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Elisabeth Herrmann: Güterbahnhof Gallus
Elisabeth Herrmann
Güterbahnhof Gallus
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Hans Baluschek Ohne Titel 1919 Lithografie 31,4 cm x 40 cm
Als Kind wusste ich gar nicht, dass man in den Ferien verreisen kann. Ich wurde immer zu den Großeltern geschickt. Das war aufregender als Rimini und Capri zusammen – der Sehnsuchtsort meiner Kindheit befand sich im winzigen Schlafzimmer der Mansardenwohnung meiner Großmutter.
Sie wohnte im Gallusviertel in Frankfurt am Main. Mein Vater wurde in derselben Wohnung geboren und wuchs dort auf. Nachdem sie sie verließ, habe ich sie übernommen, danach mein Bruder. Ich glaube, wir haben 100 Jahre Herrmann im Gallus geschafft! Es war ein Arbeiterviertel, bis weit in die 1980er, und die Geschichten meines Vaters aus der Zeit seiner Jugend – eine Jugend im »roten Gallus« unterm Hakenkreuz – waren verstörend und beeindruckend. Er hat mich sehr geprägt.
Meine früheste Erinnerung ans Gallus war, nachts in diesem engen Zimmer mit den schrägen Decken zu liegen. Es hatte kein Fenster, nur eine Dachluke. So eine, wie man sie heute nur noch auf Spitzböden findet. Ich musste mich auf die Zehenspitzen stellen, um sie zu öffnen, und sah doch nur ein Stückchen Himmel. Aber das war egal. Viel wichtiger war, was ich hörte. Nachts. In der Dunkelheit. Wenn meine Großmutter nebenan saß und strickte oder las. Es waren die Geräusche des nahen Güterbahnhofs. Die Rufe der Arbeiter, das Kreischen der Bremsen, der hallende Donner, wenn die Waggons verkuppelt wurden.
Wir waren vier Kinder und haben nie in einer Großstadt gelebt. Meine Eltern hingegen waren waschechte Frankfurter. Aber die große, leuchtende Stadt gab es nicht als Option. Unsere Ausflüge führten auf den Giengener Schießberg, ins Allendorfer Märchenland oder schlicht raus ins Grüne. Frankfurt aber – die Straßenbahnen! Das Café Wipra am Römerberg! Der Zoo! Und die Besuche bei den Freundinnen meiner Großmut-
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Die Geräusche des Güterbahnhofs begleiteten mich in meine Träume. Grenzenlos, weltumspannend. Sie waren für mich die Begleitmusik meiner Sehnsüchte. Ich stellte mir die rasenden Räder vor, die unendliche Länge der Gleise und diese Schnelligkeit, dieses Fliegen über den Grund – in meiner Jugend waren Flugzeuge allenfalls etwas für Multimillionäre. So kam es mir wenigstens vor. Aber Zugfahrten hatte ich schon einige erlebt. Sie waren Aufbruch. Fortschritt. Verheißung.
Hans Baluscheks Bild ist aus dem Jahr 1919, aber es könnte auch hundert Jahre später entstanden sein. Es ist zeitlos, und ich habe ein Faible für Industriemalerei und -kunst. Weil sie in mir etwas anspricht, das schwer zu benennen ist. Vielleicht eine zu gläubige Hingabe an die Zukunft als Gegenteil des Stillstandes. Manche finden das in der Natur, die ich auch mag. Aber wenn ich mich zwischen einem Blumenstillleben und dem Bild eines glühenden Hochofens entscheiden müsste, würde ich den Hochofen wählen. Warum? Vielleicht, weil er mich daran erinnert, was Menschenkraft ermöglicht. Zu was wir fähig sind – oder fähig sein könnten, wenn wir unsere Kräfte zum Wohle aller einsetzen. Die Rufe der Gleisarbeiter und das Donnern der Waggons sind eine sehr frühe Prägung. Das Geborgensein im Schutz der kleinen Kammer, und das nächtliche Lärmen und Treiben vor dem Fenster, das tröstlich war und wohlwollend. Sie arbeiten für uns, rund um die Uhr. Während alle schlafen, schicken sie Güterzüge auf die Reise, dorthin, wo ihre Fracht gebraucht wird.
Güterzüge rauschen durch Baluscheks Lithografie. Schnaubend, rauchend, von unten links kommen sie ins Bild – man spürt die Geschwindigkeit, man sieht ihr Ziel: Die rauchenden Schlote, der Gasometer, die Lagerhallen. Wohnhäuser sind ganz an den Rand gerückt, in diesem Bild geht es um ein Gefühl, nicht um Poesie. Es ist dasselbe Ge-
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fühl, das ich nachts im Gallus hatte. Da draußen tobt das Leben! Und wir, Zahnrädchen der Welt, greifen ineinander und bauen sie, jeder auf seine Weise, mit. Andere mögen sich bei diesem Anblick mit Grausen abwenden – kein Grün! Keine Luft zum Atmen! Ein graues Häusermeer, ein Industriegebiet. Wo ist da die Schönheit? Ich sehe sie. Sie ist das Wollen und Streben in ihrer rauesten, unverstelltesten Art. Keine Romantik. Kein Röslein Rot. Fast lebensfeindlich, und dennoch das, was uns alle am Leben hält, buchstäblich. Eine Hommage an die Arbeit, die nicht für alle rosenbekränzt und selbstverwirklichend ist. Sondern oftmals dreckig, brutal und rücksichtslos. Und die trotzdem getan werden muss.
Seltsamerweise habe ich diese Anwandlungen nicht bei Busfahrern. Aber bis heute liebe ich Bahnhöfe und Flughäfen. Das Unverbindliche im Fluss, der nur eine Richtung kennt: Vorwärts. Weiter. Weit davon entfernt, getrieben zu sein, genieße ich bis heute das Reisen. Ich konnte mir so viele Wünsche erfüllen, bis hin zu einmal um die ganze Welt. Ich bin mir sicher, das liegt an dem kleinen Mädchen mit der brennenden Sehnsucht im Herzen, sich in einem Güterwaggon zu verstecken und nach einer langen Reise atemlos vor Spannung das Tor zu öffnen: Wo bin ich angekommen? Wohin hat mich der Weg geführt? Und was liegt hinter den Gleisen …?
Elisabeth Herrmann
Zehn Jahre lang arbeitete Elisabeth Herrmann, geboren 1959, als Moderatorin und Kulturredakteurin bei Radio Hundert,6, bevor sie 1996 zum damaligen SFB wechselte. Ihr Debütroman »Das Kindermädchen« erschien 2006. Seit 2012 ist sie Vollzeitautorin, verfasste vierzehn Bücher und sechs Drehbücher. Zudem schreibt sie für das Crime-Magazin »Echte Verbrechen«. Elisabeth Herrmann bekam zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Deutschen Krimipreis. 23