Unternehmen die Finanzierung ihres Portfolios in erster Linie durch institutionelle Investoren aus dem In- und Ausland anstreben Eine der Herausforderungen bei der Suche nach geeigneten Investoren sind auch die Exit-Möglichkeiten Als europäische Life-Sciences-Unternehmen konkurrieren wir mit anderen Wirtschaftszweigen, in denen Investoren ihr Geld durchaus mit einem schnelleren Return-on-Investment (ROI) anlegen könnten

Kilger_Welche Rolle spielt die staatliche Finanzierung?

Vitt_Meiner Erfahrung nach spielt die staatliche Finanzierung derzeit leider nur eine ergänzende Rolle, obwohl sie insbesondere für Neugründungen und Unternehmen in der frühen Phase der Entwicklung einen entscheidenden Unterschied machen könnte Darüber hinaus können staatliche Mittel in einer Krisensituation wie der aktuellen COVID-19-Pandemie sehr hilfreich sein, wo wir beispielsweise Unterstützung für einige Impfstoffentwickler gesehen haben Es ist jedoch ein Mythos, dass die deutsche Biotech-Branche größtenteils von der Regierung fnanziert wird – in der Regel beträgt die staatliche Finanzierung weniger als 5%

Kilger_Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um eine Finanzierung zu erhalten?

Abb.: Boehmert & Boehmert Vitt_Die ganz einfache Antwort wäre: ein gutes Geschäftsmodell mit einem attraktiven ROI Für ein Biotech-Unternehmen bedeutet dies entweder ein klares Produktprofl mit einer vorteilhaften Wettbewerbspositionierung oder eine attraktive Technologieplattform mit mehreren Partnerschafts- und Exit-Möglichkeiten Ein nachgewiesenes Wirkprinzip eines Entwicklungskandidaten bietet in der Regel eine höhere Wahrscheinlichkeit, ein Medikament in die klinische Entwicklungsphase im Patienten zu bringen In späteren Entwicklungsphasen sind sowohl präklinische als auch klinische Daten entscheidende Werttreiber Typischerweise werden die Investoren das Portfolio des Unternehmens sorgfältig prüfen, um den Kapitalwert der Vermögenswerte zu ermitteln Dabei sind die Marktgröße, der potentielle künftige Marktanteil, aber auch die Zeit vom Markteintritt des Medikaments bis zum Markteintritt von Generika von großer Bedeutung Diese Zeitspanne wird als ROI-Zeit bezeichnet

Kilger_Wie wird die notwendige ROI-Zeit sichergestellt? Dr. Daniel Vitt

Chief Executive Offcer von Immunic Therapeutics

Vitt_Der Schutz des geistigen Eigentums des Medikaments ist der Schlüssel: Erstens gibt es mehrere Instrumente, die eine zeitlich begrenzte Marktexklusivität bieten, die für die ROI-Zeit wichtig ist Zweitens gibt es die so genannte Datenexklusivität, die bedeutet, dass Generikahersteller für einen bestimmten Zeitraum nicht auf die Daten der Originalpräparatehersteller zurückgreifen können, um die Zulassung des Generikums zu erhalten Drittens gibt es für einen bestimmten Zeitraum einen Patentschutz In der Regel ist ein Medikament durch mehrere Patente geschützt, die vom Schutz der Molekularstruktur des Medikaments bis hin zu den Verabreichungsformen oder der Verwendung des Moleküls in verschiedenen Indikationen reichen

Kilger_Würde jemand 200 Mio. US-Dollar für eine klinische Studie investieren, wenn der Arneimittelkandidat nicht patentgeschützt wäre?

Vitt_Vorsichtig ausgedrückt: Wahrscheinlich nicht. Eine der häufgsten Fragen, die Biotech-Unternehmen in Gesprächen mit Investoren gestellt wird, ist die Frage, wie das Unternehmen einen robusten und möglichst langen Patentschutz erhält, der die Marktexklusivität sichert

Abb.: ©tashatuvango - stock.adobe.com

Kilger_Wenn einer Ihrer Entwicklungskandidaten für den Einsatz gegen COVID-19 in Frage käme und der Patentschutz für alle Patente aufgehoben würde, die sich auf Impfstoffe, Medikamente und Diagnostika beziehen, die zur Bekämpfung von COVID-19 hilfreich sind, was wären die Folgen?

Vitt_Meiner Meinung nach würde ein Patentverzicht der gesamten BiotechBranche und wahrscheinlich auch anderen Sektoren schaden, in denen Patente eine entscheidende Rolle spielen, zum Beispiel in der Elektrotechnik Um es noch konkreter zu machen: Ich denke, ein Patentverzicht würde den Zugang zu Kapital wahrscheinlich sehr stark beeinträchtigen und damit der Branche unwiderrufich schaden. Die Herausforderung besteht darin, dass die Menge an Geld und Ressourcen, die benötigt wird, um ein Medikament von der Idee bis zur Marktreife zu bringen, so enorm ist, dass Patente und Markt-/Datenexklusivität absolut notwendig sind, um ein Entwicklungsprogramm vollständig zu fnanzieren. Ein Patentverzicht würde sich daher nachteilig auf die Entwicklung neuer Medikamente auswirken und die künftige Finanzierung neuer, potentiell bahnbrechender Biotechnologieprojekte erheblich erschweren

Kilger_Warum fordern Menschen und Länder dennoch einen Verzicht?

Vitt_Einer der Hauptgründe ist, dass Patente als Hindernis für den Zugang zu Impfstoffen gesehen werden, was meiner Meinung nach nicht das eigentliche Problem ist Es geht vielmehr um die Schwierigkeit einer gerechten weltweiten Verteilung – die nicht durch Patente verursacht wird Zweitens wird die wichtige Rolle von Patenten in unserer Branche nicht vollständig verstanden Patente sind nachweislich die Grundlage für innovative neue Medikamente und sichern gleichzeitig den zukünftigen Erfolg des Medikaments

Kilger_Wer ist schuld daran, dass die Menschen die Rolle von Patenten und die Funktionsweise des Biotech-Ökosystems nicht verstehen?

Vitt_ Ich denke, wir und unsere Branche unternehmen nicht genug Anstrengungen, um uns und die Mechanismen, wie die Biotech-Industrie funktioniert, der Öffentlichkeit zu präsentieren Wir konzentrieren uns auf unsere täglichen Aufgaben, indem wir großartige Forschung, großartige Wissenschaft und großartige klinische Entwicklung betreiben und dabei auch die erforderliche Finanzierung sicherstellen, aber wir schauen nicht oft genug über den Tellerrand hinaus Außerdem sind Biotech und Pharma oft eher konservativ und zögern, sich öffentlich zu erklären Wir müssen sorgfältiger an der öffentlichen Wahrnehmung unserer Branche arbeiten ›