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Birk Meinhardt: Berlin dampft

Birk Meinhardt

Berlin dampft

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Hans Baluschek Ohne Titel 1919 Lithografie 31,4 cm x 40 cm

Baluscheks Lithografie hat keinen Titel, so denke ich fast zwangsläufig darüber nach, wie ich sie nennen würde. Aber was heißt, ich denke nach – ich muss es gar nicht tun, der Titel ist sofort da angesichts der vielen Dampfloks, des rauchenden Schlots und der voluminösen Wolken, »Berlin dampft« würde ich das Bild nennen.

Auf jeden Fall muss er stolz klingen, der Titel, denn das Bild ist ein stolzes, geradezu feierliches. So viele Eisenbahnen. So viel Bewegung. Auch der Dampf ist Bewegung, gerade er, ich sehe, wie er über das Bild hinaus die bizarrsten Formen annimmt, ich habe seinen trockenen, beißenden, wärmenden Geruch in der Nase und habe das Pfeifen, Zischen, Röcheln im Ohr, mit dem er zu immer neuen Gebilden ausgestoßen wird; es sind Kindheitserinnerungen, ich bin ein Kind des Industriezeitalters.

Noch als junger Erwachsener habe ich mit Kohle geheizt, eine Selbstverständlichkeit, so wie es für mich eine Selbstverständlichkeit war und ist, Butter auf die Brotscheibe zu schmieren. Einmal bot mir ein Nachbar, der im Rathaus arbeitete, die Lieferung einer Tonne Koks an, welch Segen, Koks war kaum zu bekommen, und Koks glimmt länger als Briketts; feuerte man morgens und ging auf Arbeit, durfte man sicher sein, abends die Bude warm vorzufinden. Ein andermal fragte ein Freund, der im Plattenbau lebte, mit Blick auf meine Kohlenkiepe, ach, sind das Briketts, ja? Zu seinem nächsten Geburtstag schenkte ich ihm ein Brikett mit Schleife drum; so Geschichten fallen mir ein, wenn ich Baluscheks Bild betrachte.

Diesen Abdruck einer vergangenen Epoche. Jetzt haben wir eine andere Zeit, die der Windkraft und der Sonnenenergie; und wie logisch und zwangsläufig, dass wir sie haben, all der Dampf, der Rauch, der Ruß soll und muss aus der Luft heraus, wer noch halbwegs bei Sinnen ist, kann nichts anderes wollen, ich will es, aber ich bin auch ein

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18 bisschen wehmütig. Ich hänge an dem Koks und den Briketts, so wie der Mensch eben an Dingen aus seinen frühen Jahren hängt, dem Fußballmannschaftswimpel mit der sich auflösenden Kordel, den mancherorts noch zu sehenden geschwungenen Leuchtbuchstaben über Geschäften: Bäckerei, Fleischerei, Obst und Gemüse.

Darum regt sich Unmut in mir, wenn Demonstranten den Tagebau besetzen, der mir die Kohle geliefert hat und dessen Schließungstermin schon feststeht. Mir ist, als werde voller Absolutheit ein Ort verdammt, mit dem ich ein halbes Leben verbunden gewesen bin, still wehre ich mich gegen seine Erstürmung, gegen diesen Einmarsch in meine Vergangenheit, sie sollen raus da, die Okkupanten, sie haben da nichts zu suchen, sie könnten vielleicht auch mal bedenken, aus wie vielen Erfindungen, Erfahrungen, Schrecken und Neuanfängen sich Entwicklung zusammensetzt; gewiss, was heute als schlecht benannt und als schädlich erkannt ist, ist einst notwendig und sogar fortschrittlich gewesen, könnten sie ruhig mal sehen und zugeben. Könnten sie wenigstens einmal einräumen.

