Informationstechnologie
Behörden Spiegel / Juli 2021
Ein logistischer Blindflug
und -nachweissystems, wie es im Schwellenland Indien vorhanden ist.
Die Impfkampagne Deutschlands
E ntsorgung nach Vorschrift oder Verimpfung durch Zufall
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D
ie vom Bundesgesundheitsministerium und den übrigen zuständigen Stellen des föderalen Systems in Deutschland angebotenen und eingesetzten Lösungen erfüllen diese Anforderungen nicht, wie nachstehende Analyse zeigt.
(BS/Prof. Dr. Robert Müller-Török/Prof. Dr. Alexander Prosser*) Reduziert man die Impfkampagne und die verwendeten Systeme auf die wichtigste, die rein logistische Perspektive, so muss sie folgende Anforderungen erfüllen: (1) Alle Impfwilligen werden erfasst und so der Bedarf an Impfstoff geplant, (2) alle Impfwilligen werden zu genau einer konkreten Impfung (ggf. zwei Terminen) eingeladen, (3) alle Geimpften werden Der Zähler: die Erfassung lückenlos zum Nachweis und im Hinblick auf notwendige Auffrischungsimpfungen erfasst und (4) die so generierten Bedarfe stellen im Rahmen aller Impfwilligen der verfügbaren Impfstoffmengen und -quoten den “Pull” in das Logistiksystem für die Impfstoffe dar und sind die Grundlage für DemandEs gibt zumindest pro Bun- Management und Bedarfsprognose. Dazu kommt (5) ein Mechanismus, der sicherstellt, dass alle Impfdosen genutzt werden, also eine orgadesland unterschiedlichste nisierte Liste an “Last-Minute-Nachrückern” existiert, die kurzfristig eingeladen werden können, wenn im Impfzentrum oder in der Arztpraxis Systeme, wo sich Impfwillige absehbar Impfstoff übrigbleibt. registrieren können. Für einen Ulmer kommen bspw. das bayerische System BayIMCO, das baden-württembergische System impfterminservice.de sowie viele Arztpraxen in Betracht, die wie hno-zentrum-ulm.de über eigene Anmeldeplattformen (evtl. auch nur offline) verfügen. Da man diese Systeme bzw. ihre Daten nicht systematisch abgleicht, ist es möglich, ja wahrscheinlich, dass sich Personen in mehreren Systemen registrieren. Eine Summe über alle Systeme liefert so weder den richtigen Bedarf an Impfstoffen noch Informationen, wie viele Personen überhaupt eine Impfung erhalten möchten. Da es kein zentrales Registrierungssystem gibt – wie bspw.
das indische CoWIN für 1,4 Mrd. Menschen – weiß niemand, wie viele Personen bestimmter Priorisierungsgruppen noch einzuladen sind. Nach Aussage des bayerischen Gesundheitsministeriums soll “für die Hausärzte die Priorisierung so wenig Bürokratie wie möglich mit sich bringen. Deswegen kann der Hausarzt eine Registrierung in BayIMCO nicht zurücknehmen oder verwalten. Alle Impflinge werden gebeten, nach einer Impfung beim niedergelassenen Arzt ihre Registrierung in BayIMCO zu löschen.” Dies belegt, dass hier anstatt Planung, Steuerung und Kontrolle auf Erfassung durch den Endbenutzer gesetzt wird.
Ein Vorgehen, welches bei weniger lebenswichtigen Verwaltungsmaterien wie auch nur der Erhebung der Kfz-Steuer wohl nicht infrage käme. Besagter Ulmer aus unserem Beispiel müsste, wenn er tatsächlich seine erste Impfdosis erhalten hat und die zweite Dosis gesichert ist, alle seine Registrierungen löschen bzw. löschen lassen. Dass hierbei eine vergessen werden kann, wenn er sich “auf der Jagd nach der lebensrettenden Spritze” überall angemeldet hat. Selbstverständliche Funktionen solcher Systeme wie eine Überprüfung der Priorisierung auf elektronischem Weg schei-
den mit Ausnahme der Überprüfung des Lebensalters faktisch auch aus, in der Praxis werden Papierbestätigungen “überprüft”.
Der Nenner: Wer ist “die Bevölkerung”? Aber auch die Grundgesamtheit der grundsätzlich zu Impfenden ist nicht definiert. Das RKI verwendet zum täglichen Impfquotenmonitoring laut eigenen Angaben einen anderthalb Jahre alten Datenstand, Zitat: “Für die Berechnung der Impfquote wurde der Bevölkerungsstand vom 31.12.2019 zugrunde gelegt.” Dieser bezieht sich somit auch auf die Impfquoten der Bun-
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desländer und ist nicht aktuell – oder einfacher: falsch. Verstorbene, Zuzüge, Wegzüge und in das Impfalter “Hineinwachsende” werden nicht nachverfolgt, ebenso wenig werden Genesene automatisch aus den Statistiken entfernt. Auch ist völlig unbekannt, wie viele Personen sich, aus welchen Gründen auch immer, nicht impfen lassen wollen oder können. Berichten der Tagespresse nach zu schließen, werden zumindest einige Impfzentren ohne Warenwirtschaftssystem betrieben, was bedeutet, dass nicht einmal pro Impfzentrum die vorhandene Menge an Impfstoffen ermittelt werden kann. Auch ein Schwund (mit dem dann möglicherweise Unberechtigte geimpft werden) kann so nicht ermittelt werden. Damit sind von der Datenbasis her weder Demand-Management und Bedarfsprognose noch eine geordnete Warenwirtschaft möglich. Kein Unternehmen würde so seine Logistik planen – und am Markt überleben.
