Katrin Merle Reh 2011 Acrylfarbe auf Papier 72 cm x 52 cm
Kirsten Fuchs
Das Reh
»Es bekommt keine Namen!«, sagten wir zu den Kindern. »Aber wir haben auch Namen«, sagte Sascha. Magoscha nickte wichtig. Noch keine zwei Jahre alt, aber wichtig nicken. Sie sprach noch nicht viel, nur »Mama, Papa, Ja, Nein« und »Ey!«. Aber nicken konnte sie wie jemand in einem hohen Amt. »Ja, aber wir haben euch auch nicht angeschafft, um euch zu essen«, sagte Ludwig. »Nicht lustig, Papa!« Sascha roch schon nach Pubertät und ihre Art uns zurechtzuweisen, brachte uns an die Grenzen unserer Toleranz. »Das ist geschmacklos!« Sie rümpfte die Nase, die mal eine Stupsnase war, aber jetzt ganz andere Ausmaße bekommen hatte und manchmal schon kleine Pickel. »Ihr redet hier über ein Lebewesen!« Und Magoscha nickte wichtig. Immer noch stand das Reh auf dem Tisch und schaute ängstlich. Es hatte ganz runde schwarze Augen, wie mit einem großen Stift zweimal einen Punkt gemacht. Auf dem Rücken dann Punkte mit einem kleineren weißen Stift, tips, tips, tips. Es war ein sehr gelungenes Reh wie aus einem Kinderbuch. Wir hatten nicht so viel darüber nachgedacht, was wir für ein Fleischtier haben wollten, Hauptsache nicht Wildschwein oder Rind. So klug waren wir an dem Tag der Fleischtier-Anmeldung gewesen. Wir mussten eine zweite und dritte Wahl angeben, da hatten wir uns für Huhn und Truthahn entschieden, obwohl ich Vögel hasste. Sie schmeckten gut, aber sie hatten eklige Füße. Einen Truthahn hätte ich weggegeben. Verkaufen durfte man Fleischtiere nicht. Sie sollten, so lange sie lebten, beim Lebendfleischhalter bleiben. Es war das erste Jahr, wo das Fleischtierhaltungsgesetz in Kraft trat. In den Zeitungen hatte gestanden, dass die Fleischtiere nicht für alle Haushalte reichen würden, außer
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