Aber was verlange ich! Wo drehe ich mich hinein! Als ob das ihre Aufgabe wäre. Als ob ihnen danach der Sinn stehen müsste. Sie haben doch nie Briketts in irgendeinen Ofen geschoben. Sie sind ohne diese Prägung. Sie formen gerade erst das, was sie später ihre Geschichte nennen werden, jetzt sind sie dabei; ein Idiot, wer meint, sie daran hindern zu müssen, nein, selber weitermachen, mit seiner Geschichte fortfahren, bei Baluschek war ich eigentlich, ich schaue, mich lockernd, auf sein Bild und sehe noch etwas, den Gasometer im Hintergrund. Mächtig steht der und doch feingesponnen, die Hülle wie aus Metallfäden, ein runder Thron, unverrückbar und unantastbar.

Das Mächtige ist aber nicht das Entscheidende. Für mich ist wichtiger, dass es der Schöneberger Gasometer ist, Baluschek hat ja dort gewohnt und ihn direkt vor der Nase gehabt. Ich dagegen habe jenes Bauwerk lange nicht zu Gesicht bekommen, ich bin zu Mauerzeiten in Pankow großgeworden. Als Jugendlicher fuhr ich auf meinem täglichen Schulweg mit der S-Bahn an unseren Gasometern vorbei, zwischen Prenzlauer Allee und Greifswalder Straße standen sie, rechterhand. Unsere? So dachte ich nicht. Woher denn auch. Es waren die Gasometer. 1984 wurden sie, die gar nicht unantastbaren, gesprengt, um Platz für Neubauten zu schaffen, und schon ein Jahr später waren 1300 Wohnungen

Berlin dampft

fertig, und Honecker unternahm einen Rundgang durch das entstandene Viertel, davon gibt es noch einen kleinen Filmbericht: Wie er, umschwirrt von Subalternen, herumgeht, wie rein zufällig gerade ein Ehepaar aus dem Fenster guckt und er zu ihm hochfragt: »Na, sind die Wohnungen auch gut?«, wie der Mann winkend herunterruft: »Einwandfrei!« und wie Honecker, der Erich, zufrieden wiederholt: »Einwandfrei«.

Die Gasometer waren weg damit. Aber nach 1989 tauchte vor meiner Nase einer unverhofft von Neuem auf, jener von Baluschek, es war, von der S-Bahn aus, ein herrliches Wiedererkennen, ein sofortiges Sich-Heimisch-Fühlen wie auf den großen Gehwegplatten, die im Osten und im Westen Berlins identisch waren und sind, ich hatte nie über diese Platten nachgedacht, doch als ich in jenem Spätherbst sah und vor allem spürte, es sind ja die gleichen, mein Gott, es ist ja tatsächlich das Pflaster, auf dem du schon immer gegangen bist, stellte sich, wie beim Passieren des Gasometers, eine überraschende und beglückende Vertrautheit ein – aber gewiss doch, dies ist deine Stadt, ist es immer gewesen, deine eine Stadt, es war die größte Sensation, wie selbstverständlich das alles war.

Hans Baluschek

Geboren 1870 in Breslau, positionierte sich Hans Baluschek in der Zeit des Deutschen Kaiserreichs sowie der Weimarer Republik mit Darstellungen von Fabrikarbeitern, Arbeiterfrauen und Prostituierten als Außenseiter der Berliner Kunstszene. Ungeschönt zeigte er die Arbeits- und Lebensbedingungen des Proletariats, welche er einfühlsam und humorvoll mit der Lebenswelt der wohlhabenden Bevölkerung in Kontrast setzte. Hans Baluschek verstarb 1935 in Berlin. Birk Meinhardt

Der gebürtige Berliner war Sportjournalist bei verschiedenen Zeitungen und Reporter bei der Süddeutschen Zeitung, für die er u.a. zahlreiche Streiflicht-Kolumnen verfasste. Für seine Reportagen erhielt er zweimal den Egon-Erwin-Kisch-Preis. Meinhardt lebt als Schriftsteller am Rande Berlins. Seine letzten Veröffentlichungen sind die Romane »Brüder und Schwestern. Die Jahre 1973 bis 1989« (2017) und »Brüder und Schwestern. Die Jahre 1989 bis 2001« (2017) sowie das Jahrebuch »Wie ich meine Zeitung verlor« (2020). 19

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