Die bevorstehende, aber verdrängte Auffrischung Es ist, wenn man den CEOs von Pfizer und Moderna im April 2021 und der Bundeskanzlerin im Juni 2021 folgt, äußerst wahrscheinlich, dass alle bereits geimpften Personen beginnend mit Spätherbst 2021 einer weiteren Auffrischungsimpfung bedürfen. Dass die Prognose eines Bedarfes an den hierfür notwendigen Impfdosen unmöglich ist, wenn nicht zentral gespeichert ist, wer wann welchen Impfstoff erhalten hat, ist evident. Dass eine im günstigen Fall im bayerischen IMCO dokumentierte Impfung mit Moderna aus zwei Teilimpfungen im Februar und März 2021 bei einem Umzug nach Niedersachsen nicht ins dortige Impfsystem übertragen werden kann (und schon gar nicht in die Wartelisten der Arztpraxen), ebenso. Hierzu bedürfte es eines zentralen Impfregistrierungs-
Mangels eines zentralen Systems und infolge der dezentralisierten Verantwortlichkeiten ergeben sich “Lösungen” wie die des Landkreises Waldeck/ Frankenberg, der seine eigene Nachrückerplattform erstellt hat, falls Impfdosen übrigbleiben. Der Landkreis – dessen Bemühen um restlose Verimpfung der Impfstoffe vorbehaltlos zu begrüßen ist – bezeichnet diese selbst als Ersatz für eine fehlende Funktion des hessischen Impfportals, Zitat: “Über die Nachrücker-Plattform werden lediglich Rest-Dosen verabreicht, die am Ende eines Impftages übrig sind.” Dass so massive Effizienzverluste deutschlandweit auftreten, ist evident. Vor allem ist eine geordnete Vergabe dieser Restimpfstoffe nach Prioritäten kaum darstellbar, solange es kein deutschlandweit einheitliches System gibt.
Dringende Abhilfe täte not Es ist jetzt bereits offensichtlich, dass Deutschland bei der sich abzeichnenden Notwendigkeit einer dritten Auffrischungsimpfung in das nächste Impfchaos schlittern wird. Dies vor allem, wenn die ersten Auffrischungen bereits Geimpfter dann fällig sind, wenn noch nicht alle Impfwilligen erstgeimpft sind. In diesem Fall könnte eine Situation entstehen, in dem ein Teil der Bevölkerung unter die Räder kommt. Dies sind dann vor allem die später geimpften jüngeren Jahrgänge, die bereits jetzt durch das “Pandemiemanagement” wertvolle Teile ihrer Schul- und Universitätsausbildung verloren haben. Um dies zu verhindern, ist eine deutschlandweit einheitliche Impfregistrierungs- und -dokumentationsplattform nach indischem Vorbild erforderlich. Was in einem Schwellenland mit 28 Bundesstaaten und acht Unionsterritorien funktioniert, sollte auch in einem G7-Staat mit 16 Bundesländern möglich sein. Nur so kann eine gesicherte Planungsgrundlage erreicht werden. *Prof. Dr. Robert Müller-Török lehrt an der Hochschule für Verwaltung und Finanzen in Ludwigsburg. Prof. Dr. Alexander Prosser ist an der Wirtschaftsuniversität in Wien tätig.
MELDUNG
Projektstruktur für Registermodernisierung beschlossen (BS/gg) Eine moderne Registerlandschaft ist eine der zentralen Voraussetzungen für die erfolgreiche Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung. Um eine koordinierte Umsetzung der Registermodernisierung zu ermöglichen, hat der IT-Planungsrat auf seiner 35. Sitzung im Juni die Einrichtung eines Projektes „Gesamtsteuerung Registermodernisierung“ beschlossen. So soll unter Federführung des Bundesinnenministeriums und mehrerer Länder die ressortübergreifende Umsetzung dieses komplexen Vorhabens zügig erreicht werden. Bestandteil dieser Reform ist zum Beispiel die künftige Nutzung einer Identifikationsnummer. Dadurch wird es möglich, dass Bürgerinnen und Bürger gegenüber Behörden bestimmte Angaben nicht immer wieder erneut machen und Nachweise beifügen müssen, die an anderen Stellen der Verwaltung bereits vorliegen. Auf Initiative des diesjährigen Vorsitzlandes Hamburg beschäf-
tigte sich der IT-Planungsrat im Rahmen der Sitzung zudem mit der Frage, wie man die Erfordernisse der digitalen Verwaltung im Bereich der Rechtssetzung und Rechtsgestaltung berücksichtigen und hierbei zu verbindlichen Regelungen kommen kann. So erscheint es beispielsweise sinnvoll, im frühen Stadium der Gesetzesentstehung, IT- bzw. Digital- und Prozess-Expertise einzubinden, damit die politisch gewünschten Zielvorgaben gemeinsam in digitalkonforme Regelungen übersetzt werden können. Konkret wird es vor allem darum gehen, durchgehend konsistente digitale Verwaltungsverfahren vom Anfang bis zum Ende zu entwickeln und regulatorisch abzubilden. Außerdem sollte die Harmonisierung von Rechtsbegriffen mit der zunehmenden ITStandardisierung einhergehen. Bei mehreren Grundbegriffen (z. B. Einkommen, Vermögen, Kind) besteht eine Vielfalt inhaltlicher Divergenzen, die für Hemmnisse bei der digitalen Umsetzung sorgen.